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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 23.11.2007
Aktenzeichen: 1 CS 07.1942
Rechtsgebiete: VwGO, BauGB


Vorschriften:

VwGO § 80 a Abs. 3
BauGB § 30 Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 2 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 CS 07.1942

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Tekturbaugenehmigung für die Errichtung einer Doppelhaushälfte mit Garage (Fl.Nr. 216/3 Gemarkung *******), Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs;

hier: Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 20. Juli 2007,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Häberlein

ohne mündliche Verhandlung am 23. November 2007

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Nr. I und Nr. II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 20. Juli 2007 werden geändert; sie werden wie folgt gefasst:

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Tekturbaugenehmigung des Landratsamts Bad Tölz-Wolfratshausen vom 24. Mai 2007 wird abgelehnt.

II. Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. II. Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen ein Wohnbauvorhaben der Beigeladenen. Im Beschwerdeverfahren ist nur noch die Garage im Streit.

Die Antragsteller sind Eigentümer des am östlichen Ortsrand von Münsing südlich der Staatsstraße **** gelegenen, mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. 216 Gemarkung *******. Die Beigeladenen sind Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks Fl.Nr. 216/3. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines mit Bescheid des Landratsamts Wolfratshausen vom 6. April 1960 genehmigen Baulinienplans (Bebauungsplan Nr. 4/*******). Eine in dem Plan festgesetzte Baugrenze verläuft von Nordosten nach Südwesten über das Grundstück der Antragsteller, das Grundstück der Beigeladenen sowie vier weitere südlich anschließende, gleichfalls mit Wohnhäusern bebaute Grundstücke. Außerdem legt der Plan die zulässige Geschosszahl fest. Das Gelände fällt in dem von der Baugrenze erfassten Bereich sowohl von Norden nach Süden als auch von Westen nach Osten ab.

Mit Bescheid des Landratsamts Bad Tölz-Wolfratshausen vom 22. Mai 2003 erhielten die früheren Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. 216/3 die Baugenehmigung für die Errichtung einer Doppelhaushälfte. Hinsichtlich der Gebäudehöhe und der überbauten Grundstücksfläche wurden Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt. Die genehmigten Bauvorlagen sahen die Errichtung einer Flachdachgarage an der südlichen Grenze des Baugrundstücks vor. Die Genehmigung wurde bestandskräftig.

Im Oktober 2006 beantragten die Beigeladenen die Baugenehmigung für eine Doppelhaushälfte, die hinsichtlich der Höhe und der überbauten Grundstücksfläche in größerem Umfang vom Bebauungsplan abwich als das mit Bescheid vom 22. Mai 2003 genehmigte Vorhaben. Nachdem das Landratsamt dieses Vorhaben nicht für genehmigungsfähig gehalten hatte, reichten die Beigeladenen im April 2007 einen Tekturantrag für ein verkleinertes Vorhaben ein. Für diese Planung erhielten die Beigeladenen mit Bescheid des Landratsamts vom 24. Mai 2007 die Baugenehmigung. Nach den genehmigten Plänen hält das Wohnhaus die Baugrenze ein. Die auf der Nordostseite des Hauses mit einem Grenzabstand von 3,50 m geplante Garage befindet sich mit etwa einem Drittel ihrer Grundfläche außerhalb der Baugrenze; hierfür wurde eine Befreiung erteilt. Die Antragsteller legten Widerspruch ein und beantragten beim Verwaltungsgericht München vorläufigen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 20. Juli 2007 ordnete das Verwaltungsgericht hinsichtlich der Garage die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an; im Übrigen lehnte es den Antrag ab.

Gegen den dem Antrag stattgebenden Teil der Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen mit dem Antrag, den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 20. Juli 2007 zu ändern und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die Tekturbaugenehmigung des Landratsamts Bad Tölz Wolfratshausen vom 24. Mai 2007 in vollem Umfang abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Antragsgegner stellt keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die vom Antragsgegner vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts muss geändert und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch hinsichtlich der Garage (und damit in vollem Umfang) abgelehnt werden, weil der Widerspruch der Antragsteller gegen die Baugenehmigung auch insoweit voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) spricht Überwiegendes dafür, dass die im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung auch hinsichtlich der Garage nicht gegen Vorschriften des Genehmigungsmaßstabs (Art. 73 Abs. 1 BayBO) verstößt, die dem Schutz der Antragsteller als Grundstücksnachbarn dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Damit fällt die Abwägung zwischen dem Interesse der Antragsteller, dass vor einer abschließenden Entscheidung über ihren Rechtsbehelf keine zu ihren Lasten gehenden vollendeten Tatsachen geschaffen werden, und dem Interesse des Beigeladenen, von der trotz des Nachbarwiderspruchs vollziehbaren Baugenehmigung (§ 212 a BauGB) Gebrauch machen zu dürfen, in vollem Umfang zugunsten der Letzteren aus.

