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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.05.2003
Aktenzeichen: 1 CS 03.60
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB, VDI 3472


Vorschriften:

VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6
BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3
VDI 3472 Abschnitt 3.2.3.2
VDI 3472 Abschnitt 3.2.3.4
Eine Beschwerde hat in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80 a und 123 VwGO) nicht schon dann Erfolg, wenn mit ihr die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts zu Recht in Zweifel gezogen wird, sondern erst dann, wenn sich die Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO analog). Insoweit beschränkt § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO die Prüfung nicht auf die vorgebrachten Beschwerdegründe (wie OVG NRW vom 18.3.2002 NVwZ 2002, 2785).
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 CS 03.60

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Baugenehmigung zur Änderung eines Bullenstalls in einen Geflügelmaststall auf Fl.Nr. 1634 Gemarkung ********;

hier: Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 3. Dezember 2002,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Waltinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Vonnahme

ohne mündliche Verhandlung am 21. Mai 2003

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

III. Der Streitwert wird unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 3. Dezember 2002 für beide Rechtszüge auf je 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller und der Beigeladene sind Landwirte; ihre Hofstellen grenzen aneinander. Mit Bescheid vom 25. September 2002 erteilte das Landratsamt T***** dem Beigeladenen die Baugenehmigung zur Änderung der Nutzung eines 49,90 m langen und 20,05 m breiten Gebäudes auf dem Grundstück Fl.Nr. 1634 Gemarkung K***** von einem Bullenstall in einen Geflügelmaststall für höchstens 23.500 Hähnchen. Das Gebäude hat eine Wandhöhe von 3,4 m. Das Wohnhaus der südlich angrenzenden Hofstelle des Antragstellers auf Fl.Nr. 1638 ist von der Stallaußenwand etwa 22 m, von den fünf geplanten Abluftkaminen 31 m bis 40 m entfernt.

Der Antragsteller erhob gegen die Baugenehmigung Widerspruch, über den noch nicht entschieden worden ist. Außerdem beantragte er beim Verwaltungsgericht München, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen. Von dem Geflügelmastbetrieb gingen erhebliche Geruchsbelästigungen und Gesundheitsgefährdungen aus. Das vom Beigeladenen im Baugenehmigungsverfahren vorgelegte Gutachten der Firma *** GmbH vom 16. August 2002 gehe von falschen Voraussetzungen aus.

Mit Beschluss vom 3. Dezember 2002 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an. Es führte zur Begründung aus, die Baugenehmigung verstoße gegen die nachbarschützenden Abstandsflächenvorschriften. Das Stallgebäude sei nach dem Lageplan von der Grundstücksgrenze des Antragstellers weniger als 3 m entfernt.

Mit der am 20. Dezember 2002 erhobenen Beschwerde macht der Beigeladene unter Vorlage einer Bescheinigung des Vermessungsamts T***** vom 12. Dezember 2002 geltend, sein Stallgebäude halte zur Grundstücksgrenze einen Abstand zwischen 4,1 m (Südostecke) und 3,8 m (Südwestecke) ein. Außerdem trägt er unter Vorlage einer Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S***** vom 13. März 2003 vor, die Nutzungsänderung sei auch aus der Sicht des Immissionsschutzrechts unbedenklich.

Der Beigeladene beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 3. Dezember 2002 zu ändern und den Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts T***** vom 25. September 2002 anzuordnen, abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Baugenehmigung verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Geflügelmaststall halte den gemäß Abschnitt 3.2.3.2 der VDI 3472 erforderlichen Mindestabstand von 100 m nicht ein.

Der Antragsgegner hält die Beschwerde für begründet. Die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften seien gewahrt. In immissionsschutzrechtlicher Hinsicht liege mit dem Gutachten der *** GmbH eine Sonderbeurteilung vor. Nach der Stellungnahme des Landratsamts vom 23. Januar 2003 führe die Umstellung von Rindermast auf Geflügelmast dazu, dass der Antragsteller nur an 4,4 % der Jahresstunden mit wahrnehmbaren Gerüchen rechnen müsse.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig.

