Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 05.02.2009
Aktenzeichen: 1 ZB 08.910
Rechtsgebiete: BayBO


Vorschriften:

BayBO Art. 6 Abs. 2 Satz 3
BayBO Art. 6 Abs. 2 Satz 4
BayBO Art. 6 Abs. 3
BayBO Art. 6 Abs. 6
Der Bauherr kann auch bei einer nicht durch Vor- und Rücksprünge bzw. durch unterschiedliche Wandhöhen gegliederten, mehr als 16 m langen Gebäudeseite frei entscheiden, vor welchen Wandabschnitten das 16 m-Privileg angewendet werden soll. Das gilt nicht nur im Fall einer unregelmäßig, das heißt nicht parallel zur Wand verlaufenden Grundstücksgrenze (BayVGH vom 25.5.1998 VGH n. F. 51, 101 = BayVBl 1999, 246), sondern auch, wenn die Grenze zwar parallel zur Wand verläuft, die Abstandsfläche aber infolge einer Abstandsflächenübernahme zum Teil auf einem Nachbargrundstück liegen darf.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 ZB 08.910

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Baugenehmigung für ein Wohnhaus (Fl.Nr. ***/8 Gemarkung ********);

hier: Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 24. Januar 2008,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat, durch

den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Häberlein

ohne mündliche Verhandlung

am 5. Februar 2009

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen ein Bauvorhaben der Beigeladenen.

Die Mitglieder der Klägerin sind Eigentümer des Grundstücks FlNr* ***/6 Gemarkung G*******, die Mitglieder der Beigeladenen Eigentümer des mit einem Teil seiner Fläche südwestlich angrenzenden Grundstücks FlNr. ***/8. Nordwestlich des Grundstücks der Klägerin und nordöstlich des Grundstücks der Beigeladenen befindet sich das Grundstück Fl.Nr. ***/2.

Mit Bescheid vom 27. April 1999 erteilte der Beklagte der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung eines Wohngebäudes mit Tiefgarage auf dem Grundstück FlNr. ***/8. Die gegen diese Genehmigung erhobene Klage hatte in der Berufungsinstanz Erfolg. Mit Urteil vom 13. April 2005 (1 B 04.636) hob der Verwaltungsgerichtshof den Bescheid vom 27. April 1999 auf, weil er Rechte der Klägerin verletze. Das Vorhaben widerspreche den Abstandsflächenvorschriften, weil der Teil der Abstandsfläche der nordöstlichen Außenwand, der vor dem "fiktiven" Wandteil unter dem südlichen Vordach anfalle, teilweise auf dem Grundstück der Klägerin liege.

Auf einen neuen Bauantrag hin, dem die Zustimmung des Eigentümers des Grundstücks FlNr. ***/2 zu einer Übernahme eines weiteren Teils der auf der Nordostseite des Gebäudes einzuhaltenden Abstandsfläche auf sein Grundstück beigefügt war, erteilte der Beklagte erneut eine Baugenehmigung für das Wohngebäude der Beigeladenen (Bescheid vom 12.6.2006). Die Klägerin erhob Widerspruch und beantragte beim Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz. Dieser Antrag blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 2.11.2006 - M 11 SN 06.2726, Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 23.2.2007 - 1 CS 06.3219). Den Widerspruch wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 22. Mai 2007 zurück. Auch die daraufhin erhobene Anfechtungsklage hatte keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht wies sie mit Urteil vom 24. Januar 2008 ab.

Die Klägerin beantragt, die Berufung gegen dieses Urteil zuzulassen. Sie macht geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden.

Der Beklagte und die Beigeladene haben sich im Zulassungsverfahren nicht geäußert.

II.

Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.

1. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor (§ 124 a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO). Aus der Begründung des Zulassungsantrages ergibt sich nicht, dass die Baugenehmigung vom 12. Juni 2006 Rechte der Klägerin verletzen könnte (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Es stellt keinen Mangel des angefochtenen Urteils dar, dass das Verwaltungsgericht den im Berufungsurteil vom 13. April 2005 festgestellten Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften im Hinblick darauf als ausgeräumt angesehen hat, dass der Eigentümer des Grundstücks FlNr. ***/2 einen weiteren Teil der vor der nordöstlichen Außenwand des Wohngebäudes der Beigeladenen anfallenden Abstandsfläche auf sein Grundstück übernommen hat. Der Senat hat hierzu im Beschluss vom 23. Februar 2007 Folgendes ausgeführt:

"... Vor dem dem Grundstück der Antragsteller gegenüberliegenden, aus "realen" und "fiktiven" Teilen zusammengesetzten Abschnitt der nordöstlichen Außenwand wird zwar nur eine nach dem 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO a. F. bemessene ("halbe") Abstandsfläche auf dem Baugrundstück eingehalten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO a. F.). Die Rechte der Antragsteller zu 1 bis 3 werden hierdurch aber nicht verletzt, weil die Voraussetzungen für eine Anwendung des 16 m-Privilegs erfüllt sind. Das Privileg kann beim Vorhaben der Beigeladenen zweimal in Anspruch genommen werden; eine Einschränkung gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO a. F. greift nicht ein. Das 16 m-Privileg wird auch nur zweimal, nämlich auf der Nordost- und der Südwestseite herangezogen. Auf den beiden anderen Gebäudeseiten hält das Gebäude jeweils eine nach Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO a. F. berechnete ("volle") Abstandsfläche ein (zu dieser Voraussetzung vgl. BayVGH vom 17.4.2000 VGH n. F. 53, 89 = BayVBl 2000, 562). Eine Anwendung des 16 m-Privilegs ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil die nordöstliche und die südwestliche Gebäudeseite jeweils länger als 16 m sind. Erforderlich ist nur, dass die Gesamtlänge aller Wandabschnitte einer Gebäudeseite, auf der die "volle" Abstandsfläche nicht auf dem Baugrundstück (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO a. F.) bzw. - nach Maßgabe des Art. 7 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. - auf einem Nachbargrundstück eingehalten wird, nicht mehr als 16 m beträgt (BayVGH vom 21.4.1986 VGH n. F. 39, 9 = BayVBl 1986, 397). Diese Voraussetzung ist auch auf der Nordostseite erfüllt, wie im Einzelnen dem genehmigten Plan "Abstandsflächen" entnommen werden kann. Entgegen der Auffassung der Antragsteller zu 1 bis 3 schadet es schließlich auch nicht, dass auf der Nordostseite Wandabschnitte mit einer "halben" und mit einer "vollen" Abstandsfläche so verteilt sind, dass vor einem in sich nicht weiter gegliederten Wandteil sowohl Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO a. F. als auch - in dem Bereich, in dem sich die Abstandsfläche infolge der im zweiten Genehmigungsverfahren erweiterten "Übernahme" nach Art. 7 Abs. 5 Satz 1 BayBO a. F. auf das Nachbargrundstück Fl.Nr. ***/2 erstrecken darf - Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO a. F. Anwendung finden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann der Bauherr nämlich nicht nur grundsätzlich frei entscheiden, auf welchen Gebäudeseiten Art. 6 Abs. 5 BayBO a. F. zur Anwendung kommen soll; er kann auch entscheiden, vor welchen Wandabschnitten einer mehr als 16 m langen Gebäudeseite die "halbe" Abstandsfläche liegen soll. Letzteres gilt nicht nur für eine Gebäudeseite, bei der die Wand durch Vor- und Rücksprünge bzw. durch unterschiedliche Wandhöhen gegliedert ist, sondern auch für eine ungegliederte Wand, die einer unregelmäßig, das heißt nicht parallel zur Wand verlaufenden Grundstücksgrenze gegenüberliegt (BayVGH vom 25.5.1998 VGH n. F. 51, 101 = BayVBl 1999, 246). Entsprechendes gilt, wenn die Grenze - wie hier - zwar parallel zur Wand verläuft, aber infolge einer Abstandsflächenübernahme überschritten werden darf."

An dieser rechtlichen Beurteilung, der sich das Verwaltungsgericht angeschlossen hat, hält der Senat fest. Ihre Richtigkeit wird durch das Vorbringen im Zulassungsantrag nicht ernstlich in Frage gestellt.

Die Klägerin übersieht bei ihrer Kritik an der Abstandsflächenübernahme einen entscheidenden Gesichtspunkt. Nach der zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung maßgeblichen Vorschrift des Art. 7 Abs. 5 Satz 2 BayBO a.F. mussten Abstandsflächen, die ein Nachbar auf sein Grundstück übernimmt, zusätzlich zu den für die Bebauung des Nachbargrundstücks vorgeschriebenen Abstandsflächen von der Bebauung freigehalten werden. Sachlich hiermit übereinstimmend regelt Art. 6 Abs. 2 Satz 4 BayBO in der nunmehr geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2007 (GVBl S. 588), dass Abstandsflächen, die ein Nachbar auf sein Grundstück übernommen hat, nicht auf die auf diesem Grundstück erforderlichen Abstandsflächen angerechnet werden dürfen. Die Regelung des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO a. F. bzw. Art. 6 Abs. 3 BayBO, dass sich Abstandsflächen grundsätzlich nicht überdecken dürfen (sog. Überdeckungsverbot), gilt auch für eine übernommene Abstandsfläche.

Wegen dieser Rechtsfolgen trifft es nicht zu, dass ein Nachbar, der Abstandsflächen übernimmt, auf eine ausreichende Belichtung und Belüftung seines Grundstücks verzichtet. Der Nachbar verzichtet vielmehr auf die Möglichkeit, die von der Übernahme betroffenen Flächen seines Grundstücks für die Abstandsflächen eines auf seinem Grundstück zulässigen Gebäudes in Anspruch zu nehmen. Wenn das Grundstück, auf das Abstandsflächen übernommen werden, bereits bebaut ist (wie das Grundstück FlNr. ***/2), dann darf sich die Übernahme nur auf Flächen erstrecken, auf denen nicht die Abstandsflächen des vorhandenen Gebäudes liegen. Aus diesen Gründen ist auch der Einwand nicht berechtigt, dass ein Nachbar, der für die Übernahme einer Abstandsfläche eine finanzielle Gegenleistung erhält, "das Geld ohne nennenswerte Gegenleistung einsteckt, während ein anderer auf der selben Gebäudeseite angrenzender Nachbar, der nicht zu einer Übernahme bereit ist, die Nachteile hat". Eine finanzielle Gegenleistung, die bei einer Abstandsflächenübernahme üblicherweise vereinbart wird, wird nicht ohne Grund gezahlt; sie stellt die Gegenleistung dafür dar, dass der Übernehmende die bauliche Ausnutzbarkeit seines Grundstücks einschränkt. Letzteres kommt im Übrigen auch einem auf derselben Gebäudeseite angrenzenden weiteren Grundstück, hier also dem Grundstück der Klägerin, zugute.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, weil ihr Antrag keinen Erfolg hat (§ 154 Abs. 2 VwGO). Dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, entspricht schon deswegen der Billigkeit, weil sie keinen Antrag gestellt und sich somit schon aus diesem Grund nicht dem Risiko, Kosten auferlegt zu bekommen, ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 3, Abs. 1 Satz 1 sowie § 52 Abs. 1 GKG.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Ende der Entscheidung

Zurück