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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 24.10.2008
Aktenzeichen: 10 B 08.492
Rechtsgebiete: AufenthG, GG, EMRK, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 53 Nr. 2
AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
AufenthG § 56 Abs. 1 Satz 4
GG Art. 6
EMRK Art. 8
VwGO § 114 Satz 2
Wird ein Ausländer der zweiten Generation zu Unrecht aufgrund der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgewiesen und ist die Ausweisung auch nicht hilfsweise auf Ermessen gestützt, können die fehlenden Ermessenserwägungen nicht nach § 114 Satz 2 VwGO nachgeholt werden.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

10 B 08.492

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Ausweisung;

hier: Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Mai 2007,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 10. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Simmon, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Häußler

ohne mündliche Verhandlung am 24. Oktober 2008

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Mai 2008 und der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2006 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung.

1. Der 23 Jahre alte Kläger ist albanischer Volkszugehöriger. Seine Familie stammt aus dem Kosovo. Er ist in München geboren und aufgewachsen und erhielt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Er besuchte in München die Grundschule, wechselte auf die Förderschule und absolvierte ein berufsvorbereitendes Jahr, ohne den angestrebten qualifizierenden Hauptschulabschluss zu erreichen. Bereits als Jugendlicher wurde der Kläger mehrfach vorbestraft wegen Unterschlagung, Erschleichen von Leistungen, Diebstahl und Raubes. Seit seinem 15. Lebensjahr ist er drogenabhängig. Mit Urteil vom 6. Dezember 2004 wurde der Kläger wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Bereits am 12. August 2005 wurde der Kläger erneut wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Die Bewährung aus dem vorangegangenen Urteil wurde widerrufen. Nach Verbüßung der Strafe wurde der Kläger am 8. Mai 2007 aus der Haft entlassen. Er arbeitet derzeit bei einer Zeitarbeitsfirma und ist seit 12. November 2007 mit einer Deutschen verheiratet.

2. Nach ordnungsgemäßer Anhörung wurde der Kläger mit Bescheid vom 8. September 2006 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, weil bei ihm ein Regelausweisungsfall vorliege. Die Ausweisung wurde nicht, auch nicht hilfsweise auf Ermessen gestützt. Die dagegen gerichtete Anfechtungsklage blieb ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht München führte mit Urteil vom 8. Mai 2007 aus, dass der Kläger als Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsschutz genieße. Dies führe aber nur dazu, dass die nach § 53 Nr. 2 AufenthG angeordnete Ist-Ausweisung zur Regelausweisung herabgestuft werde. Ein atypischer Geschehensablauf, der dazu zwänge, von der gesetzlichen Regel abzuweichen, liege jedoch nicht vor. Der langjährige Aufenthalt des Klägers und sein verfestigter Aufenthaltsstatus könnten nicht als Ausnahmegrund angeführt werden, weil diese Gründe bereits für die Herabstufung von der Ist- zur Regelausweisung maßgeblich gewesen seien. Die Ausweisung erweise sich auch als verhältnismäßiger Eingriff in die Rechte des Klägers aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK. Zu seinen Lasten sei insbesondere die von ihm ausgehende hohe Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Der Kläger sei drogensüchtig, habe die letzte Tat in offener Bewährung begangen und stehe unter suchtbedingtem Beschaffungsdruck. Daher bestehe ein hohes öffentliches Interesse an der Ausweisung. Die privaten Interessen des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet seien demgegenüber nicht höher zu bewerten. Der Kläger sei nicht als faktischer Inländer anzusehen, auch wenn er mit Ausnahme von Urlaubsaufenthalten nie im Kosovo gelebt habe. Er spreche nur ein akzentbehaftetes Deutsch mit deutlichen Artikulierungsproblemen, so dass ihm seine albanische Muttersprache näher stehe als das Deutsche. Seine Eltern seien im Begriff, sich in ihrem Herkunftsort im Kosovo für ihr Alter ein Haus einzurichten. Dorthin bestünden soziale Kontakte, so dass dem allein stehenden Kläger die Ausreise ins Kosovo zugemutet werden könne.

