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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.03.2007
Aktenzeichen: 1 CS 06.2764
Rechtsgebiete: BauGB, BayBO, BayVwVfG, GO


Vorschriften:

BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 59 Abs. 1
BayBO Art. 61 Abs. 1
BayBO Art. 61 Abs. 3
BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 1
BayVwVfG Art. 3 Abs. 3
BayVwVfG Art. 13
BayVwVfG Art. 46
GO Art. 5 a Abs. 4
GO Art. 9 Abs. 2
Gehen die Aufgaben der unteren Bauaufsichtsbehörde vom Landratsamt auf eine zur Großen Kreisstadt erklärte Gemeinde über, so ist das Landratsamt unter den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG berechtigt, die bei ihm im Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels anhängigen bauaufsichtlichen Verfahren fortzuführen.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 CS 06.2764

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses (Fl.Nr. ****/** Gemarkung ****************);

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs;

hier: Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. September 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Langer

ohne mündliche Verhandlung am 6. März 2007

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1.

Die Beigeladene zu 2 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine der Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung.

Der Antragsteller ist Eigentümer des mit einer Doppelhaushälfte bebauten Grundstücks Fl.Nr. ****/18 Gemarkung F***************. Die Beigeladene zu 1 ist Eigentümerin des südlichen angrenzenden großen Grundstücks Fl.Nr. ****/13, das in seinem östlichen, zur Z*******straße gewandten Teil mit einem Mehrfamilienhaus (acht Wohneinheiten) bebaut ist. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des am 8. Oktober 1976 in Kraft getretenen qualifizierten Bebauungsplans Nr. 41 "********" der Beigeladenen zu 2.

Die Beigeladene zu 2 wurde durch die Verordnung über die Erklärung der Stadt F*************** zur Großen Kreisstadt vom 6. August 2005 (GVBl. S. 370) mit Wirkung zum 1. Januar 2006 zur Großen Kreisstadt erhoben.

Am 3. November 2005 (Eingang bei der Beigeladenen zu 2) beantragte die Beigeladene zu 1 die Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses mit einem kleinen Nebengebäude (Gartengeräte, Fahrräder) im westlichen, rückwärtigen Teil des Grundstücks Fl.Nr. ****/13. Das Wohnhaus ist in einem Abstand von 3 m zur nördlichen Grundstücksgrenze, etwa auf der Höhe der Doppelhaushälften auf dem Grundstück des Antragstellers und dem Grundstück Fl.Nr. ****/19, geplant.

Mit Bescheid vom 30. Dezember 2005, der vom Geschäftsführer der Beigeladenen zu 1 am 6. Februar 2006 im Landratsamt abgeholt wurde (Baugenehmigungsakte Blatt 37), erteilte das Landratsamt F*************** (Eingang des Bauantrags dort am 23.11.2005) die Baugenehmigung. Mit der Baugenehmigung wurden Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 41 hinsichtlich der Einhaltung der Baugrenzen beim Wohnhaus, der Grundflächenzahl, der Geschoßflächenzahl, der Dachneigung und der Lage des Nebengebäudes erteilt. Außerdem ließ das Landratsamt eine Abweichung von den erforderlichen Abstandsflächen zwischen dem Wohnhaus und dem Nebengebäude auf dem Baugrundstück zu.

Gegen die Baugenehmigung erhob der Antragsteller Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist, und beantragte beim Verwaltungsgericht München, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 8. September 2006 ab. Die erteilten Befreiungen seien rechtmäßig und verletzten den Antragsteller jedenfalls nicht in seinen Rechten. Zwar sei für die Erteilung der Baugenehmigung nicht das Landratsamt, sondern die mit Wirkung zum 1. Januar 2006 zur Großen Kreisstadt erhobene Beigeladene zu 2 zuständig; da die Beigeladene zu 2 jedoch in vollem Umfang ihr Einvernehmen zum Bauantrag einschließlich der erforderlichen Befreiungen erteilt habe, könne der Antragsteller durch die Erteilung der Baugenehmigung durch das Landratsamt nicht in seinen Rechten verletzt worden sein.

