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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 26.09.2007
Aktenzeichen: 1 B 05.2572
Rechtsgebiete: BayBO


Vorschriften:

BayBO Art. 6 Abs. 2 Satz 1
BayBO Art. 6 Abs. 7
BayBO Art. 7 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1
BayBO Art. 70 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

1 B 05.2572

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Baugenehmigung für die Wiedererrichtung eines Dachgeschosses (Fl.Nr. ****** Gemarkung ******)

hier: Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Häberlein

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. September 2007

am 26. September 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2005 wird geändert.

Der Bescheid des Landratsamts Fürstenfeldbruck vom 18. Dezember 2003 und der Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 21. Juli 2004 werden aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren durch die Klägerinnen war notwendig. III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn die Klägerinnen nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerinnen wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.

1. Die Klägerinnen sind Miteigentümerinnen des mit zwei Wohnhäusern bebauten Grundstücks Fl.Nr. **** Gemarkung ******. Das nordöstlich angrenzende Grundstück Fl.Nr. ****** der Beigeladenen ist mit einem an der Grenze zum Grundstück der Klägerinnen stehenden, früher als Wochenendhaus genutzten Gebäude, dessen Umbau im Jahr 1955 genehmigt wurde, sowie mit einem im Jahr 1976 errichteten Wohnhaus bebaut.

Das Grundstück der Beigeladenen liegt im Geltungsbereich des am 13. März 2000 in Kraft getretenen Bebauungsplans Nr. 156 "********* Mitte" der Gemeinde *******, der das gesamte Gebiet als allgemeines Wohngebiet ausweist. Auf dem Grundstück der Beigeladenen sind in einem Abstand von circa 6 m bzw. circa 4 m zum Grundstück der Klägerinnen zwei Bauräume festgesetzt. Das Grenzgebäude ist als "bestehendes Gebäude - zum Abbruch vorgesehen" dargestellt.

Bei einer Baukontrolle am 17. September 2003 stellte das Landratsamt Fürstenfeldbruck fest, dass das Grenzgebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen teilweise abgebrochen worden war und die Wiedererrichtung der abgebrochenen Gebäudeteile im Gang war. Mit Bescheid vom 24. September 2003 ordnete das Landratsamt die Einstellung der Bauarbeiten an und gab der Beigeladenen auf, einen Bauantrag einzureichen.

Im November 2003 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für die "Wiedererrichtung eines Dachstuhls an einem bestehenden Wohnhaus im Zuge der Sanierung (keine Veränderung gegenüber Genehmigung von 1955)". Mit Bescheid vom 18. Dezember 2003 erteilte das Landratsamt die Baugenehmigung für die "Wiedererrichtung eines Dachstuhls am bestehenden Gebäude (Sanierung) ... nach Maßgabe der ... revidierten Bauvorlagen". Die Genehmigung umfasst eine Befreiung von den festgesetzten Baugrenzen.

Die Klägerinnen legten Widerspruch ein. Ihrem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gab der Verwaltungsgerichtshof im Beschwerdeverfahren mit Beschluss vom 29. April 2004 (2 CS 04.821) statt. Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Baugenehmigung verletze Nachbarrechte der Klägerinnen. Sie lasse nicht nur die Erneuerung des Dachstuhls zu, sondern auch eine Änderung der bisherigen Wochenendhausnutzung in eine Dauerwohnnutzung. Daher sei eine abstandsflächenrechtliche Neubeurteilung erforderlich. Der danach erforderliche Abstand zum Grundstück der Klägerinnen werde nicht eingehalten; eine Abweichung sei nicht zugelassen worden. Zudem sei die Befreiung von den Baugrenzen wohl rechtswidrig. Es spreche vieles dafür, dass diese Festsetzungen nachbarschützend seien. Jedenfalls sei das Rücksichtnahmegebot verletzt, weil die Nutzung des Grundstücks der Klägerinnen durch das Grenzgebäude in erheblicher Weise nachteilig betroffen werde. Dagegen erscheine der Verzicht auf die Grenzbebauung für die Beigeladene zumutbar, weil sie anstelle des nach dem Bebauungsplan ohnehin zu beseitigenden Gebäudes einen Bauraum für ein weiteres Wohnbauvorhaben erhalten habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2004 ergänzte die Regierung von Oberbayern die Begründung für die Befreiung und ließ für die Abstandsfläche der dem Grundstück der Klägerinnen zugewandten Außenwand eine Abweichung zu; im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Die 24. August 2004 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 11. August 2005 im Wesentlichen mit folgender Begründung ab: Nachbarrechte seien auch dann nicht verletzt, wenn eine Neuberechnung der Abstandsflächen erforderlich sein sollte. Die Voraussetzungen für eine Abweichung nach Art. 70 Abs. 1 BayBO seien nämlich ebenso erfüllt wie die für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 oder 3 BauGB. Diese Vorschriften seien im Lichte des Art. 14 GG auszulegen und so anzuwenden, dass die Nutzung vorhandener und noch nutzbarer Gebäudesubstanz ermöglicht werde. Das Interesse der Beigeladenen an der weiteren Nutzung ihres über 50 Jahre bestehenden Grenzgebäudes überwiege das Interesse der Klägerinnen. Diese würden durch das Bauvorhaben nicht in schützenswerten Rechten beeinträchtigt. Nach dem Ergebnis des gerichtlichen Augenscheins verlaufe nämlich auf dem Grundstück der Klägerinnen entlang der Grundstücksgrenze ein circa 3 m breiter Erschließungsweg zum dahinter liegenden Grundstück. Außerdem sei der Wohn- und Gartenbereich der Klägerinnen durch eine dichte, parallel zu diesem Weg gepflanzte Thujenhecke abgeschirmt.