1. Der Senat teilt zwar der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die im Baulinienplan Nr. 4/******* festgesetzte östliche Baugrenze möglicherweise auch den Zweck hat, Rechte der jeweils nördlich angrenzenden Nachbarn zu schützen. Im Gegensatz zum Verwaltungsgericht hat der Senat aber nach summarischer Prüfung keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der für die Garage erteilten Befreiung von dieser Baugrenze.

a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geht, ohne dies näher auszuführen, zutreffend davon aus, dass der Nachbarrechtsschutz bei einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) davon abhängt, ob die Festsetzung, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dient oder nicht. Bei einer Befreiung von einer auch dem Nachbarschutz dienenden Festsetzung wird der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die "nur" dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Fall nur verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG vom 19.9.1986 BayVBl 1987, 151; vom 8.7.1998 NVwZ-RR 1999, 8).

Auch nach Auffassung des Senats deutet der Verlauf der alten Baulinie auf eine nachbarschützende Wirkung der gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG als Baugrenzenfestsetzung (§ 23 Abs. 1 und 3 BauNVO) fortgeltenden Regelung hin. Die Baugrenze verläuft in dem (auch) von Norden nach Süden geneigten Gelände nicht parallel zu dem die Bebauung derzeit nach Osten hin abschließenden Lindenweg, sondern von Nordosten nach Südwesten diagonal über die von ihr erfassten Grundstücke. Dies spricht dafür, dass mit der Festsetzung durch eine jeweils um einige Meter nach Westen versetzte Anordnung der Gebäude im Interesse der jeweils nördlich angrenzenden Nachbarn ein Fernblick nach Süden bzw. Südosten zumindest teilweise freigehalten werden sollte. Dass dieser Blick fast 50 Jahren nach dem Inkrafttreten der Festsetzung (unter anderem durch Bäume) eingeschränkt ist, steht dem nicht entgegen. Diese Veränderung wirft allenfalls die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu vertiefende Frage auf, ob der nachbarschützende Regelungsgehalt der Festsetzung obsolet geworden sein könnte.

b) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sieht der Senat aber keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit der auf § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB gestützten Befreiung. Nach dieser Vorschrift darf von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Weitere Voraussetzung ist, dass die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Das Verwaltungsgericht bezweifelt, dass die Befreiungsvoraussetzungen erfüllt sind, legt aber nicht dar, welcher Grundzug der Planung berührt sein soll und weshalb die städtebauliche Vertretbarkeit fraglich erscheinen soll. Nach Auffassung des Senats kann zwar in der versetzten Anordnung der Baukörper ein Grundzug der Planung gesehen werden. Es ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dieser nur die Stellung der Hauptgebäude auf den Grundstücken erfasst. Denn der diagonale Verlauf der Baugrenze hat zur Folge, dass der außerhalb der Baugrenze liegende Teil der Grundstücke von Norden nach Süden gesehen immer größer wird. Bei dem von Norden aus gesehen dritten Grundstück Fl.Nr. 216/4 befindet sich bereits etwa die Hälfte der Fläche außerhalb der Baugrenze. Diese Besonderheit legt es nahe, einen weiteren Grundzug der Planung darin zu sehen, dass Nebengebäude außerhalb der östlichen Baugrenze zugelassen werden dürfen. Dem entspricht im Übrigen, dass sich die vorhandenen Nebenanlagen und Garagen bzw. Stellplätze wohl überwiegend außerhalb der strittigen Baugrenze befinden. Auch die Garage der Antragsteller steht teilweise außerhalb der Baugrenze. Nach summarischer Prüfung ist somit die Annahme, dass die Befreiung den Grundzügen der alten Baulinienplanung entspricht, eher gerechtfertigt als eine gegenteilige Beurteilung.