3. Der Senat hat mit Beschluss vom 8. Mai 2007 die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen und dabei ausdrücklich auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.10.2007 (1 C 10.07) hingewiesen (Bl. 69 ff. d.A.). Die Berufung wird unter Verweis auf diese Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass der Kläger als Ausländer der zweiten Generation und Ehegatte einer deutschen Staatsangehörigen unter dem besonderen Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK stehe und dass seine Ausweisung zu dem nunmehr maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts unverhältnismäßig sei. Der Kläger befinde sich seit über einem Jahr nicht mehr in Haft und führe ein geregeltes und straffreies Leben. Beim Kläger sei nicht mehr mit neuen Straftaten zu rechnen, weil er nach einem (kalten) Entzug in der Strafhaft, nicht mehr drogenabhängig sei. Des Weiteren sei die Ausweisung auch deswegen unverhältnismäßig, weil das Wiedereinreiseverbot nicht befristet worden sei.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach den in erster Instanz gestellten Anträgen zu entscheiden.

Demgegenüber beantragt die Beklagte,

die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger zwar zum jetzigen Zeitpunkt den Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auf Grund der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer Deutschen genieße. Die von ihm verwirklichten Ausweisungsgründe führten dennoch in der Regel zu einer Ausweisung. Da die Ehe in Kenntnis der Straftaten und der deswegen verfügten Ausweisung eingegangen worden sei, führe dies zu keiner weiteren Erhöhung des Ausweisungsschutzes oder des Schutzes nach Art. 8 EMRK. Dem widerspreche auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.10.2007 (1C 10.07) nicht, weil der diesem Urteil zu Grunde liegende Sachverhalt in wesentlichen Punkten vom hier vorliegenden Sachverhalt abweiche. Dass ein Ausländer im Bundesgebiet geboren sei und seither hier lebe, reiche für die Annahme eines für eine Ermessensausweisung erforderlichen atypischen Sachverhalts ebenso wenig aus wie die Eheschließung nach erfolgter Ausweisung. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.11.2007 (1 C 45.06) würden jedoch die Gründe des Bescheids ergänzt und die Verfügung auf eine Ermessensentscheidung gestützt (Bl. 152 ff. d.A).

4. Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 16. Juni 2008 einen Erörterungstermin durchgeführt, die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernommen und mit den Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert. Dabei kamen die Parteien überein, nach Durchführung eines freiwilligen Drogenscreenings durch den Kläger, die Möglichkeit einer vergleichsweisen Einigung zu prüfen und auf mündliche Verhandlung zu verzichten (Bl. 105 ff. d. A). Der Kläger hat sodann (mindestens) eine Blut-, Urin- und Haarprobe durch das Institut für Rechtsmedizin bzw. das Forensisch Toxikologische Centrum München untersuchen lassen und entsprechende Bescheinigungen über unauffällige Befunde vorgelegt (Bl. 115, 135 d.A.). Auf Anfrage des Gerichts erklärte sich zwar der Kläger, nicht aber die Beklagte zu den vom Gericht vorgeschlagenen Konditionen vergleichsbereit. Die Beklagte vermutet auf Grund von Telefonaten mit der Untersuchungsstelle, dass der Kläger mehrere Haarproben abgegeben hat und dass nicht alle Untersuchungsergebnisse unauffällig gewesen seien.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann nach § 125 Abs. 1 i.V.m. § 102 Abs. 2 VwGO über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Parteien darauf verzichtet haben und weil die maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen im Rahmen eines Erörterungstermins und schriftsätzlich ausreichend behandelt worden sind.

Die zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger wird durch den Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 8. September 2006, der mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 8. Mai 2007 bestätigt worden ist, in eigenen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts. Dies gilt - wie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 15. November 2007 (BVerwGE 130, 20) ausgeführt hat - jedenfalls nach dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes generell für alle Ausweisungsverfügungen und nicht nur für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern oder assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen.

