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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 30.04.2003
Aktenzeichen: 12 B 98.1814
Rechtsgebiete: BSHG


Vorschriften:

BSHG § 5
BSHG § 23 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
12 B 98.1814

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

In der Verwaltungsstreitsache

wegen

Sozialhilfe (Mehrbedarf für Alleinerziehende);

hier: Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 17. Dezember 1997,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat, durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Boese

ohne weitere mündliche Verhandlung am 30. April 2003

folgendes

Urteil:

Tenor:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 17. Dezember 1997 wird abgeändert.

II. Es erhält in Nummer 2 folgende Fassung:

"Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 9. Januar 1989 bis 30. April 1995 den Mehrbedarf für Alleinerziehende in voller Höhe zu gewähren."

III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihr für die Zeit vom 9. Januar 1989 bis zum 30. April 1995 den Mehrbedarf für Alleinerziehende in voller Höhe zu gewähren.

1. Die im Jahr 1969 geborene Klägerin ist seit dem Jahr 1979 querschnittsgelähmt. Sie ist steh- und gehunfähig, kann nur den Kopf bewegen und ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Sie lebt in einer eigenen Wohnung und organisiert ihre Pflege selbst. Von der Beklagten erhält sie seit Jahren Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe zur Pflege. Im April 1988 brachte die Klägerin einen Sohn zur Welt. Nach einem Aktenvermerk der Beklagten vom 30. November 1988 stellte sich die Situation seinerzeit wie folgt dar: Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus kümmerten sich fünf Betreuer um die Klägerin und ihren Sohn. Hauptbezugsperson für das Kind sei die Klägerin, die den Pflegern Anweisungen zur Versorgung ihres Sohnes gebe. Sollte sich zeigen, dass normale Hilfen für die ergänzende Betreuung (zusätzlich zu den Pflegekräften der Klägerin) nicht ausreichten, müsse überlegt werden, ob eine Betreuungsperson für das Kind diese Aufgaben erfüllen könne.

2. Mit Bescheid vom 27. Mai 1988 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Alleinerziehung eines Kindes ab, weil sie nicht allein für die Pflege und Erziehung ihres Kindes sorge. Den Widerspruch der Klägerin wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1989 zurück. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit rechtskräftigem Urteil vom 13. Oktober 1993 ab (M 18 K 89.541).

3. Mit Bescheid vom 28. August 1996 lehnte die Beklagte die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Alleinerziehung eines Kindes auch für die Zeit vom 9. Januar 1989 bis 30. April 1995 (Vollendung des siebten Lebensjahres des Sohnes) ab, weil die Klägerin wegen ihrer Behinderung nicht allein für die Pflege und Erziehung ihres Sohnes sorge. Hiergegen erhob die Klägerin am 27. September 1996 Widerspruch, über den bislang nicht entschieden wurde.

4. Bereits am 31. Dezember 1994 hatte die Klägerin Klage erhoben und beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 28. August 1996 zu verpflichten, ihr den Mehrbedarf für Alleinerziehende für den Zeitraum vom 9. Januar 1989 bis 30. April 1995 zu gewähren.

Mit Urteil vom 17. Dezember 1997 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte, der Klägerin für den Zeitraum vom 9. Januar 1989 bis zum 30. April 1995 50 v.H. des Mehrbedarfs für Alleinerziehende zu gewähren, und wies die Klage im übrigen ab. Es führte zur Begründung aus, der Mehrbedarfszuschlag sei eingeführt worden, weil Alleinerziehende weniger Zeit hätten, preisbewusst einzukaufen, und zugleich höhere Aufwendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in Erziehungsfragen tragen müssten. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge habe im Jahr 1976 innerhalb des Pauschbetrages sechs Mehrbedarfsgruppen für Alleinerziehende und deren prozentualen Anteil am Mehrbedarf festgelegt. Eine im Jahr 1991 herausgegebene gutachterliche Äußerung des Deutschen Vereins nenne sieben Mehrbedarfsgruppen, ohne eine prozentuale Aufteilung dieser Elemente vorzunehmen. Eine niedrigere Bemessung des Mehrbedarfszuschlags für Alleinerziehende komme u.a. in Betracht, wenn im Einzelfall auf Grund des Wegfalls bestimmter Bedarfsgruppen ein niedrigerer Bedarf bestehe. Gemessen daran habe die Klägerin einen Anspruch auf 50 v.H. des Mehrbedarfszuschlags. Ihr könne nicht entgegengehalten werden, dass sie aufgrund ihrer Behinderung nicht fähig sei, ihre Erziehungsaufgaben wahrzunehmen. Denn die Zeugenaussagen zeigten, dass die Klägerin allein die Verantwortung für die Erziehung ihres Kindes getragen und die entsprechenden Entscheidungen getroffen habe. Die Klägerin habe jedoch keinen Anspruch auf Anerkennung des Mehrbedarfs in voller Höhe. Durch die Anwesenheit von Pflegepersonen rund um die Uhr, die, wie die Beweisaufnahme ergeben habe, nicht ständig mit der Klägerin beschäftigt gewesen seien, sondern auch den Haushalt besorgt hätten, habe ein "geringerer Mehrbedarf" bestanden. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin, was den Haushalt betreffe, durch ihr Kind nicht zusätzlich belastet sei. Das gelte für die Einkäufe und für den Mehrbedarf an Energie durch zusätzliche Haushaltsgeräte. Auch zusätzliche Fahrtkosten seien nicht entstanden. Im Hinblick auf die gutachtlichen Äußerungen des Deutschen Vereins sei dieser Bereich mit 50 v.H. anzusetzen.

5. Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie beantragt sinngemäß, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 17. Dezember 1997 zu verpflichten, ihr für die Zeit vom 9. Januar 1989 bis 30. April 1995 den Mehrbedarf für Alleinerziehende in voller Höhe zu gewähren.

Ihre Prozessbevollmächtigten tragen vor, die Klägerin habe einen Anspruch auf den Mehrbedarf für Alleinerziehende in voller Höhe. Das Pflegepersonal habe auch bei der Erziehung des Kindes lediglich die Anweisungen der Klägerin befolgt, der die gesamte Planung und die Bestimmung des Tagesablaufs oblegen habe. Es sei nicht ersichtlich, dass die Sorge für den Sohn von der Klägerin ausgeübt, die Haushaltsführung aber durch das Pflegepersonal organisiert und durchgeführt worden sei. Die Beweiserhebung belege das Gegenteil. Die Tatsache, dass die Klägerin eine Haushaltshilfe beschäftige, beseitige nicht den erheblichen Mehraufwand, den sie für die Führung ihres Haushalts benötige. Die Klägerin habe durch ihre Belastung als Alleinerziehende und die fehlende Möglichkeit, Fragen mit einem Mitverantwortlichen zu besprechen, nicht die gleiche Zeit wie Doppelerzieher, Preisvergleiche anzustellen und einen längeren Weg für einen günstigeren Einkauf auf sich zu nehmen. Auch habe die Klägerin einen erhöhten Energieaufwand, weil sie durch ihr Kind mehr als Doppelerzieher an ihre Wohnung gebunden sei. Zudem seien ihr erhebliche zusätzliche Fahrtkosten entstanden, weil sie alle Fahrten für und mit ihrem Sohn, wie etwa Arztbesuche, selbständig getätigt und nicht dem Pflegepersonal überlassen habe. Die Frage, ob der alleinerziehende Elternteil selbst der Pflege bedürfe, spiele für die Gewährung des Mehrbedarfs keine Rolle. Motiv des Gesetzgebers sei es gewesen, durch den Mehrbedarfszuschlag die höheren Aufwendungen, die ein Alleinerziehender tätigen müsse, auszugleichen. § 23 BSHG spreche den Alleinerziehenden in typisierender Anerkennung ihrer besonderen Situation einen pauschalen Mehrbetrag zu. Eine abweichende, niedrigere Festsetzung des Mehrbedarfs müsse sich auf die Fälle beschränken, in denen sich die Lage des Alleinerziehenden von der dem Gesetz vorschwebenden besonderen Situation grundlegend unterscheide. Eine solche Unterscheidung liege nicht darin, dass die Klägerin selbst pflegebedürftig sei, weil sie durch die Alleinerziehung ihres Kindes ebenso eingeschränkt sei, wie jede andere alleinerziehende Mutter auch. Die Behauptung des Verwaltungsgerichts, dass behinderte Alleinerziehende, die eine Pflegekraft benötigten, geringere Aufwendungen für Einkäufe, Energie und Fahrtkosten hätten, sei nicht nachvollziehbar.