Mit der Beschwerde macht der Antragsteller geltend, dass die Erteilung der Baugenehmigung durch eine unzuständige Behörde Nachbarrechte verletze; aus der Erteilung des Einvernehmens zu den Befreiungen könne zudem nicht geschlossen werden, dass die Beigeladene zu 2 auch die Baugenehmigung erteilt hätte. Die Baugenehmigung verletze den Antragsteller aber auch der Sache nach in seinen Rechten, weil von nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans abgewichen, zumindest aber das Rücksichtnahmegebot verletzt sei; die Befreiung hinsichtlich der überbaubaren Fläche sei nicht zulässig, weil Grundzüge des Bebauungsplans berührt würden. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ergebe sich schließlich aus der Fülle der erteilten Befreiungen.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 8. September 2006 zu ändern und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 30. Dezember 2005 anzuordnen.

Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 1 beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Antragsgegner tritt dem Beschwerdevorbringen Punkt für Punkt mit ausführlicher Begründung entgegen. Die Beigeladene zu 1 verweist auf ihren Vortrag vor dem Verwaltungsgericht sowie auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses.

Auch die Beigeladene zu 2 ist, ohne einen förmlichen Antrag zu stellen, der Ansicht, dass die Beschwerde zurückzuweisen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Baugenehmigungs- und Bebauungsplanakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Baugenehmigung vom 30. Dezember 2005 anzuordnen (§ 80 a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO), zu Recht abgelehnt. Auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ist nach summarischer Prüfung davon auszugehen, dass die im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung nicht gegen Vorschriften des Genehmigungsmaßstabs (Art. 72 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Art. 73 Abs. 1 BayBO) verstößt, die dem Schutz des Antragstellers als Grundstücksnachbarn dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Damit fällt auch die Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, dass vor einer abschließenden Entscheidung über seinen Rechtsbehelf keine zu seinen Lasten gehenden vollendeten Tatsachen geschaffen werden, und dem Interesse der Beigeladenen zu 1, von der trotz des Nachbarwiderspruchs vollziehbaren Baugenehmigung (§ 212 a BauGB) Gebrauch machen zu dürfen, zugunsten des Letzteren aus.

1. Rechte des Antragstellers werden nicht dadurch verletzt, dass die Baugenehmigung von einer unzuständigen Behörde erlassen worden ist. Das Landratsamt war gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG berechtigt, mit der - vorliegenden - Zustimmung der Beigeladenen zu 2 das Genehmigungsverfahren über den 31. Dezember 2005 hinaus fortzuführen und der Beigeladenen zu 1 die Baugenehmigung zu erteilen.

Dem Verwaltungsgericht ist im Ausgangspunkt darin zuzustimmen, dass die Beigeladene zu 2 mit dem Inkrafttreten der Verordnung über die Erklärung der Stadt F*************** zur Großen Kreisstadt, das heißt mit Wirkung zum 1. Januar 2006 (§ 2 der Verordnung), zur unteren Bauaufsichtsbehörde für ihr Gemeindegebiet geworden ist (Art. 59 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 BayBO, Art. 9 Abs. 2 Satz 1 GO, § 1 Nr. 1 der Verordnung über Aufgaben der Großen Kreisstädte [GrKrV]). Die Funktion der unteren Bauaufsichtsbehörde war insoweit also bereits in dem Zeitpunkt, in dem das Landratsamt die Baugenehmigung erteilte, auf die Beigeladene zu 2 übergegangen. Denn die Baugenehmigung wurde - ungeachtet der Datierung auf den 30. Dezember 2005 - erst mit ihrer Bekanntgabe, die mit der Abholung durch den Geschäftsführer der Beigeladenen zu 1 am 6. Februar 2006 erfolgte, wirksam und damit rechtlich existent (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG).