Auch die städtebauliche Vertretbarkeit ist nicht fraglich. Der Zustand, der durch die Befreiung ermöglicht wird, könnte auch durch eine Ergänzung des Bebauungsplans erreicht werden (vgl. Roeser in Berliner Kommentar zum BauGB, 3. Aufl., § 31 RdNr. 14). Auch im Hinblick auf die ohnehin gegebene Befugnis des § 23 Abs. 5 BauNVO, Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO und in den Abstandsflächen zulässige Anlagen auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen zuzulassen, ist nicht ersichtlich, welche städtebaulichen Gründe einer Festsetzung von "Bauräumen" für Nebenanlagen und Garagen östlich der Baugrenze oder der Festsetzung eines Ausnahmetatbestandes (§ 23 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz BauNVO) für diese Vorhaben entgegenstehen könnten.

Nach summarischer Prüfung hat der Senat schließlich keine Zweifel, dass die Abweichung von der Baugrenze unter Würdigung der nachbarlichen Belange der Antragsteller zu vertreten ist. Nach den genehmigten Bauvorlagen muss die Garage, die mit einer Wandhöhe von 3,00 m und einem flach geneigten Satteldach geplant ist und - in Anpassung an die Neigung des Geländes nach Osten - 0,30 m bis 0,50 m tiefer liegen wird als das Wohnhaus, einen Grenzabstand von 3,50 m einhalten. Eine "erdrückende" oder "abriegelnde" Wirkung (vgl. BVerwG vom 13.3.1981 DVBl 1981, 928; vom 23.5.1986 DVBl 1986, 1271) scheidet damit aus. Der Blick nach Süden wird durch die Garage zwar geschmälert werden. Diese Einschränkung erscheint nach summarischer Prüfung - anhand der von den Beteiligten vorgelegten Fotografien - aber nicht so gravierend, dass die Schmälerung der Belange der Antragsteller nicht mehr zu vertreten wäre. Bei dieser Bewertung ist nach Auffassung des Senats in erster Linie nicht auf den Blick von dem Untergeschoss des bergseitig eineinhalb- und talseitig - infolge von Abgrabungen - zweieinhalbgeschossig errichteten Wohnhauses der Antragsteller abzustellen, sondern auf den Blick von Erdgeschoss aus. Eine Vorstellung von diesem Blickwinkel gibt insbesondere die von den Antragstellern mit Schriftsatz vom 7. September 2007 vorlegte Fotografie Nr. 8. Diese und weitere Fotografien (auch der Beigeladenen) zeigen zum einen die von den Beigeladenen hervorgehobenen, von dem Vorhaben unabhängigen Einschränkungen eines freien Blicks durch hochgewachsene Bäume. Zum anderen ist zu erkennen, dass den Antragstellern mit großer Wahrscheinlichkeit - sowohl über die Garage hinweg als auch östlich an ihr vorbei - noch ein nennenswerter Teil des (durch von dem Bauvorhaben unabhängige Umstände ohnehin eingeschränkten) freien Blicks erhalten bleiben wird. Es steht außer Frage, dass die nachbarlichen Belange deutlich weniger beeinträchtigt worden wären, wenn die Beigeladenen die Garage, wie zunächst geplant, auf der Südseite ihres Grundstücks errichtet hätten. Das ist jedoch rechtlich ohne Bedeutung. Eine Befreiung, die auch im Hinblick auf die gebotene Würdigung nachbarlicher Belange nicht zu beanstanden ist, ist nicht deswegen rechtswidrig, weil der Bauherr das Vorhaben auch in einer die Belange des Nachbarn weniger stark beeinträchtigen Weise hätte ausführen können. 2. Da die Antragsteller in vollem Umfang unterlegen sind, tragen sie - nach § 159 Satz 2 VwGO als Gesamtschuldner - die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nur hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens für erstattungsfähig erklärt, weil diese nur in diesem Verfahren (mit ihrer Beschwerde) einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen haben (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2004 (NVwZ 2004, 1327). Das von den Beigeladenen mit der Beschwerde verfolgte Bauherreninteresse dürfte für die Streitwertfestsetzung zwar höher zu bewerten sein als das Nachbarinteresse der Antragsteller; das wirkt sich aber nicht aus, weil der Streitwert des Rechtsmittelverfahrens durch den Wert des Streitgegenstandes des ersten Rechtszugs begrenzt wird. Bei der Bewertung des den Streitwert begrenzenden Interesses der Antragsteller ist zu jedoch berücksichtigen, dass im Beschwerdeverfahren nur noch die Garage im Streit war.

Ende der Entscheidung

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