Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 08.01.2008
Aktenzeichen: 10 B 07.304
Rechtsgebiete: AufenthG, FreizügG/EU, RL 2004/38/EU, ARB 1/80


Vorschriften:

AufenthG § 55
AufenthG § 56 Abs. 1
FreizügG/EU § 6 Abs. 5
RL 2004/38/EU Art. 28 Abs. 3
ARB 1/80 Art. 7
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
Assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige können sich nicht auf den erhöhten Ausweisungsschutz in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EU berufen (wie OVG NRW vom 15.5.2007 DVBl 2007, 852; a.A. OVGRhPf vom 5.12.2006 NVwZ-RR 2007, 488; HessVGH vom 12.7.2006 InfAuslR 2006,395).
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

10 B 07.304

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Ausweisung;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. Oktober 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 10. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Simmon, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Eich

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 7. Januar 2008

am 8. Januar 2008

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger, ein am 10. Februar 1966 geborener türkischer Staatsangehöriger, reiste am 14. Januar 1981 im Rahmen des Familiennachzugs in das Bundesgebiet ein. Er wohnte zunächst bei seinem Vater in B., wo er die Haupt- und die Berufsschule besuchte. Im März 1984 zog er wegen der Aufnahme einer Beschäftigung um. Am 20. August 1985 heiratete der Kläger eine türkische Staatsangehörige, mit der er drei Kinder hat. Die Ehefrau des Klägers, von der er getrennt lebt, sowie die gemeinsamen Kinder hielten sich nie dauerhaft in Deutschland auf und leben derzeit in der Türkei. In der Folgezeit war der Kläger, der keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, als Schweißer und Schleifer, als Kraftfahrer, als Arbeiter bei einer Bau-, Gartenbau- und einer Reinigungsfirma beschäftigt. Dabei waren die Beschäftigungszeiten mehrfach von längerer Arbeitslosigkeit unterbrochen. Nach mehreren befristeten Aufenthaltserlaubnissen wurde dem Kläger am 4. April 1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt

Mit Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 17. Februar 2004 wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in einem Fall und mehrfacher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er im Jahr 1999 seine damalige mazedonische Lebensgefährtin mit einem Messer verletzt und im Jahr 2000 mehrfach geschlagen hatte.

Am 13. Juli 2004 wurde der Kläger wegen Drogendelikten in Untersuchungshaft genommen. Nach der Erhebung der Anklage hörte ihn die Beklagte wegen der beabsichtigten Ausweisung an. Der Kläger führte mit Schreiben vom 29. März 2005 sowie vom 27. und 31. Januar 2006 aus, er habe die ihm vorgeworfenen Taten wegen seiner Drogenabhängigkeit begangen. Er beabsichtige, eine Therapie durchzuführen und seine deutsche Freundin zu heiraten. Mit Urteil des Landgerichts München vom 11. Oktober 2005 wurde der Kläger wegen des Erwerbs von Betäubungsmitteln in 30 Fällen und wegen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in vier Fällen, davon zweimal wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Aus dem Urteil ergibt sich, dass der Kläger seit 1984 drogenabhängig ist und seit 1995 vorwiegend Kokain (ca. 4 bis 5 g pro Woche) konsumierte. Wegen seines Drogenkonsums ist der Kläger erheblich verschuldet. Nach einer Krankenhauseinweisung wegen einer Betäubungsmittelvergiftung im Jahr 2000 hatte der Kläger seinen Drogenkonsum geringfügig reduziert. Im November 2003 beteiligte er sich an den Rauschgiftgeschäften seines Lieferanten, indem er bei der Annahme und Verteilung einer Lieferung von 400 g Kokain mitwirkte. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht, dass die Aufklärung der Straftaten im wesentlichen auf das Geständnis des Klägers zurückging. Unter Einbeziehung der wegen Körperverletzung verhängten Freiheitsstrafe wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten gebildet, die der Kläger vollständig zu verbüßen hat.

