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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 10.07.2006
Aktenzeichen: 1 CS 06.983
Rechtsgebiete: VwGO, BayBO


Vorschriften:

VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6
BayBO Art. 6 Abs. 2 Satz 1
BayBO Art. 6 Abs. 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

In der Verwaltungsstreitsache

1 CS 06.983

wegen

Anfechtung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Anbaus (Fl.Nr. ****** Gemarkung *********),

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs;

hier: Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts ******* vom 3. April 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Langer

ohne mündliche Verhandlung am 10. Juli 2006 folgenden

Beschluss:

Tenor:

I. Die Nrn. I und II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts ******* vom 3. April 2006 werden geändert.

Der Antrag wird abgelehnt.

II. Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Der Beigeladenen trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen ein Bauvorhaben des Beigeladenen.

Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem Wohngebäude bebauten Grundstücks Fl.Nr. ****** Gemarkung R********. Der Beigeladene ist Eigentümer des westlich angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. ******, das gleichfalls mit einem Wohnhaus bebaut ist. Mit Bescheid vom 23. November 2005 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen für das bestehende Gebäude eine Baugenehmigung für den "Abbruch von Nebengebäuden", den "Ausbau des Dachgeschosses" und die "Renovierung im Bestand". "Hinsichtlich der Einhaltung der Abstandsflächen nach Westen" wurde eine Abweichung zugelassen. Mit einem weiteren Bescheid vom 23. November 2005 wurde die Errichtung eines "Anbaus von sechs Wohneinheiten und einer Tiefgarage" genehmigt. Auch mit diesem Bescheid wurden Abweichungen "hinsichtlich der Abstandsflächen" zugelassen. Die Abstandsflächen sind in einem Plan im Maßstab 1 : 250, der Teil der genehmigten Bauvorlagen ist, dargestellt.

Die Antragsteller legten gegen die Baugenehmigungen, die ihnen am 20. Januar 2006 per Übergabeeinschreiben übersandt worden waren, Widerspruch ein und beantragten beim Verwaltungsgericht München hinsichtlich der Genehmigung für den Anbau die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das Verwaltungsgericht entsprach dem Antrag mit Beschluss vom 3. April 2006 in erster Linie deswegen, weil nach den Bauvorlagen ein 0,22 m tiefer, dreiecksförmiger Teil einer Abstandsfläche, die vor einem mit einer Gaube nach oben abgeschlossenen Wandteil der östlichen Gebäudeseite anfällt, auf dem Grundstück der Antragsteller lag.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

Mit Bescheid vom 10. April 2006 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen zu dem Anbauvorhaben eine Tekturgenehmigung für eine geänderte Ausführung der erwähnten Dachgaube. Infolge dieser Änderung wird die - nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO berechnete - Abstandsfläche des fraglichen Wandteils in vollem Umfang auf dem Baugrundstück eingehalten. Die Antragsteller legten auch gegen die Tekturgenehmigung Widerspruch ein und bezogen den neuen Bescheid in ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ein.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass sie dem Widerspruch mit der Tekturgenehmigung abgeholfen habe; im Übrigen hält sie die rechtliche Beurteilung des Verwaltungsgerichts für unzutreffend.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts ******* vom 3. April 2006 zu ändern und den Antrag abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,

die Beschwerde mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 23. November 2005 in der Fassung des Bescheids vom 10. April 2006 angeordnet wird.

Der Beigeladene hält die Beschwerde für begründet, stellt aber keinen Antrag.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die von der Antragsgegnerin vorgelegten Bauakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Gegenstand des zulässigen Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz ist nicht mehr - wie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht - die Baugenehmigung für den Anbau in ihrer ursprünglichen Fassung vom 23. November 2005, sondern diese Genehmigung in der Fassung des Bescheids vom 10. April 2006. Diese Fassung haben die Antragsteller im Beschwerdeverfahren durch eine Änderung ihres Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz zum Gegenstand des Rechtsstreits gemacht. Die Änderung ist zulässig, weil sie sachdienlich ist; zudem haben die übrigen Beteiligten nicht widersprochen (§ 91 Abs. 1 VwGO in entsprechender Anwendung). Die Beschränkung des Streitstoffs auf die innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegten Gründe bei Beschwerden in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) steht dem nicht entgegen. Diese der Beschleunigung des Verfahrens dienende Vorschrift kann dann nicht gelten, wenn der angegriffene Verwaltungsakt während eines zulässigen Beschwerdeverfahrens geändert wird. In diesem Fall entspricht es der Prozessökonomie, auch die Regelungen des Änderungsbescheids zum Gegenstand der Prüfung zu machen (BayVGH vom 15.1.2004 - 1 CS 03.328, vom 1.2.2006 - 1 CE 04.737 / 1 CS 04.791; vgl. auch Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 146 RdNr. 92 f.).