2. Hiergegen richtet sich die mit Beschluss des Senats vom 12. Januar 2007 zugelassene Berufung der Klägerinnen. Zur Begründung führen diese aus: Die Baugenehmigung verletze sie in ihren Rechten. Bei dem Umbau handle es sich nicht um eine Sanierungsmaßnahme, sondern um die Umgestaltung des Wochenendhauses, so dass eine neue abstandsflächenrechtliche Beurteilung für das Gebäude erforderlich sei. Die Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften hätte nicht zugelassen werden dürfen. Die vom Verwaltungsgericht zur Rechtfertigung angeführte Rechtsprechung sei nicht einschlägig. Der Bestandsschutz für das Wochenendhaus sei erloschen, weil das Gebäude seit der Errichtung des Wohnhauses auf dem Grundstück im Jahr 1976 nicht mehr als Wochenendhaus, sondern lediglich für Lagerzwecke und als Werkstatt genutzt worden sei. Auch die Voraussetzungen für eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans lägen nicht vor. Durch die Befreiung würden die Grundzüge der Planung berührt. Der Bebauungsplan lasse Grenzbauten nicht zu. Er sehe im Gegenteil sogar ausdrücklich den Abbruch des Grenzgebäudes vor. Zum Ausgleich seien Baugrenzen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abstandsflächen festgesetzt. Diese Festsetzungen seien nachbarschützend.

Die Klägerinnen beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2005 zu ändern und den Bescheid des Landratsamts Fürstenfeldbruck vom 18. Dezember 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 21. Juli 2004 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

nach Sach- und Rechtslage zu entscheiden.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag, hält die Berufung aber für unbegründet. Bei dem Umbau handle es sich lediglich um eine Sanierungsmaßnahme. Die Grenzmauer an der südwestlichen Gebäudeseite sei lediglich in einer Höhe von 0,85 m erneuert worden. Die Abweichung sei rechtmäßig. Die Änderungen an dem Gebäude würden sich für die Klägerinnen nur positiv auswirken, weil der bislang im Bereich des Kniestocks und der Dachrinne bestehende Grenzüberbau entfalle. Eine Bebauung des Grundstücks der Klägerinnen an der nordöstlichen Grenze sei nicht möglich, weil dort ein Privatweg verlaufe, der zur Erschließung des südöstlich an das Grundstück der Klägerinnen grenzenden (Hinterlieger-)Grundstücks Fl.Nr. ****** erforderlich sei.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die vom Beklagten vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage zu Unrecht abgewiesen. Der Baugenehmigungsbescheid des Landratsamts Fürstenfeldbruck vom 18. Dezember 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 21. Juli 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten, weil das Vorhaben der Beigeladenen gegen im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfende, auch dem Schutz der Klägerinnen dienende Vorschriften verstößt (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 BayBO, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gegenstand der Baugenehmigung ist die (baugenehmigungspflichtige und) abstandsflächenrechtlich relevante teilweise Wiedererrichtung des Grenzgebäudes auf dem Grundstück der Beigeladenen und nicht nur eine (an sich genehmigungsfreie) Sanierungsmaßnahme (1.). Die Klägerinnen haben gegen das genehmigte Vorhaben ein Abwehrrecht, weil es den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO widerspricht (2.). Ob auch die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans über die überbaubare Grundstücksfläche Nachbarrechte verletzt, kann offen bleiben.