Mit Bescheid vom 20. März 2006, dem die Regierung von Oberbayern vorab in Anwendung von Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG unter Berücksichtigung der vom Kläger und seinem Bevollmächtigten vorgetragenen Umstände zugestimmt hatte, wies die Beklagte den Kläger aus, untersagte die Wiedereinreise, setzte eine Frist zum Verlassen des Bundesgebiets bis zum 30. April 2006 und drohte die Abschiebung in die Türkei an. Die Ausweisung beruhe auf § 55 und § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 AufenthG. Wegen seiner langjährigen Drogenabhängigkeit, seiner hohen Schulden und seiner fehlenden Ausbildung bestehe die konkrete Gefahr, dass der Kläger nach der Haftentlassung wieder in die Drogenszene abgleite und es zu weiteren Beschaffungsdelikten komme. Derartige Rechtsverstöße beeinträchtigten im besonderen Maß die Grundinteressen der Gesellschaft. Abgesehen von seinem Bruder bestünden keine familiären Bindungen in Deutschland; vielmehr lebe die Familie des Klägers in der Türkei.

In dem vom Verwaltungsgericht eingeholten Bericht der Justizvollzugsanstalt wurde das Verhalten des Klägers in der Haft als schwankend bezeichnet. Er wurde als lasch, trügerisch, sehr auf seinen Vorteil bedacht und misstrauisch beschrieben. Er spiele wohl eher ein falsches Spiel, sei uneinsichtig, ein Wortführer und Wichtigtuer. Während der Haft habe er regelmäßig mit seinen Kindern in der Türkei telefoniert. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, hat der Kläger vorgetragen, zu den Familienangehörigen in der Türkei bestehe kein sehr intensiver Kontakt. Seine deutsche Lebensgefährtin, die er nach der Scheidung heiraten wolle, habe ebenfalls Drogen konsumiert, wenn auch in geringerem Maß als er. Sie habe inzwischen eine Therapie durchgeführt.

Mit Urteil vom 10. Oktober 2006 hat das Verwaltungsgericht München die Klage abgewiesen. Zwar könne der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nur unter den Voraussetzungen des Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG ausgewiesen werden. Doch lägen wegen seiner Drogenabhängigkeit und der von ihm begangenen Straftaten zwingende Gründe für seine Ausweisung vor. Angesichts des Fehlens stabiler Beziehungen, auf die sich der Kläger nach der Haftentlassung stützen könne, sei damit zu rechnen, dass der Kläger erneut straffällig werde.

Die zugelassene Berufung begründet der Kläger im wesentlichen damit, dass seiner Ausweisung Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG entgegenstehe. Als türkischem Staatsbürger, dem die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 zustünden und der sich seit über zehn Jahre im Bundesgebiet aufhalte, stünde ihm ein vergleichbarer Ausweisungsschutz wie Unionsbürgern zu. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit lägen nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nur bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren vor. Im übrigen habe er sich nachhaltig und gegen den Widerstand der Strafvollstreckungsbehörden um einen Therapieplatz bemüht und beabsichtige, nach der Haftentlassung mit seiner Lebensgefährtin und zukünftigen Ehefrau ein neues Leben aufzubauen. Entsprechend der Zusage des Kostenträgers könne er ab dem 20. März 2008 in eine Therapieeinrichtung aufgenommen werden.

Er beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 10. Oktober 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 20. März 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen komme der besondere Ausweisungsschutz der Richtlinie 2004/38/EG nicht zugute. Die Gefahr, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung wieder in die Drogenkriminalität abgleite, bestehe weiterhin.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses spricht sich ebenfalls gegen die Anwendung der EG-Richtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige aus.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die Gerichts- und Behördenakten einschließlich der beigezogenen Strafakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg, weil der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Das Ausweisungsverfahren ist unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie (RL) 64/221/EWG (ABl 56 vom 4.4.1964, 850) durchgeführt worden. Diese Vorschrift war auch bei der Ausweisung des Klägers zu beachten (vgl. EuGH vom 2.6.2005, Dörr und Ünal, NVwZ 2006, 72; BVerwG vom 9.8.2007 InfAuslR 2007, 431 und vom 13.9.2005 NVwZ 2006, 472), der als türkischer Staatsangehöriger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) besaß. Denn die RL 64/221/EWG ist erst mit Wirkung vom 30. April 2006 (s. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG - Unionsbürger-Richtlinie, ABl L 158 vom 30.4.2004) und damit nach Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung vom 20. März 2006 aufgehoben worden. Die Beklagte hat entsprechend der Verpflichtung in Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 64/221/EWG die von ihr beabsichtigte Ausweisung der zuständigen Regierung unter Vorlage der gesamten Behördenakten einschließlich der Äußerungen des Klägers und seines Bevollmächtigten, in denen die Gründe für den Verbleib des Klägers im Bundesgebiet vorgebracht wurden, zur Überprüfung zugeleitet. Nachdem die Regierung mit Schreiben vom 8. März und vom 14. März 2006 die Ausweisung gebilligt hat, ist der Nachprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle, deren Beteiligung nach § 3 a Satz 1 der Verordnung über die Zuständigkeiten zur Ausführung des Aufenthaltsgesetzes und ausländerrechtlicher Bestimmungen in anderen Gesetzen (GVBl 2006 S. 62) vorgeschrieben war (vgl. BayVGH vom 9.11.2005 NVwZ 2006, 128), Rechnung getragen worden.