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht - durch Bezugnahme auf das Urteil der Kammer vom 6. April 2006 (Az. M 11 K 05.2580; ein Antrag auf Zulassung der Berufung ist unter dem Az. 1 ZB 06.1768 beim Senat anhängig) - weiter angenommen, dass eine Übergangsregelung für laufende Verfahren speziell für den Fall der Erhebung einer Gemeinde zur Großen Kreisstadt nicht besteht. Insbesondere ergibt sich weder aus Art. 9 Abs. 2 GO noch aus der Verordnung über Aufgaben der Großen Kreisstädte noch schließlich aus der Verordnung über die Erklärung der Stadt F*************** zur Großen Kreisstadt eine Regelung, die eine Fortdauer der Zuständigkeit des Landratsamts für die dort anhängigen und noch nicht abgeschlossenen bauaufsichtlichen Verfahren begründen würde. Bei summarischer Überprüfung erscheint auch die in dem in Bezug genommenen Urteil vom 6. April 2006 ausführlich begründete Auffassung zutreffend, dass die für den Fall der Aufgabenübertragung auf eine leistungsfähige kreisangehörige Gemeinde (Art. 59 Abs. 2 und 3 BayBO) geltende Übergangsregelung des Art. 61 Abs. 3 BayBO auf den hier vorliegenden Fall, dass Aufgaben als Folge der Erhebung einer Gemeinde zur Großen Kreisstadt übergehen, weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar ist.

Das Verwaltungsgericht - wie im Übrigen auch die Prozessbeteiligten - übersieht jedoch, dass sich die Berechtigung des Landratsamts zur Fortführung anhängiger Verfahren aus der Vorschrift des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts über die örtliche Zuständigkeit ergibt. Ändern sich im Lauf des Verwaltungsverfahrens die die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände, so kann gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Vorschrift ist auf bauaufsichtliche Genehmigungsverfahren anwendbar, weil die Bayerische Bauordnung nur die sachliche (Art. 61 BayBO), nicht aber die örtliche Zuständigkeit regelt, so dass insoweit die allgemeinen Bestimmungen zum Zuge kommen (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG).

Für die Beurteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung bildet der Zuständigkeitswechsel vom Landratsamt auf die zur Großen Kreisstadt erklärte Beigeladene zu 2 einen Fall der Änderung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände im Sinne von Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG. Zwar wird durch die Tatsache, dass die Beigeladene zu 2 ab dem 1. Januar 2006 zur unteren Bauaufsichtsbehörde für ihr Gemeindegebiet geworden ist, eine sachliche Zuständigkeit (Art. 61 Abs. 1 BayBO) begründet. Dies dürfte auch der Grund sein, aus dem das Verwaltungsgericht die Erteilung der Baugenehmigung durch das Landratsamt als Problem des Handelns einer sachlich unzuständigen Behörde erörtert. Für die Beurteilung der Baugenehmigung kommt es jedoch auf den Blickwinkel des Landratsamts, das den strittigen Verwaltungsakt erlassen hat, an. Aus dem Blickwinkel des Landratsamts aber stellt sich der durch die Erklärung der Beigeladenen zu 2 zur Großen Kreisstadt veranlasste Zuständigkeitswechsel als eine Einschränkung seiner örtlichen Zuständigkeit dar. Das Landratsamt ist weiterhin - sachlich - untere Bauaufsichtsbehörde (Art. 61 Abs. 1 BayBO); lediglich sein - räumlicher - Bezirk (Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG) erstreckt sich nicht mehr auf das Gebiet der Beigeladenen zu 2. Kurz gesagt: Die Beigeladene zu 2 hat für ihr Gemeindegebiet die sachliche Zuständigkeit als untere Bauaufsichtsbehörde hinzugewonnen; das Landratsamt hat hinsichtlich seiner Funktion als untere Bauaufsichtsbehörde die örtliche Zuständigkeit für das Gemeindegebiet der Beigeladenen zu 2 verloren. Dem vom Verwaltungsgericht zitierten Beschluss des 20. Senats des Verwaltungsgerichtshofs vom 13. August 1996 (Az. 20 CS 96.2369 NVwZ-RR 1997, 399 = BayVBl. 1997, 51) liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde. In jenem Verfahren hatte eine Gemeinde, der gemäß Art. 65 Abs. 3 BayBO 1994 bestimmte Aufgaben der unteren Bauaufsichtsbehörde übertragen worden waren, eine Baugenehmigung in Überschreitung ihrer auf Wohngebäude beschränkten sachlichen Zuständigkeit erteilt.