Demnach wird auch bei der Ausweisung des aus dem Kosovo stammenden Klägers nicht mehr wie früher auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im September 2006 abgestellt, sondern auf die Sach- und Rechtslage der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts im Oktober 2008. Für den vorliegenden Fall ist auch nicht deswegen ausnahmsweise der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblich, weil die Ausweisung des Klägers etwa ein Jahr vor dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes ergangen ist. Denn das Richtlinienumsetzungsgesetz hat für solche schwebenden Ausweisungsverfahren keine Übergangsregelungen vorgesehen, so dass ihre gerichtliche Überprüfung nach neuem Recht abgeschlossen werden muss. Deswegen hat auch das Bundesverwaltungsgericht in dem von ihm entschiedenen Fall, in dem es um eine im Februar 2003 von der Widerspruchsbehörde bestätigte Ausweisung eines Serben ging, nicht mehr auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abgestellt (vgl. BVerwG vom 15.11.2007 BVerwGE 130, 20).

2. Dem Kläger steht auch aus § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ein Rechtsanspruch darauf zu, dass über seine Ausweisung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden wird. Wie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 23. Oktober 2007 (NVwZ 2008, 326) ausgeführt hat, liegt ein Ausnahmefall im Sinn des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht nur bei völlig atypischen Fallkonstellationen, sondern auch dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und inwieweit dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles einer Ausweisung entgegensteht. Wie das Bundesverwaltungsgericht ausführt, fordert insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Ausländern der zweiten Generation (vgl. EGMR vom 28.6.2007InfAuslR 2007, 325 - Kaja -) eine einzelfallbezogene und ergebnisoffene Prüfung der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu untersuchenden Kriterien.

Da der Kläger im Bundesgebiet geboren ist, hier aufgewachsen ist, die Grund- und Förderschule besucht hat und da seine sämtlichen Geschwister und Freunde im Bundesgebiet leben, gehört er unzweifelhaft zu der Gruppe der Ausländer der zweiten Generation. Dass er neben der deutschen Sprache die albanische Sprache beherrscht, ändert hieran nichts. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass er sich mehrfach besuchsweise im Kosovo aufgehalten hat und seine Eltern dort einen Alterssitz errichtet haben. Wie der Kläger zutreffend ausgeführt hat, vermögen diese Umstände an seiner Sozialisation im Bundesgebiet nichts zu ändern. Ebenso wenig kann aus der schon früh einsetzenden kriminellen Karriere und Drogenabhängigkeit des Klägers gefolgert werden, dass er nicht zur Gruppe der Ausländer der zweiten Generation gehöre. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe der Ausländer der zweiten Generation begründet aber wegen der in diesen Fällen erforderlichen besonders gründlichen Prüfung des Art. 8 EMRK bereits für sich genommen einen Ausnahmesachverhalt im Sinn des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und damit einen Rechtsanspruch auf eine ermessensfehlerfreie und ergebnisoffene Entscheidung über die Ausweisung. Daneben dürfte beim Kläger auf Grund der Eheschließung mit einer Deutschen und der dadurch nach Art. 6 Abs. 1GG erforderlich werdenden Berücksichtigung der Belange seiner deutschen Ehegattin ein weiterer Ausnahmegrund vorliegen, so das bei ihm eine umfassende Ermessensprüfung veranlasst war.

3. Diesem Rechtsanspruch auf eine, die für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte ergebnisoffen abwägende Ermessensentscheidung ist die Beklagte nicht gerecht geworden. Aus den Bescheidsgründen ergibt sich unzweideutig, dass sich die Beklagte zur Ausweisung des Klägers aus Rechtsgründen für verpflichtet gesehen hat. Sieht sich die Behörde aber von vorneherein rechtsfehlerhaft zu einer Ausweisung verpflichtet und nimmt sie auch nicht hilfsweise eine eigene ergebnisoffene Ermessensprüfung vor, dann liegt ein Ermessensmangel vor, der gemeinhin als Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung bezeichnet wird (vgl. Liebetanz, in Obermayer, VwVfG, 3. Aufl. 1999, RdNr. 23 f. zu § 40). Ein Ermessensfehler liegt des Weiteren darin, dass die Beklagte auch nicht alle hierfür neuerdings geforderten Ermittlungen durchgeführt und insbesondere die Strafakten nicht ausgewertet hat (vgl. BVerfG vom 10.8.2007 NVwZ 2007, 1300).