1. Die Baugenehmigung lässt nicht nur die Wiedererrichtung des Dachstuhls, sondern die Neuerrichtung des gesamten Dachgeschosses einschließlich der Erdgeschossdecke und eines Teils der an der Grenze zum Grundstück der Klägerinnen stehenden Außenwand zu. Dies ergibt sich mit hinreichender Bestimmtheit aus den mit Bescheid vom 18. Dezember 2003 genehmigten Bauzeichnungen, die auf einer Kopie der Bauzeichnungen für den im Jahr 1955 genehmigten "Umbau eines Wochenendhauses" erstellt wurden. In den neuen Bauzeichnungen (Erdgeschossgrundriss, Dachgeschossgrundriss und Schnitt) sind jeweils - in der in der Praxis üblichen Form - die Außen- und Innenwände des Erdgeschosses als Bestand, die Erdgeschossdecke und das Dachgeschoss einschließlich der Wand des Kniestocks auf der Südwestseite hingegen als neu zu errichtende Bauteile dargestellt. Zwar entspricht diese Darstellung nicht vollständig der Vorgabe des § 8 Abs. 3 Nr. 3 BauVorlV, bei der Änderung baulicher Anlagen die zu beseitigenden und die neuen Bauteile anzugeben. Der Umfang des Vorhabens und damit der Genehmigung ist aber hinreichend deutlich bestimmt. Für die Annahme, dass Gegenstand der Baugenehmigung die Neuerrichtung des gesamten Dachgeschosses einschließlich Erdgeschossdecke und Kniestockwand ist, spricht auch, dass diese Gebäudeteile zu dem Zeitpunkt, als der Bauantrag - als Reaktion auf den Bescheid vom 24. September 2003 - gestellt wurde, vollständig entfernt waren (vgl. die bei der Baukontrolle am 13.9.2003 gefertigten Fotografien [Blatt 5 und 6 der Bauakte des Landratsamts Nr. 22 B 4 603 -2]).

War aber auch eine Änderung, nämlich eine teilweise Neuerrichtung, der südwestlichen, das Dach tragenden Außenwand Gegenstand des Bauantrags, dann hat das Landratsamt das Vorhaben jedenfalls aus diesem Grund zu Recht als genehmigungspflichtige Baumaßnahme (vgl. Art. 62 in Verbindung mit Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 Buchstabe a BayBO) und nicht als gemäß Art. 63 Abs. 5 BayBO von der Baugenehmigungspflicht ausgenommene Instandhaltungsarbeiten angesehen. Dass die Maßnahme in der Baugenehmigung als "Sanierungsmaßnahme" bezeichnet wurde, ist für die Einstufung des Vorhabens ebenso unerheblich wie der Umstand, dass die Wiedererrichtung nach den ursprünglichen Maßen der Genehmigung von 1955 erfolgen soll. Sollte der Beklagte mit dem im Schriftsatz der Landesanwaltschaft Bayern vom 28. August 2007 erhobenen Einwand, es handele sich nur um eine Sanierungsmaßnahme, geltend machen wollen, dass das Vorhaben an sich genehmigungsfrei sei, wäre ihm nicht zu folgen.

Außer Zweifel steht auch, dass ein Vorhaben, welches die Neuerrichtung eines, je nachdem wie gemessen wird, 0,85 m oder 1,10 m hohen Wandteils einschließt und damit einen für die Berechnung der Abstandsflächen unmittelbar maßgebenden Gebäudeteil berührt, abstandsflächenrechtlich relevant ist. Ob eine neue abstandsflächenrechtliche Beurteilung auch wegen einer Nutzungsänderung (von Wochenendhaus zu "Dauerwohnhaus") erforderlich ist, kann damit offen bleiben. 2. Das Vorhaben verletzt die Rechte der Klägerinnen, weil es gegen die Abstandsflächenvorschriften verstößt. Die gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO mindestens 3 m tiefe Abstandsfläche der an der Grenze stehenden Außenwand wird nicht auf dem Baugrundstück eingehalten; sie darf sich auch nicht auf das Nachbargrundstück erstrecken (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO) (a). Durch die nachträglich zugelassene Abweichung wurde der Rechtsverstoß nicht ausgeräumt (b).