Der Beschluss des Verwaltungsgericht muss geändert und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss abgelehnt werden, weil der Widerspruch der Antragsteller gegen die Baugenehmigung in der Fassung der Tekturgenehmigung voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Damit fällt die Abwägung zwischen dem Interesse der Antragsteller, dass vor einer abschließenden Entscheidung über ihren Rechtsbehelf keine zu ihren Lasten gehenden vollendeten Tatsachen geschaffen werden, und dem Interesse des Beigeladenen, von der trotz des Nachbarwiderspruchs vollziehbaren Baugenehmigung (§ 212 a BauGB) Gebrauch machen zu dürfen, zugunsten des Letzteren aus.

In abstandsflächenrechtlicher Hinsicht werden die Antragsteller jedenfalls seit der geringfügigen Änderung des Vorhabens, die Gegenstand der Tekturgenehmigung ist, nicht mehr in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auf der dem Grundstück der Antragsteller zugewandten Ostseite werden die Abstandsflächen nunmehr - unter Heranziehung des 16-Meter-Privilegs des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO für Teile der Wand - in vollem Umfang auf dem Baugrundstück eingehalten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO). Auf der Nord- und der Südseite wird das geänderte Gebäude Abstandsflächen gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO auf dem Baugrundstück bzw. der Ellmaierstraße (Art. 6 Abs. 7 BayBO) einhalten. Damit ist es aus dem in diesem Rechtsstreit allein maßgebenden Blickwinkel einer möglichen Verletzung von Rechten der Antragsteller unerheblich, ob die auf der Westseite zugelassene Abweichung rechtmäßig ist. Denn - bei Einhaltung von Abstandsflächen gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO auf den übrigen Seiten - stünde dem Beigeladenen das 16-Meter-Privileg für die Ostseite selbst dann nach Art. 6 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO zur Verfügung, wenn die Antragsgegnerin auf der Westseite einen völligen Verzicht auf Abstandsflächen zugelassen und einen Grenzanbau ermöglicht hätte (vgl. BayVGH vom 7.2.1991 BayVBl 1991, 438). Dass das vorhandene Gebäude mit seiner südlichen Außenwand an der Grenze zu der Ellmaierstraße steht, wirkt sich auf das 16-Meter-Privileg nicht aus (Art. 6 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 3 BayBO). Die Entscheidung des Großen Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. April 2000 (VGH n. F. 53, 89 = NVwZ-RR 2001, 291 = BayVBl 2000, 562), der zufolge das 16-Meter-Privileg keine Anwendung findet, wenn die Abstandsflächentiefe des Art. 6 Abs. 4 BayBO (bei einem Vorhaben, bei dem das Privileg zweimal zur Verfügung steht) vor mehr als zwei Außenwänden unterschritten wird, ist, wie der Beigeladene zutreffend herausstellt, nicht einschlägig.

Anhaltspunkte dafür, dass sich das in bauplanungsrechtlicher Hinsicht nach § 34 BauGB zu beurteilende Vorhaben trotz Einhaltung der Abstandsflächen wegen einer "erdrückenden" Wirkung auf das Grundstück der Antragsteller unter Verletzung von deren Rechten nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen könnte, hat das Verfahren nicht erbracht.

Da die Antragsteller unterlegen sind, müssen sie - nach § 159 Satz 2 VwGO als Gesamtschuldner - die Kosten des Verfahrens tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen werden nicht für erstattungsfähig erklärt, weil dieser in beiden Instanzen keinen Antrag gestellt und somit kein Kostenrisiko übernommen hat (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 1.5 Satz 1 und Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2004 (NVwZ 2004, 1327).



Ende der Entscheidung

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