Auch die übrigen Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG liegen vor. Die Fortführung des Genehmigungsverfahrens und die Erteilung der Baugenehmigung durch das Landratsamt dienten unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens. Das Genehmigungsverfahren war bis zum Wechsel der Zuständigkeiten bereits weitgehend abgeschlossen. Die Beigeladene zu 2 hat als (damals noch nicht zur Großen Kreisstadt erhobene) Gemeinde ihr Einvernehmen zu dem Vorhaben und zu den Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 41 (§ 36 Abs. 1 Satz 1, § 31 Abs. 2 BauGB) erteilt; die interne Sachbearbeitung im Landratsamt war am 29. Dezember 2005 im Wesentlichen beendet (siehe Baugenehmigungsakte Blatt 8). Die verfahrensabschließende Erteilung der Baugenehmigung durch das Landratsamt lag im erklärten Interesse der Beigeladenen zu 1 als Bauherrin. Interessen der Grundstücksnachbarn waren hinsichtlich der Fortführung des Verfahrens nicht zu berücksichtigen, weil sie keine Beteiligten im Sinne von Art. 13 BayVwVfG sind. Schließlich hat auch die Beigeladene zu 2 zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel daran gelassen, dass sie mit der Fortführung des Verfahrens durch das Landratsamt einverstanden ist.

Da somit ein Verstoß gegen Zuständigkeitsvorschriften nicht vorliegt, kommt es auf die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu den möglichen Folgen eines Verfahrensfehlers (Art. 46 BayVwVfG) nicht an.

2. Soweit sich die Beschwerde gegen einzelne der mit der Baugenehmigung erteilten Befreiungen richtet (zur "Summenwirkung" siehe unten 3.), hat der Antragsteller nur hinsichtlich der Befreiung von der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze auf dem Grundstück Fl.Nr. ****/13 substantiierte Gründe dargelegt. Ein Verstoß gegen Nachbarrechte des Antragstellers liegt insoweit jedoch nicht vor.

Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) kommt es für den Rechtsschutz des Nachbarn im Ausgangspunkt darauf an, ob die Festsetzung, von deren Einhaltung dispensiert wird, ihrerseits dem Nachbarschutz dient oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (zumindest auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots; Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. zum Ganzen BVerwG vom 19.9.1986 NVwZ 1987, 409 = BayVBl 1987, 151; vom 8.7.1998 NVwZ-RR 1999, 8 = BayVBl. 1999, 26).

Nach diesen Maßstäben dürfte sich der Schutz des Antragstellers (nur) nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots richten, weil der Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze auf dem Grundstück Fl.Nr. ****/13 keine nachbarschützende Funktion zukommt.