a) Die Abstandsfläche der Grenzwand darf sich nicht auf das Grundstück der Klägerinnen erstrecken. Nach Art. 7 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 Alternative 2 und 3 BayBO, der in diesem Fall allein als Rechtsgrundlage für eine Inanspruchnahme des Grundstücks der Klägerinnen Betracht kommt, dürfen sich Abstandsflächen auf das Nachbargrundstück erstrecken, wenn sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht überbaut werden können. In entsprechender Anwendung von Art. 6 Abs. 7 BayBO steht ein die Voraussetzungen erfüllendes Grundstück den angrenzenden Grundstücken jeweils zu gleichen Teilen für ein "Erstrecken" der Abstandsflächen zur Verfügung. Steht allerdings das auf der einen Seite angrenzende Grundstück im Eigentum des Eigentümers des nicht überbaubaren Grundstücks und gehört das auf der anderen Seite angrenzende Grundstück einem Dritten, so ist wegen des Vorrangs des Eigentums die nicht überbaubare Fläche in vollem Umfang dem Eigentümergrundstück zugeordnet (BayVGH vom 29.9.2004 NVwZ-RR 2005, 389; vom 19.1.2006 - 14 CS 05.3084 - Juris). Dies muss erst recht gelten, wenn die nicht überbaubare Fläche kein eigenes Grundstück bildet, sondern - wie hier - Teil eines im Übrigen überbaubaren Nachbargrundstücks ist.

b) Der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wurde nicht durch die mit dem Widerspruchsbescheid zugelassene Abweichung ausgeräumt.

Nach Art. 70 Abs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Diese Voraussetzungen sind nicht schon dann erfüllt, wenn das durch die Abweichung ermöglichte Vorhaben die Grundstückssituation des Nachbarn nicht erheblich verschlechtert. Eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften darf vielmehr nur zugelassen werden, wenn ausreichend gewichtige Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Lüftung im konkreten Fall vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. Weitere Voraussetzung ist die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Es ist zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH vom 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 mit weiteren Nachweisen - Juris).

Nach diesen Maßstäben durfte die Abweichung nicht erteilt werden. Es liegt schon keine atypische, vom Regelfall abweichende Fallgestaltung vor. Insbesondere ist - entgegen der vom Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid angeführten Gründe - eine solche Sondersituation nicht darin zu sehen, dass das Grenzgebäude schon seit über 50 Jahren besteht. Zwar kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, eine vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen, die Zulassung einer Abweichung rechtfertigen (BayVGH vom 15.11.2005 - 2 CS 05.2817 - Juris; vom 18.10.2005 - 1 ZB 04.1597 - Juris; vgl. auch BVerwG vom 16.5.1991 NVwZ 1992, 165). Diesem Interesse kommt hier aber kein erhebliches Gewicht zu, weil die vorhandene, baufällig gewordene Bausubstanz nach den genehmigten Bauvorlagen zu einem großen Teil abgebrochen werden soll (und bereits abgebrochen wurde). Bei dem Vorhaben handelt es sich nicht um einen Umbau, der durchgeführt wird, um die vorhandene Bausubstanz auch im Bereich des Dachgeschosses nach Beendigung der früheren Nutzung weiterhin sinnvoll nutzen zu können, sondern um eine komplette Neuerrichtung dieses Gebäudeteils. Die Zulassung der Abweichung ist auch nicht für den Erhalt und eine sinnvolle Nutzung der im Erdgeschoss verbleibenden Teile des Gebäudes erforderlich; denn der neue Dachstuhl könnte auch auf dem Teil der Grenzwand aufgesetzt werden, der nach den Bauvorlagen stehen bleibt. Auf die Frage, ob die Klägerinnen durch die Wiedererrichtung tatsächlich beeinträchtigt werden, obwohl auf ihrem Grundstück entlang der Nordostgrenze ein Erschließungsweg verläuft, kommt es somit nicht mehr an.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladene ist zwar - neben dem Beklagten - unterlegen; ihr dürfen aber keine Kosten auferlegt werden, weil sie in beiden Rechtszügen keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, entspricht schon deshalb der Billigkeit, weil sie unterlegen ist. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren durch die Klägerinnen war notwendig (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren richtet sich nach § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 GKG. Die Unterschreitung des im Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit für Nachbarklagen empfohlenen Betrages von 7.500 Euro (vgl. Nr. 9.7.1. des Streitwertkatalog) erscheint im Hinblick auf die vergleichsweise geringe tatsächliche Beeinträchtigung der Klägerinnen gerechtfertigt.

Ende der Entscheidung

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