Der Beigeladene hat die Beschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO begründet und hierbei die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass die Abstandsflächen nicht gewahrt seien, in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Weise (vgl. BayVGH vom 16.1.2003 NVwZ 2003, 632) in Zweifel gezogen.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung im Ergebnis zu Recht angeordnet.

Gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO prüft der Verwaltungsgerichtshof in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80 a und 123 VwGO) bei Beschwerden nur die rechtzeitig (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) und in der gebotenen Weise (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO) dargelegten Gründe. Diese Vorschrift ist auslegungsbedürftig. Sie hat das Ziel, das Beschwerdeverfahren zu beschleunigen. Wenn sich die Beschwerdegründe als nicht berechtigt erweisen, ist die Beschwerde zurückzuweisen. Das Beschwerdegericht hat dann nicht von Amts wegen zu prüfen, ob der Beschwerde aus anderen, nicht dargelegten Gründen stattzugeben wäre (a.A. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 146 RdNr. 43, wenn der angefochtenen Entscheidung die Rechtswidrigkeit "gewissermaßen auf die Stirn geschrieben ist").

Erweisen sich die Beschwerdegründe hingegen als berechtigt, dann hat die Beschwerde nicht schon aus diesem Grund, sondern erst dann Erfolg, wenn sich die angefochtene Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO analog). Insoweit beschränkt § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO die Prüfung nicht auf die vorgebrachten Beschwerdegründe (wie OVG NRW vom 18.3.2002 NVwZ 2002, 2785).

Der vom Beigeladenen geltend gemachte Beschwerdegrund ist zwar berechtigt, die angefochtene Entscheidung erweist sich aber aus anderen Gründen als richtig.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hält das Stallgebäude des Beigeladenen zwar den gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO erforderlichen Abstand zur Grundstücksgrenze von 3,40 m ein. Dies ergibt sich aus der Bescheinigung des Vermessungsamts T***** vom 12. Dezember 2002, wonach das Stallgebäude an der engsten Stelle 3,8 m von der Grundstücksgrenze entfernt ist.

Nach summarischer Prüfung ist jedoch anzunehmen, dass die Baugenehmigung gegen die nachbarschützende Vorschrift des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alternative 1 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 1 BImschG verstößt. Wegen des zu geringen Abstands ruft das privilegierte Außenbereichsvorhaben (§ 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB) beim Wohnhaus des Antragstellers wohl schädliche Umwelteinwirkungen hervor.

Für die Beurteilung der Staub- und Geruchsemissionen des geplanten Geflügelmaststalls ist die VDI-Richtlinie Immissionsminderung Tierhaltung - Hühner - (VDI 3472) vom Juni 1986 als Anhaltspunkt heranzuziehen. Nach dem Gutachten der *** GmbH vom 16. August 2002 sind Masthähnchen mit dem Faktor 0,0015 in Großvieheinheiten (GV) umzurechnen. 23.500 Masthähnchen entsprechen demnach 35,25 GV. Unterstellt man zugunsten des Beigeladenen, dass sein Stallsystem die Höchstpunktzahl von 100 Punkten aufweist, dann beträgt nach Bild 13 der VDI 3472 der Mindestabstand zu Wohnhäusern grundsätzlich 200 m. Gemäß Abschnitt 3.2.3.2 Satz 2 der VDI 3472 kann dieser Abstand gegenüber Wohnhäusern im Außenbereich bis auf die Hälfte, hier also auf 100 m, verringert werden.

Das Stallgebäude des Beigeladenen hält diesen Abstand zum Wohnhaus des Antragstellers bei weitem nicht ein. Die fünf geplanten Abluftkamine des Stalles sind vom Wohnhaus des Antragstellers nur 31 m bis 40 m entfernt. Diese Abstände sind in immissionsschutzrechtlicher Hinsicht maßgebend, weil nach der von der Baugenehmigung umfassten Anlage zum Bauantrag die Abluft durch Kamine über das Dach "aus dem ansonsten geschlossenen Stall" geführt wird.