Ob Festsetzungen eines Bebauungsplans zur überbaubaren Grundstücksfläche dem Nachbarschutz dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträgerin ab; dieser ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BVerwG vom 19.10.1995 NVwZ 1996, 888 mit weiteren Nachweisen). Im vorliegenden Fall hatte der Bebauungsplan Nr. 41 in seiner ursprünglichen Fassung für das Geviert S******-, R*********** -, Z*******- und W**********straße Baugrenzen vorgesehen, die eine Bebauung der rückwärtigen Flächen der (damaligen) großen Grundstücke Fl.Nrn. **** und ****/3 bis /13 nicht zuließen und auf diese Weise im Innern des Karrees eine großzügige begrünte Freifläche bewahrten. Ob diese ursprüngliche Festsetzung der Baugrenzen nur städtebauliche Gründe hatte oder sie (auch) dem Nachbarschutz dienen sollte, kann indes dahingestellt bleiben, weil die ihr zugrunde liegende Konzeption jedenfalls mit der 5. Teiländerung des Bebauungsplans Nr. 41, in Kraft seit dem 5. Oktober 1994 (Bebauungsplan Nr. 41/5), ausdrücklich aufgegeben worden ist (siehe die Begründung des Bebauungsplans Nr. 41/5 unter Nr. 1). Der Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 41/5 umfasst die eben genannten großen Grundstücke (bzw. die aus deren inzwischen erfolgter Teilung entstandenen Grundstücke) mit der einzigen Ausnahme des Grundstücks Fl.Nr. ****/13 der Beigeladenen zu 1. Festgesetzt wurden nunmehr für jedes der (ursprünglichen) großen Grundstücke zwei Bauräume, nämlich jeweils einer im straßenseitigen und einer im rückwärtigen Bereich des Grundstücks; von der Freifläche im Innern des Karrees verblieben ist damit nur noch der ca. 20 m x 30 m große rückwärtige Bereich des Grundstücks der Beigeladenen zu 1, für das nach wie vor die Baugrenzen aus der ursprünglichen Fassung des Bebauungsplans Nr. 41 gelten.

Die daher allein maßgebliche Frage, ob die Nichteinbeziehung des Grundstücks Fl.Nr. ****/13 in den Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 41/5 und damit die Beibehaltung der ursprünglichen Baugrenzen für dieses Grundstück zumindest auch dem Schutz der nördlichen Grundstücksnachbarn, insbesondere dem Schutz des Antragstellers diente, ist nach allen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erkennbaren Umständen zu verneinen. Der Begründung des Bebauungsplans Nr. 41/5 lassen sich unmittelbar keine Hinweise auf die Gründe für die Abgrenzung des Geltungsbereichs entnehmen. Nach dem Aufstellungsbeschluss und dem ersten Planentwurf sollte die Bebauungsplanänderung auch das Grundstück Fl.Nr. ****/13 umfassen. Die Herausnahme des Grundstücks beruht offenkundig auf folgendem - vom Stadtrat in der Sitzung vom 26. Oktober 1993 gebilligten - Beschlussvorschlag, den die Verwaltung im Anschluss an die Bürgerbeteiligung und die Anhörung der Träger öffentlicher Belange unterbreitet hatte: "Die Grenze des räumlichen Geltungsbereichs des Bebauungsplans Nr. 41/5 wird dahingehend geändert, dass das Flurstück Nr. ****/13 (genehmigte Bauvoranfrage LRA vom 13.08.1993 für Wohnhaus mit Tiefgarage liegt vor) nicht mehr Bestandteil des Geltungsbereichs ist. Da der südlich angrenzende Eigentümer (O*****) die rückwärtige Bebauung auf seinem eigenen Grundstück getrennt vom Nachbarn erschließen will, wird der Eigentümerweg im Bebauungsplan gestrichen" (Sachvortrag zur Stadtratssitzung vom 26.10.1993, im Ablegeakt 795 des Landratsamts). Zu diesem Beschlussvorschlag passt der Sachvortrag der Stadtverwaltung zu einem 1998 gestellten Vorbescheidsantrag für ein Rückgebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. ****/13, wonach "das in Rede stehende Baugrundstück ausgeklammert wurde, weil der Antragsteller des Vordergebäudes das Bebauungsplan-Änderungsverfahren nicht abwarten wollte" (Vorbescheidsakte 153/98 Blatt 21). Beide Erklärungen deuten darauf hin, dass mit der Nichteinbeziehung des Grundstücks Fl.Nr. ****/13 in den Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 41/5 ausschließlich der speziellen Interessenlage des (damaligen) Grundeigentümers (und der des südlichen Grenznachbarn) Rechnung getragen werden sollte und Erwägungen des Nachbarschutzes keine Rolle spielten. Dass es nicht um den Schutz der Eigentümer der nördlich gelegenen Grundstücke ging, zeigt sich schließlich insbesondere daran, dass andernfalls wegen der unmittelbar vergleichbaren baulichen Situation auch das (damalige) Grundstück Fl.Nr. ****/12 hätte ausgenommen werden müssen. Dort wurde indes im rückwärtigen, östlichen Grundstücksbereich (heute Fl.Nr. ****/24) ein Bauraum festgesetzt, dessen Entfernung zu dem vorhandenen Wohnhaus auf dem nördlich angrenzenden Grundstück Fl.Nr. ****/14 noch deutlich geringer ist als die Entfernung zwischen dem jetzt genehmigten Einfamilienhaus auf dem Grundstück der Beigeladenen zu 1 und dem vorhandenen Doppelhaus auf den nördlich angrenzenden Grundstücken Fl.Nrn. ****/18 und ****/19. Wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden parallel liegenden Sachverhalte auf einer bewussten, von Gesichtspunkten des Nachbarschutzes geleiteten planerischen Entscheidung beruht hätte, so hätte sich dies in irgendeiner Form in der Begründung des Änderungsbebauungsplans oder in den Aufstellungsakten niederschlagen müssen.