2. Die Ausweisung erweist sich auch materiell als rechtmäßig.

2.1 Da der Kläger als türkischer Staatsangehöriger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 besaß, kommt nur eine Ermessensausweisung nach § 55 AufenthG in Betracht (vgl. BVerwGE 121, 315). Im vorliegenden Fall verlangt § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Ausweisung, weil der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genießt. Denselben Anforderungen muss die Ausweisung nach Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBl II 1959, S. 997) genügen (vgl. BVerwGE 101, 247). Nach dieser Bestimmung dürfen Staatsangehörigen eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur ausgewiesen werden, wenn diese Gründe besonders schwerwiegend sind. Wegen der Übertragung der Grundsätze des gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf die Beschränkungen des Aufenthaltsrechts nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (vgl. EuGH vom 11.11.2004, Cetinkaya, NVwZ 2005, 198; vom 2.6.2005, Dörr und Ünal, a.a.O.) setzt eine Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. EuGH vom 27.10.1977, Boucherau, Slg. 1977, 1999; vom 29.4.2004, Orfanopoulos und Olivieri, NVwZ 2004, 1099). Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung davon ab, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das private Interesse des Betroffenen an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. EuGH vom 29.4.2004, Orfanopoulos und Olivieri, a.a.O.; EGMR vom 22.3.2007, Maslov, InfAuslR 2007, 221; vom 31.1.2006, Sezen, InfAuslR 2006, 255; vom 2.8.2001, Boultif, InfAuslR 2001, 476; BVerfG vom 10.5.2007 NVwZ 2007, 946; vom 1.3.2004 NVwZ 2004, 852). Dabei muss dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch eine individuelle Würdigung der Umstände des Einzelfalls Rechnung getragen werden, die insbesondere die Rechtspositionen des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ausreichend berücksichtigt.