Mit Schriftsatz vom 2. Juli 1999 beantragte die Beklagte, die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

6. Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung der Klägerin, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne - weitere - mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage der Klägerin zu Unrecht nur teilweise stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 28. August 1996 ist (insgesamt) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sie für den streitgegenständlichen Zeitraum (9.1.1989 bis 30.4.1995) einen Anspruch auf Gewährung des Mehrbedarfs für Alleinerziehende in voller Höhe hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

a. Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende stützt sich auf § 23 Abs. 2 BSHG. Nach dieser Vorschrift ist unter anderem für Personen, die mit einem Kind unter sieben Jahren zusammenleben und daher für dessen Pflege und Erziehung sorgen, ein Mehrbedarf anzuerkennen, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Dieser Mehrbedarf betrug hier für die Zeit bis zum 5. August 1992 20 v.H. des maßgebenden Regelsatzes (§ 23 Abs. 2 BSHG i.d.F. des Vierten Gesetzes zur Änderung des BSHG vom 21.6.1985, BGBl I S. 1081) und für die Zeit danach 40 v.H. des maßgebenden Regelsatzes (§ 23 Abs. 2 BSHG i.d.F. des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27.7.1992, BGBl I S. 1398).

Das Verwaltungsgericht ist in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum mit ihrem Sohn zusammengelebt und allein für seine Pflege und Erziehung gesorgt habe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Vorliegen dieser Voraussetzungen bei Müttern, die allein mit ihren Kindern zusammenleben, in der Regel angenommen werden kann (W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl. 2002, RdNr. 22 zu § 23). Der Umstand, dass die Klägerin pflegebedürftig ist und rund um die Uhr der Betreuung durch Pflegekräfte bedarf, ändert daran nichts. Denn die Annahme einer Alleinsorge im vorgenannten Sinne wäre nur dann auszuschließen, wenn eine andere Person die Klägerin so nachhaltig bei der Pflege und Erziehung der Kinder unterstützt hätte, wie es sonst der andere Elternteil zu tun pflegt (NdsOVG vom 22.7.1988 FEVS 38, 209 und vom 8.7.1997 FEVS 48, 24; OVG Berlin vom 6.6.1996 FEVS 47, 126; so auch: Mergler in Mergler/Zink, BSHG, Stand Mai 2002, RdNr. 29 zu § 23). Das ist hier jedoch, wie das Verwaltungsgericht auf der Grundlage der von ihm durchgeführten Beweiserhebung zutreffend festgestellt hat, gerade nicht der Fall. Denn die Anwesenheit von Pflegekräften in ihrem Haushalt hat die Klägerin nicht von ihrer "Sorgepflicht" gegenüber ihrem Sohn entlastet, weil diese Pflegekräfte gerade nicht die ansonsten vom anderen Elternteil mitgetragene Verantwortung für die Pflege und Erziehung des Kindes mit der Klägerin geteilt haben. Vielmehr hat die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum die Verantwortung für die Erziehung ihres Kindes alleine getragen und auch die entsprechenden Entscheidungen alleine getroffen. Dadurch hatte sie auch im Vergleich zu einer im gleichen Maße pflegebedürftigen allein stehenden Hilfeempfängerin, die kein Kind erzieht, einen Mehrbedarf im Sinne von § 23 Abs. 2 BSHG. Den insoweit zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist die Beklagte im Berufungsverfahren im übrigen auch nicht entgegengetreten.

Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht dagegen angenommen, der Klägerin stehe nur ein Anspruch auf 50 v.H. des Mehrbedarfszuschlags nach § 23 Abs. 2 Halbsatz 1 BSHG zu. Zwar sieht diese Regelung ausdrücklich vor, dass ein Mehrbedarf (nur) anzuerkennen ist, "soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht". Jedoch rechtfertigt die Tatsache, dass vorliegend der Klägerin Hilfe zur Pflege auch in Bezug auf ihre hauswirtschaftliche Versorgung bewilligt wurde, nicht eine Herabsetzung des Mehrbedarfszuschlages um 50 v.H.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Bundessozialhilfegesetz sowohl bei der Bemessung der laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt (§ 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG) als auch bei den Mehrbedarfstatbeständen (§ 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1a, Abs. 2 Halbsatz 1 und Abs. 3 Satz 1 BSHG) die Berücksichtigung eines abweichenden Bedarfs ausdrücklich vorsieht. Vor allem bei den genannten Mehrbedarfstatbeständen kann ein solcher abweichender Bedarf sowohl nach oben als auch nach unten berücksichtigt werden (W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., RdNr. 19 zu § 23; Wenzel in Fichtner, BSHG, 1. Aufl. 1999, RdNr. 3 zu § 23; Hofmann in LPK-BSHG, 5. Aufl. 1998, RdNr. 3 zu § 23). Voraussetzung für eine solche abweichende Festsetzung des Mehrbedarfs ist aber das Vorliegen einer sich aus den Besonderheiten des Einzelfalls ergebenden atypischen Bedarfslage. Die Lage der Alleinerziehenden muss sich mithin von der dem Gesetz vorschwebenden besonderen Situation grundlegend unterscheiden (OVG Berlin vom 6.6.1996 a.a.O. unter Bezugnahme auf die sich auf § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG beziehende Entscheidung des BVerwG vom 15.12.1994 BVerwGE 97, 232 = FEVS 45, 401 = DVBl 1995, 692 = NVwZ 1995, 1107 = NDV-RD 1996, 10). Eine solche atypische Bedarfslage kann vor allem dann angenommen werden, wenn bestimmte vom Mehrbedarf erfasste Aufwendungen im konkreten Einzelfall nicht entstehen (so OVG Berlin vom 6.6.1996 a.a.O. für den Fall, dass die Alleinerziehende für elektrische Energie in der Unterkunft nichts aufwenden muss) oder wenn es ansonsten zu Doppelleistungen käme (Wenzel in Fichtner, a.a.O., RdNr. 16 zu § 22; W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., RdNr. 19 zu § 23), weil die durch den Mehrbedarfstatbestand abzudeckenden Erschwernisse ganz oder teilweise durch eine andere Sozialleistung ausgeglichen werden (so zum altersbedingten Mehrbedarf gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 BSHG: OVG NRW vom 20.3.1991 NDV 1991, 268 = FEVS 42, 152).

Eine solche Situation liegt zur Überzeugung des Senats hier aber nicht vor. Etwas anderes kann insbesondere nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, dass der Klägerin (auch) im streitgegenständlichen Zeitraum von der Beklagten Hilfe zur Pflege gewährt wurde. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Hilfe zur Pflege ist gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 BSHG u.a. denjenigen Personen zu gewähren, die wegen einer körperlichen Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen in den Bereichen der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Dabei handelt es sich naturgemäß um eine höchstpersönliche Hilfe, die darauf ausgerichtet ist, den durch Krankheiten oder Behinderungen beeinträchtigten Hilfeempfänger bei der Ausführung der vorgenannten Verrichtungen zu unterstützen, anzuleiten oder zu beaufsichtigen bzw. diese Verrichtungen zu übernehmen (§ 68 Abs. 4 BSHG). Ziel der Hilfe zur Pflege ist mithin eine Milderung - im Idealfall ein Ausgleich - der konkret bestehenden Beeinträchtigung.

Hier gewährt die Beklagte der Klägerin seit Jahren Hilfe zur Pflege, wobei die angemessenen Kosten für Fremdpflege im Umfang von bis zu 24 Stunden täglich übernommen werden (hinsichtlich des streitgegenständlichen Zeitraums mit Bescheiden vom 8.7.1988, 15.5.1990, 8.1.1991, 20.8.1991, 14.1.1992, 28.12.1992, 16.12.1993 und 19.12.1994). Der Umfang der gewährten Hilfe zur Pflege orientierte sich dabei, wie sich aus den vorgenannten Bescheiden ergibt, allein an Art und Maß der Behinderung der Klägerin und nicht an ihrer familiären Situation. Anhaltspunkte dafür, dass die von der Beklagten gewährte Hilfe zur Pflege über das notwendige, d.h. durch ihre Behinderung gebotene Maß hinausgingen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Hilfe zur Pflege dient hier somit allein dem Zweck, die (alleinerziehende) Klägerin hinsichtlich der in § 68 Abs. 5 BSHG genannten, allein auf sie bezogenen Verrichtungen einer nichtbehinderten (alleinerziehenden) Person (annähernd) gleichzustellen, nicht jedoch die Klägerin in Einzelbereichen (z.B. in der hauswirtschaftlichen Versorgung) besser zu stellen, als eine nichtbehinderte (alleinerziehende) Person.