Dient die rückwärtige Baugrenze auf dem Grundstück Fl.Nr. ****/13 somit nicht dem Nachbarschutz, so kann der Antragsteller der hiervon erteilten Befreiung nur das Gebot der Rücksichtnahme entgegenhalten. Ein Verstoß gegen dieses planungsrechtliche Gebot, der eine unzumutbare Beeinträchtigung des Antragstellers voraussetzen würde, liegt jedoch ersichtlich nicht vor. Das Vorhaben der Beigeladenen zu 1 hält die gegenüber dem Grundstück des Antragstellers erforderliche Abstandsfläche mit einer Tiefe von 3 m auf dem Baugrundstück ein (Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO). Zwar kann das Gebot der Rücksichtnahme in Einzelfällen auch dann verletzt sein, wenn die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften, die in der Regel eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sicherstellen, eingehalten sind (BVerwG vom 11.1.1999 NVwZ 1999, 879 = BayVBl 1999, 568 mit weiteren Nachweisen). Um einen solchen atypisch gelagerten Fall handelt es sich, auch unter Berücksichtigung der weiteren mit der Baugenehmigung erteilten Befreiungen (dazu 3.), hier jedoch nicht.

Im Übrigen wäre eine Rechtsverletzung des Antragsstellers wohl auch dann zu verneinen, wenn man davon ausginge, dass die Festsetzung der rückwärtigen Baugrenze auf dem Grundstück Fl.Nr. ****/13 (auch) dem Nachbarschutz dient. Nach Auffassung des Senats hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Befreiung vorliegen (§ 31 Abs. 2 BauGB). Insbesondere werden durch die Befreiung die Grundzüge der Planung nicht berührt, nachdem - wie dargelegt - mit dem Änderungsbebauungsplan Nr. 41/5 ausdrücklich das Ziel, einen begrünten Innenbereich von Bebauung freizuhalten, aufgegeben und stattdessen die ebenso ausdrückliche Entscheidung für die Möglichkeit einer Bebauung der rückwärtigen Grundstücksbereiche mit Einfamilienhäusern getroffen wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint im Falle des Grundstücks der Beigeladenen zu 1 die Abweichung von der rückwärtigen Baugrenze städtebaulich vertretbar (§ 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB) und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.

3. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot, das aus der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen folgt (§ 31 Abs. 2 BauGB), ergibt sich auch nicht aus der "Fülle" der für das Einfamilienhausvorhaben erteilten Befreiungen.

Die - neben der Befreiung von der rückwärtigen Baugrenze - erteilten weiteren Befreiungen betreffen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur baulichen Gestaltung, die nach den zutreffenden (und mit dem Zulassungsantrag auch nicht angegriffenen) Feststellungen des Verwaltungsgerichts keinen nachbarschützenden Charakter haben; sie sind daher - einzeln wie in der Gesamtwirkung - nur nach Maßgabe des Rücksichtnahmegebots zu überprüfen.

Eine Verletzung von Nachbarrechten durch die Befreiung von der im Bebauungsplan Nr. 41 festgesetzten Grundflächenzahl von maximal 0,30 scheidet schon deshalb aus, weil diese Befreiung nicht erforderlich war; nach der - von der Beschwerde nicht in Zweifel gezogenen - Nachberechnung durch das Landratsamt ergibt sich auf der Basis von § 19 BauNVO 1977 aus der vorhandenen und genehmigten Bebauung für das Grundstück Fl.Nr. ****/13 nur eine Grundflächenzahl von 0,273. Die außerdem genehmigte Überschreitung der zulässigen Geschoßflächenzahl (GFZ von 0,656 bei einer nach dem Bebauungsplan Nr. 41 zulässigen GFZ von 0,60) ist zum einen vergleichsweise gering, gerade auch in Relation zu den zum Teil weitergehenden Überschreitungen, die für die Grundstücke in der näheren Umgebung zugelassen wurden (so für das Grundstück des Antragstellers eine GFZ von 0,77; siehe im einzelnen das Schreiben des Landratsamts vom 9.5.2006, VG-Akt Blatt 48/49). Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die große Masse der Geschossflächen auf das vorhandene Mehrfamilienhaus im östlichen Grundstücksbereich, das den Antragsteller nicht berührt, und nicht auf das neu genehmigte Einfamilienhaus entfällt. Die Befreiung von der in dem Bebauungsplan Nr. 41 festgesetzten Dachneigung von 23° bis 30° und die Genehmigung einer Dachneigung von 42° (wie im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 41/5 für die rückwärtige Bebauung einheitlich festgesetzt) führt zwar zu einer Erhöhung des Dachfirstes um gut 1 m auf 7,90 m. In Anbetracht der Entfernung von etwa 11 m zwischen dem geplanten Einfamilienhaus (E + D) und dem Wohnhaus des Antragstellers (zwei Vollgeschosse) kann jedoch von einer "einmauernden" oder "erdrückenden" Wirkung keine Rede sein. Insoweit ist auch nochmals - wie bereits im Zusammenhang mit der Befreiung von der rückwärtigen Baugrenze - darauf hinzuweisen, dass das Vorhaben der Beigeladenen zu 1 gegenüber dem Grundstück des Antragstellers die erforderliche Abstandsfläche ohne Erteilung einer Abweichung einhält.

Insgesamt ist es daher zwar gut nachvollziehbar, dass es der Antragsteller bedauert, wenn die bislang freie Grünfläche im rückwärtigen Teil des Nachbargrundstücks nunmehr bebaut wird. Eine unzumutbare Beeinträchtigung im Sinne des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots liegt jedoch, auch im Hinblick auf die Gesamtwirkung der mit der Baugenehmigung erteilten Befreiungen, offenkundig nicht vor.

4. Der Antragsteller trägt die Kosten seiner erfolglosen Beschwerde (§ 154 Abs. 2 VwGO). Die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 entspricht der Billigkeit (§ 162 Abs. 3 VwGO), weil sie einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Da die Beigeladene zu 2 ein solches Risiko nicht eingegangen ist, erscheint es billig, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten im Beschwerdeverfahren selbst trägt.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004 (NVwZ 2004, 1327).

Ende der Entscheidung

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