2.2 Diesen Anforderungen hält die angegriffene Entscheidung stand. Mit der Ausweisung soll verhindert werden, dass der Kläger im Bundesgebiet weitere Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität begeht. Die Ausweisung erfolgt daher aus schwerwiegenden Gründen zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Der strafbare Handel mit Betäubungsmitteln, der die Abhängigkeit von Drogenkonsumenten aufrechterhält oder verstärkt und der auf eine Erweiterung des Kundenkreises von bisher nicht drogenabhängigen Personen angelegt ist, führt zu erheblichen Gefahren für die Gesellschaft, deren Abwehr im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt. Die Verhinderung von weiteren Straftaten des Klägers im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität stellt ein überragend wichtiges Interesse der Gesellschaft dar. Die auf der Bewertung des persönlichen Verhaltens des Klägers beruhende Gefahrenprognose im Zeitpunkt des Berufungsurteils lässt erwarten, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung im März 2008 weitere schwerwiegende Delikte im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität begehen wird. Zwar mag eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass ein Täter, der erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, durch den Strafvollzug zu einem straffreien Lebenswandel veranlasst wird. Im Fall des Klägers, der nicht als Jugendlicher straffällig geworden ist, sondern bereits über 30 Jahre alt war, als er sich am Drogenhandel beteiligt hat, ist diese Erwartung jedoch nicht gerechtfertigt. Nach den Feststellungen des Landgerichts München war der Kläger seit 1984 drogenabhängig. Nach mehrjährigem Konsum von Cannabisprodukten stieg er 1995 auf Kokain um, wobei er vor seiner Festnahme im Jahr 2004 4 g bis 5 g pro Woche verbrauchte. Die Gefahr, dass der Kläger sich erneut Drogen beschafft, folgt aus seiner jahrelangen Abhängigkeit von Betäubungsmitteln. Der Kläger, der trotz einer stationären Behandlung wegen einer Betäubungsmittelvergiftung im Jahr 2000 keine nachhaltigen Anstrengungen - eine geringfügige Reduzierung des Verbrauchs genügt dafür nicht - unternommen hat, sich aus der Drogenabhängigkeit zu lösen, sondern den Konsum "harter" Drogen über Jahre hinweg fortgesetzt hat, stellt nicht schon deshalb keine Gefahr mehr für die öffentliche Ordnung dar, weil er sich während der Haftzeit intensiv um die Teilnahme an einer Entziehungstherapie bemüht. Eine für den Kläger günstige Prognose würde zumindest einen erfolgreichen Abschluss der Therapie voraussetzen (vgl. BayVGH vom 24.1.2007, 24 CS 06.3327 und vom 15.10.2003, 10 ZB 03.1968). Dass dem Kläger die Durchführung der Therapie während der Haftzeit nach § 35 BtMG nicht gestattet worden ist, obwohl das Landgericht sich wegen der Kooperationsbereitschaft des Klägers mit den Strafverfolgungsbehörden für eine Therapieteilnahme ausgesprochen hatte, vermag an der für den Kläger ungünstigen Gefahrenprognose nichts zu ändern. Denn diese Prognose beruht - wie allgemein im Sicherheitsrecht - allein auf objektiven Umständen, ohne dass es darauf ankommt, aus welchen Gründen die Therapie unterblieben ist und ob den Kläger insoweit ein schuldhafter Vorwurf trifft. Auch wenn der Kläger seinem Suchtverhalten nicht im bisherigen Umfang nachgeben sollte, ist damit zu rechnen, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft dem Drogenhandel zuwenden wird. Denn die Einkommensverhältnisse des Klägers, der ohne abgeschlossene Berufsausbildung auf gering bezahlte Hilfs- und Gelegenheitstätigkeiten angewiesen ist, werden es ihm kaum gestatten, die erheblichen, aus der Zeit vor seiner Inhaftierung entstandenen Schulden abzutragen. Daher besteht die Gefahr, dass der Kläger versuchen wird, seine wirtschaftliche Situation durch den erneuten Einstieg in den Drogenhandel zu verbessern. Da der Kläger im Bundesgebiet über kein ausreichend stabiles soziales Umfeld verfügt, das ihn bei der Bewältigung der anstehenden Probleme unterstützen könnte - die gelegentliche finanzielle Hilfe durch seinen Bruder oder die (behauptete) Beziehung zu seiner deutschen Lebensgefährtin genügen dafür nicht -, ist unter Berücksichtigung der der Gesellschaft drohenden, gravierenden Risiken mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger angesichts des auf ihm lastenden Drucks in das alte Drogenmilieu zurückkehrt.