Es mag zwar sein, dass in einem Fall wie dem Vorliegenden, in dem dem Pflegebedürftigen aufgrund seiner Behinderung Hilfe zur Pflege rund um die Uhr bewilligt wurde, einem Kind des Hilfeempfängers gelegentlich auch Leistungen der Pflegekräfte zu Gute kommen oder dass die hauswirtschaftliche Versorgung auch in Bezug auf das Kind hilfreich sein kann. Dieser Umstand rechtfertigt jedenfalls hier jedoch keine auf § 23 Abs. 2 Halbsatz 1 BSHG gestützte Absenkung des Mehrbedarfs, für die im übrigen die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig wäre (Hofmann in LPK-BSHG, a.a.O., RdNr. 3 zu § 23). Denn hier liegt - ausgehend von dem oben dargelegten Sinn und Zweck der der Klägerin gewährten Hilfe zur Pflege einerseits und dem Mehrbedarf für Alleinerziehung andererseits - gerade keine objektiv abgrenzbare Doppelleistung im o.g. Sinne vor. Während die Hilfe zur Pflege - wie oben dargelegt - nämlich darauf abzielt, behinderungsbedingte Beeinträchtigungen des Hilfeempfängers auszugleichen, soll der Mehrbedarfszuschlag den vom Gesetzgeber vermuteten über den Regelsatz hinausgehenden Bedarf bei Alleinerziehenden (so: "Mehrbedarf nach §§ 23, 24 BSHG und Einkommensgrenzen nach §§ 79, 81 BSHG", Gutachtliche Äußerung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt/Main 1991, S. 11 f., 19) abdecken.

Der Senat vermag zudem nicht zu erkennen, dass die Klägerin aufgrund der - wie oben dargelegt - im Rahmen der Hilfe zur Pflege bewilligten hauswirtschaftlichen Versorgung durch Pflegekräfte deshalb keine zusätzlichen Belastungen durch ihr Kind gehabt haben soll, weil weder teurere Einkäufe aus Zeitmangel, noch ein höherer Bedarf an Haushaltsenergie durch zusätzliche (entlastende) Haushaltsgeräte oder zusätzliche Fahrtkosten vorgelegen hätten. So hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht unwidersprochen vorgetragen, ihren Sohn regelmäßig selbst in den Kindergarten gebracht und Besprechungstermine in Kindergarten und Schule selbst wahrgenommen zu haben. Gleiches gelte für die Wahrnehmung von Arztbesuchen. Auch hält der Senat die gesetzliche Vermutung eines über den Regelsatz hinausgehenden Bedarfs der alleinerziehenden Klägerin aufgrund der Zeugenaussagen vor dem Verwaltungsgericht nicht in dem Sinne für widerlegt, dass die Klägerin hinsichtlich der Kosten ihrer Einkäufe und ihres Bedarfs an Haushaltsenergie im Vergleich zu anderen Alleinerziehenden keinen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt war. Denn soweit der Zeuge ******* (unsubstantiiert) ausgeführt hat, "die Mehrarbeit hätten die Pfleger" erledigt (S. 8 der Niederschrift vom 26.11.1997, Bl. 100 der VG-Akte), haben die Zeugen ************ und ******* übereinstimmend erklärt, durch die 24-Stunden-Pflege habe die Klägerin gegenüber anderen Alleinerziehenden keine Erleichterung gehabt (so der Zeuge ************, S. 7 der Niederschrift vom 26.11.1997, Bl. 99 der VG-Akte) bzw. durch die Pflege sei nur die Behinderung der Klägerin ausgeglichen worden (so der Zeuge *******, S. 11 der Niederschrift vom 26.11.1997, Bl. 103 der VG-Akte). Damit sind die Feststellungen aber nicht geeignet, den vom Gesetzgeber hinsichtlich der Personengruppe der Alleinerziehenden wegen ihrer Lebensumstände vermuteten besonderen, d.h. über den Regelsatz hinausgehenden Bedarf zu widerlegen.