Diese Mängel konnte die Beklagte auch nicht dadurch heilen, dass sie mit Schriftsatz vom 29. September 2008 Ermessenserwägungen nachgeschoben hat. Nach dem klaren Wortlaut des § 114 Satz 2 VwGO kann die Behörde zwar bis zum Ende des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die für ihre Ermessensentscheidungen maßgeblichen Gesichtspunkte ergänzen. Eine Ergänzung von Ermessenserwägungen liegt jedoch nicht vor, wenn bislang keine Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Daher ist auch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts bei Fehlen jeglicher Ermessensbetätigung eine Nachholung grundsätzlich nicht möglich. Vielmehr ist in solchen Fällen eine Heilung nur durch den Erlass eines neuen Bescheides möglich (vgl. BVerwG vom 5.5.1998 BVerwGE 106, 351/365; BVerwG vom 5.9.2006 NVwZ 2007, 470 stRspr.). Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass das Bundesverwaltungsgericht in seiner neuesten Entscheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt von Ausweisungsentscheidungen die nachträgliche Ergänzung von Ermessenserwägungen auch im Hinblick auf neue, erst während des Prozesses eingetretene Umstände zugelassen hat (vgl. BVerwG vom 15.11.2007 BVerwGE 130, 20). Denn auch dies setzt begrifflich das Vorliegen einer Ermessensentscheidung voraus.

Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das Bundesverwaltungsgericht vor einigen Jahren bei seinen Urteilen zur Ausweisung von EU-Bürgern und assoziationsberechtigten Türken ausnahmsweise die Nachholung des gesamten Ermessens zugelassen hat (vgl. BVerwG vom 3.8.2004 BVerwGE 121, 297; BVerwG vom 3.8.2004 BVerwGE 121, 315). Denn diese Ausnahme bestätigt nur die in § 114 Satz 2 VwGO verankerte Regel der grundsätzlichen Unzulässigkeit einer Nachholung bei völligem Ermessensausfall. Das Bundesverwaltungsgericht hat damals der sehr singulären Sondersituation Rechnung getragen, dass es seine ständige Rechtsprechung aufgegeben und völlig neue Maßstäbe vorgegeben hat. Daher hat es im Grunde genommen analog § 114 Satz 2 VwGO ausdrücklich die Nachholung der Ermessensbetätigung innerhalb einer bestimmten Frist zugelassen.

Eine vergleichbare Sondersituation liegt hier jedoch nicht vor, weil das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung vom 23. Oktober 2007 (NVwZ 2008, 326) zum Ausnahmebegriff des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nur eine in seiner Rechtsprechung bereits angelegten Gedanken fortentwickelt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits im Jahre 1998 ausgeführt, dass ein von der Regelausweisung abweichender Ausnahmefall nicht nur in atypischen Sondersituationen vorliegen kann, sondern auch dann, "wenn der Ausweisung höherrangiges Recht entgegensteht, diese insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar ist" (vgl. BVerwG vom 29.9.1998 NVwZ 1999, 303). Da außerdem vor allem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine stärkere Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 1 EMRK bei der Interpretation der ausländerrechtlichen Vorschriften erforderlich machte, stellt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2007 (NVwZ 2008, 326) für eine weite Auslegung des Ausnahmebegriffs in § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG nur eine notwendige Weiterentwicklung und keine Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung dar. Daher hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 23. Oktober 2007 (NVwZ 2008, 326) auch nicht erneut ausdrücklich das Nachholen des gesamten Ermessens zugelassen. Vielmehr hat es in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall, in dem es um die Rücknahme einer aus dem Jahre 1998 stammenden Ausweisung ging, die Möglichkeit des Nachschiebens des gesamten Ermessens nicht einmal erwähnt und damit stillschweigend abgelehnt. Da auch im vorliegenden Fall die fehlenden Ermessenserwägungen nicht nach § 114 Satz 2 VwGO rechtswirksam ergänzt werden konnten, blieb der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2006 rechtsfehlerhaft.