2.3 Die Ausweisung des Klägers scheitert auch nicht an seinem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der Schutz dieser Positionen untersagt die Ausweisung nicht schlechthin, sondern fordert allein, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK geltenden Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf (vgl. EGMR vom 22.3.2007, Maslov, a.a.O.; BVerfG vom 10.5.2007 und vom 1.3.2004 a.a.O.). Im vorliegenden Fall ist dem öffentlichen Interesse an der Abwehr weiterer Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität durch den Kläger ein deutlich höheres Gewicht beizumessen als dessen persönlichen Belangen. Zwar reiste der Kläger als 15-jähriger Jugendlicher in das Bundesgebiet ein, wo er sich seitdem ununterbrochen aufgehalten und seinen Lebensmittelpunkt begründet hat. Die Ausweisung stellt daher einen erheblichen Eingriff in seine persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse dar, auch wenn er keine Berufsausbildung abgeschlossen hat und nur in wechselnden Arbeitsverhältnissen beschäftigt war. Gleichwohl ist der Eingriff in die Lebensverhältnisse für den Kläger zumutbar, weil er über ausreichende Beziehungen zu seinem Heimatland verfügt. Der Kläger hat seine Prägung und Schulausbildung im wesentlichen in der Türkei erhalten. Bis auf einen Bruder sind seine Geschwister und Eltern (wieder) in der Türkei. Auch seine (frühere) Ehefrau sowie seine drei Kinder befinden sich dort. Insbesondere zu den Kindern hatte der Kläger auch während der Haftzeit telefonischen Kontakt aufrechterhalten. Entgegen der Auffassung des Klägers genießt seine Beziehung zu einer deutschen Staatsangehörigen keinen über den Schutz der Privatsphäre (Art. 8 EMRK) hinausgehenden Schutz. Ungeachtet der Zweifel, ob diese Beziehung tatsächlich besteht - der Kläger hat im gesamten Verfahren weder den Namen und die Anschrift der Lebensgefährtin bekanntgegeben noch eine Erklärung seiner Lebensgefährtin zum Stand ihrer Beziehung vorgelegt - kann der Kläger sich nicht auf den Schutz des Art. 6 GG berufen. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Eheschließung in naher Zukunft bevorsteht. Angesichts des gewichtigen gesellschaftlichen Interesses, die vom Kläger zu erwartenden weiteren Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zu verhindern und der gleichzeitig bestehenden Bindungen des Klägers zu seinem Heimatland ist die Abwägung der Beklagten, den Kläger auszuweisen, nicht zu beanstanden.

2.4 Dass die Beklagte die Wirkungen der Ausweisung nicht bereits bei Erlass befristet hat, macht die Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Die im deutschen Ausländerrecht angelegte Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar (vgl. EGMR vom 28.6.2007, Kaya, InfAuslR 2007, 325). Angesichts der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten, der für ihn ungünstigen Gefahrprognose sowie der bestehenden Beziehungen zu seinem Heimatland war es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht geboten, die Ausweisung von vornherein zeitlich zu befristen (vgl. BVerfG vom 1.3.2004, a.a.O.; BVerwG vom 15.3.2005 NVwZ 2005, 1074).

2.5 Die Ausweisung des Klägers unterliegt nicht den materiellen Beschränkungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I S. 1970), mit dem Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG in nationales Recht umgesetzt worden ist. Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf der Aufenthalt von Unionsbürgern (und ihren Familienangehörigen), die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit beendet werden. Nach Satz 3 dieser Vorschrift können zwingende Gründe u.a. nur vorliegen, wenn der Betroffene rechtskräftig zur einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde, so dass der Kläger bei Anwendung dieser Regelungen auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht ausgewiesen werden dürfte. Zwar hat der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 4. Oktober 2007 (C-349/06, Polat, ZAR 2007, 405) die entsprechende Vorlagefrage des Verwaltungsgerichts Darmstadt nicht beantwortet, weil die RL 2004/38/EG erst am 30. April 2006 und damit - wie im vorliegenden Fall - nach Erlass der Ausweisungsverfügung in Kraft getreten ist. Gleichwohl ist die Frage entscheidungserheblich, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 121, 315) bei der Kontrolle von Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts abzustellen ist.