Abgesehen davon lassen sich die hier möglicherweise erbrachten, auch in Bezug auf die Erziehung des Kindes hilfreichen Leistungen der Pflegekräfte der Klägerin nach Ansicht des Senats nicht beziffern. Soweit das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung (S. 8 und 12 des UA) diese Leistungen mit 50 v.H. des Mehrbedarfs veranschlagt, beruht diese Annahme auf bloßen Vermutungen und lässt sich weder auf die Zeugenaussagen noch auf andere Erkenntnisquellen stützen. Das gilt um so mehr, als in der o.g. gutachterlichen Äußerung des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1991 zwar die allgemeine Feststellung enthalten ist, Haushalte von Alleinerziehenden hätten in mehreren Bereichen höhere Aufwendungen ("Mehrbedarf nach §§ 23, 24 BSHG und Einkommensgrenzen nach §§ 79, 81 BSHG", a.a.O., S. 21 f.). Dort wird aber ausdrücklich weiter festgestellt, dass aktuelle statistische Daten über Mehrbedarfszuschläge nicht vorlägen (ebda., S. 13). Damit scheidet aber der vom Verwaltungsgericht vorgenommene Rückgriff auf eine gutachterliche Äußerung des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1976 von vornherein aus.

b. Dem somit bestehenden Anspruch der Klägerin auf Gewährung des Mehrbedarfs für Alleinerziehende in voller Höhe für die Zeit vom 9. Januar 1989 bis zum 30. April 1995 steht nicht entgegen, dass es der Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" dem Sozialhilfeträger in aller Regel verbietet, für in der Vergangenheit liegende Zeiträume Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.

Zwar hängt das Einsetzen der Sozialhilfe als Hilfe in gegenwärtiger Not nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zunächst davon ab, dass im Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung noch ein Bedarf (fort-)besteht. Die gerichtliche Verpflichtung zu einer Sozialhilfeleistung setzt grundsätzlich weiter voraus, dass die Notlage, insbesondere der Hilfebedarf, auch noch zur Zeit der (letzten) tatrichterlichen Entscheidung (fort-)besteht. Ausnahmen hiervon hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch, insbesondere bei einer zwischenzeitlichen Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, immer in zwei Fallgestaltungen zugelassen: in Eilfällen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Sozialhilfeanspruchs willen und bei Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes willen (BVerwG vom 23.6.1994 BVerwGE 96, 152/154 f. = NVwZ 1995, 276 = DVBl 1994, 1314 = ZfSH/SGB 1994, 588 = FEVS 45, 138; BVerwG vom 31.8.1995 BVerwGE 99, 149/156 = NJW 1996, 2588 = DVBl 1996, 305 = DÖV 1996, 330 = FEVS 46, 221 = NDV-RD 1996, 46).

Dabei bedarf es hier keiner generellen Klärung, ob diese Ausnahmen auch dann greifen, wenn der Hilfesuchende, der nach Ablehnung seines Hilfebegehrens fristgerecht einen Rechtsbehelf eingelegt hat, seinen Bedarf wegen der rechtswidrig abgelehnten Hilfeleistung nicht decken konnte (so: W. Schellhorn/H. Schellhorn, a.a.O., RdNr. 42 zu § 4; SächsOVG vom 26.11.1997 DÖV 1998, 392 f. = FEVS 48, 462/465; OVG Saarl vom 22.9.2000 Juris-Dokument MWRE 108670100; a.A.: Grube, NVwZ 2002, 1458/1460; ders., NDV 1999, 184/186 f.; OVG NRW vom 20.6.2001 NJW 2002, 1665 = FEVS 53, 84 = ZfSH/SGB 2001, 666; HessVGH vom 20.12.1993 info also 1994, 152; NdsOVG vom 24.6.1992 FEVS 43, 161; die Frage offen lassend: Fichtner in Fichtner, a.a.O., RdNr. 8 zu § 5; Paul, ZfF 2002, 217/220). Denn nach Ansicht des Senats steht der Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" einer rückwirkenden Bewilligung von Sozialhilfe jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die begehrte Sozialhilfeleistung - wie hier der Mehrbedarf für Alleinerziehende - anspruchsbegründend nur voraussetzt, dass der Hilfesuchende mit einem Kind unter sieben Jahren zusammenlebt und allein für dessen Pflege und Erziehung sorgt (so: Rothkegel, ZfSH 2002, 585/590). Dieser Mehrbedarfstatbestand bezieht sich nämlich auf die Bedarfssituation einer Personengruppe (Alleinerziehende), bei denen der Gesetzgeber, wie hier, auf Grund ihrer Lebensumstände einen besonderen, über den Regelsatz hinausgehenden Bedarf vermutet, ohne dass im Einzelfall die Entstehung bzw. das Bestehen eines individuellen Hilfebedarfs erforderlich ist. Zudem zeichnen sich die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe nach § 23 Abs. 2 BSHG gerade im vorliegenden Fall durch eine Dauerhaftigkeit aus.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

3. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Ende der Entscheidung

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