4. Dieser Fehler war auch nicht deswegen nach Art. 46 BayVwVfG ausnahmsweise unbeachtlich, weil eine andere Entscheidung in der Sache nicht getroffen werden konnte. Im vorliegenden Fall ist nicht auszuschließen, dass bei der gebotenen Prüfung aller Umstände des Einzelfalls ein Absehen von der Ausweisung möglich ist. Der Kläger hat dadurch, dass er im Bundesgebiet aufgewachsen ist, hier seinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis hat, mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und hier arbeitet, sehr starke Bindungen an das Bundesgebiet. Angesichts der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation im Kosovo dürfte es für ihn und seine deutsche Ehefrau auch nicht leicht sein, sich dort eine neue Existenz aufzubauen, zumal seine Ehefrau vermutlich kein albanisch spricht. Dass die Ausweisung dessen ungeachtet aus Gründen des öffentlichen Interesses geboten und im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhältnismäßig ist, kann nicht ohne weiteres festgestellt werden. Eine Ausweisung allein aus generalpräventiven Gründen dürfte ausscheiden. Die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen hängt wesentlich von der Entscheidung der Frage ab, inwieweit vom Kläger weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Bei der erforderlichen Prüfung der Wiederholungsgefahr kann die von der Beklagten in ihrer Bescheidsergänzung vom 29. September 2008 gar nicht angesprochene Frage, inwieweit der Kläger derzeit noch drogenabhängig ist und unter einem suchtbedingten Beschaffungsdruck steht, nicht ausgeblendet werden. Insoweit sprechen die vom Kläger vorgelegten Untersuchungsbefunde und die zu beobachtende Änderung des gesamten Lebenswandels gegen ein Fortbestehen der Drogenabhängigkeit. Allerdings lässt die mangelnde Durchführung einer Drogentherapie und die von der Beklagten festgestellte Abgabe mehrerer Haarproben Zweifel an der Überwindung des Drogenproblems aufkommen. Ohne die Durchführung weiterer Ermittlungen, an denen der Kläger im eigenen Interesse mitzuwirken hat, wird die Beklagte jedoch nicht allein aufgrund von Mutmaßungen vom Fortbestehen einer Drogenabhängigkeit und eines suchtbedingten Beschaffungsdruckes ausgehen können. Jedenfalls kann nicht mit der von Art. 46 BayVwVfG geforderten Sicherheit davon ausgegangen werden, dass eine Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der zu Art. 8 Abs. 1 EMRK entwickelten Kriterien bei dem seit mehr als einem Jahr straffreien Kläger zwangsläufig zu dessen Ausweisung führen müsste. Es kann bei dem noch jugendlichen Kläger, der erstmals in Strafhaft gesessen ist, nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass ihn diese Strafhaft völlig unbeeindruckt gelassen hat. Insofern ist der Beklagten bei der von ihr zutreffenden Ermessensentscheidung auch im Ergebnis eine andere Entscheidung als eine Ausweisung möglich.

5. Der Bescheid der Beklagten vom 8. September 2006 und das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 8. Mai 2007 waren daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO aufzuheben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da der vorliegende Fall keine grundsätzliche Bedeutung aufweist. Vielmehr sind die entscheidungserheblichen Rechtsfragen durch die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2007 (NVwZ 2008, 326) und vom 15. November 2007 (BVerwGE 130, 20) ausreichend geklärt.

Beschluss:

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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