Zwar ist nach Abschnitt 3.2.3.2 Satz 3 der VDI 3472 eine weitere Unterschreitung des Abstands gegenüber Wohnhäusern im Außenbereich über eine Sonderbeurteilung durch Fachbehörden oder Sachverständige zulässig. Bei dieser sind nach Abschnitt 3.2.3.4. Satz 2 der VDI 3472 die einzelbetrieblichen Standortverhältnisse, insbesondere die atmosphärischen Bedingungen und eine spezielle Einbindung in die Bebauungs- und Nutzungssituation entsprechend Abschnitt 2.1.1 (Standortwahl) und 2.1.2 (Eingrünung) zu berücksichtigen. Außerdem sind gemäß Satz 3 dieser Bestimmung nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Minderung von Geruchsstoffemissionen entsprechend Abschnitt 2.1. bis 2.5 (Standort, Haltungsform und Sauberkeit, Fütterungstechnik, Lüftung, Kotlagerung) weitergehende Maßnahmen nach Abschnitt 2.6 (technische Zusatzmaßnahmen für den Sonderfall) in Betracht zu ziehen.

Weder das Gutachten der *** GmbH vom 16. August 2002 noch die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S***** vom 13. März 2003 noch die Stellungnahme des Sachgebiets Immissionsschutz des Landratsamts vom 24. September 2002 werden diesen Anforderungen gerecht. Sie zeigen nicht in nachvollziehbarer Weise auf, welche besonderen atmosphärischen oder sonstigen Bedingungen es rechtfertigen könnten, dass bei dem Stallgebäude des Beigeladenen der für Wohnhäuser im Außenbereich auf 100 m reduzierte Mindestabstand nochmals um etwa zwei Drittel reduziert wird, ohne dass für den Antragsteller schädliche Umwelteinwirkungen zu befürchten sein sollen. Hierfür genügt nicht, dass das Wohnhaus des Antragstellers südlich des Stallgebäudes und damit außerhalb der Hauptwindrichtung liegt. Es genügt auch nicht der - vom Antragsteller bestrittene - Hinweis im Gutachten der *** GmbH und in der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S*****, dass mit der Umnutzung des Stallgebäudes von der bestandsgeschützten Rinderhaltung zur Hähnchenmast keine Verschlechterung der Standortsituation zu besorgen sei.

Ergänzend ist anzumerken, dass dem Beigeladenen in der Baugenehmigung entgegen Abschnitt 3.2.3.4 Satz 2 i.V.m. Abschnitt 2.1.2 der VDO 3472 keine Eingrünung des Stallgebäudes aufgegeben worden. Hierfür ist wohl wegen des zu geringen Abstands zur Grundstücksgrenze auch gar kein Platz. Bedenken gegen die Sonderbeurteilung der Sachverständigen ergeben sich ferner daraus, dass sich diese nicht mit der Frage auseinander gesetzt haben, ob der Antragsteller angesichts des geringen Abstands von 31 m zwischen dem nächstgelegenen Abluftkamin und dem Wohnhaus durch die Auflage 3 der Baugenehmigung, dass zur Desinfektion des Stalles nur Desinfektionsmittel verwendet werden dürfen, die keine halogenierten Lösungsmittel enthalten, ausreichend geschützt ist. Denkbar ist, dass auch andere Desinfektionsmittel beim nahe gelegenen Wohnhaus schädliche Umwelteinwirkungen hervorrufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 14 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG und orientiert sich an Nr. II.7.6.1 und Nr. I.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Bei einer Geflügelmaststallung für 23.500 Masthähnchen im Abstand von 3,80 m zur Grundstücksgrenze ist für den Nachbarn von einer mutmaßlichen Grundstückwertminderung von 10.000 Euro auszugehen. Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren ergibt sich damit ein Streitwert von (10.000 Euro : 2 =) 5.000 Euro. Die Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts beruht auf § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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