Trotz der weitgehenden Angleichung des Aufenthaltsrechts von türkischen Arbeitnehmern an die Freizügigkeitsregelung des Art. 39 EG finden die genannten Vorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörigen keine Anwendung (vgl. OVG NRW vom 15.5.2007 DVBl 2007, 852; NdsOVG vom 6.6.2005 NVwZ-RR 2005, 654; a.A. OVG RhPf vom 5.12.2006 NVwZ-RR 2007, 488; HessVGH vom 12.7.2006 InfAuslR 2006, 395). Der Europäische Gerichtshof hat aus Art. 12 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (verkündet mit Gesetz v. 13.5.1964, BGBl. II S. 509), wonach sich die Vertragsparteien von Art. 48, 49, 50 EGV (jetzt Art. 39, 40, 41 EG) leiten lassen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, die Verpflichtung entwickelt, die Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger "soweit wie möglich" auf türkische Staatsangehörige anzuwenden, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen (vgl. EuGH vom 11.11.2004, Cetinkaya, a.a.O.; vom 2.6.2005, Dörr und Ünal, a.a.O.). Die für die Herstellung der Freizügigkeit erforderlichen Regeln hat jedoch nach Art. 36 des Zusatzprotokolls zum vorgenannten Abkommen (verkündet mit Gesetz vom 19.5.1972, BGBl. II S. 385) der Assoziationsrat festzulegen, der in Art. 6 und 7 ARB 1/80 die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer gestaltet und in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 das Freizügigkeitsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt hat. Dabei entspricht es den Interessen der Vertragsparteien des Assoziationsabkommens, den Begriff "öffentliche Ordnung" in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ebenso auszulegen wie in Art. 39 Abs. 3 EG. Daher ist es gerechtfertigt, bei der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter türkischer Staatsangehöriger entsprechend Art. 3 Abs. 1 und 2 der im Zeitpunkt des Beschlusses dem Assoziationsrat bekannten RL 64/221/EWG ausschließlich auf das persönliche Verhalten des Aufenthaltsberechtigten und nicht allein auf dessen strafrechtliche Verurteilungen abzustellen. Dem ARB 1/80 kann jedoch kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass spätere materielle Änderungen des Freizügigkeitsrechts innerhalb der Europäischen Union gleichsam im Rahmen einer dynamischen Verweisung assoziationsberechtigten türkischen Arbeitnehmern zugute kommen sollen. Vielmehr wäre für die Anwendung von Art. 28 RL 2004/38/EG auf türkische Staatsangehörige nach Art. 36 Satz 2 des Zusatzprotokolls ein entsprechender Beschluss des Assoziationsrats erforderlich (vgl. Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 15.12.2006, JURM (2006) 12099, im Verfahren C-349/06, Polat).

Mit der RL 2004/38/EG sind nicht nur die bestehenden, bereichsspezifischen Regelungen der Europäischen Union zur Freizügigkeit nach Art. 39, 43, 49 EG zusammengefasst worden, sondern das Freizügigkeitsrecht wurde vereinfacht und verstärkt, also inhaltlich geändert (s. Nr. (3) der Erwägungsgründe der RL 2004/38/EG), um das im Vertrag von Maastricht geschaffene, allein an die Unionsbürgerschaft (Art. 17 und 18 EG) anknüpfende Recht auszugestalten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (s. Nr. (1) der Erwägungsgründe der RL 2004/38/EG). Eine materielle, über den bisherigen Freizügigkeitsstandard hinausgehende Änderung enthält insbesondere der erweiterte Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, der Ausweisungen nach einem zehnjährigen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässt. Dass diese Stärkung des Aufenthaltsrechts die Unionsbürgerschaft voraussetzt, zeigt sich bereits daran, dass Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG diesen Ausweisungsschutz (anders als § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU) ausschließlich Unionsbürgern vorbehält, während die Beschränkung der Ausweisung auf schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit in Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EU auch für die Familienangehörigen von Unionsbürgern gilt. Darüber hinaus ist dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EU zu entnehmen, dass der erweiterte Schutz des Absatzes 3, auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Wortlaut der Richtlinie, ebenso wie der Schutz des Absatzes 2 das Daueraufenthaltsrecht voraussetzt, das ausschließlich Unionsbürgern und deren Familienangehörigen, nicht aber freizügigkeitsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zustehen kann, deren Aufenthaltsrechte aus ihrer Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt herrühren und nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder beim Verlassen des aufnehmenden Mitgliedsstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen. Denn der stärkste Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EU kann nicht von geringeren Voraussetzungen abhängig sein als der Schutz in Absatz 2, der nicht allen Unionsbürgern zusteht, sondern den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt voraussetzt. Daraus folgt, dass assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige den bisher in der Europäischen Union im Rahmen der Freizügigkeit gewährten Schutzstandard behalten, sich aber nicht auf den erweiterten Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EU und § 6 Abs. 5 FreizügigG/EU berufen können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, § 708 ZPO.

Die Revision ist zuzulassen, weil die Frage, ob § 6 Abs. 5 FreizügG/EU und Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Anwendung finden, grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt (§ 52 Abs. 2, § 47 GKG).

Ende der Entscheidung

Zurück