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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.09.2006
Aktenzeichen: 12 BV 04.3588
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86 Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 2
SGB VIII § 86 c
SGB VIII § 89 c Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 BV 04.3588

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilferechts;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 24. November 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Boese

ohne mündliche Verhandlung am 6. September 2006

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 24. November 2004 wird die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für von ihm in der Zeit vom 1. Januar bis 31. März 2004 aufgewendeten Jugendhilfeleistungen.

1. Die am 27. Dezember 1988 geborene N.S. lebte nach der Trennung ihrer Eltern im April 1998 bei ihrer Mutter in Bad E., während der Vater seit der Trennung in der Gemeinde B. wohnt. Beide Gemeinden liegen im Zuständigkeitsbereich des Klägers.

Auch nach der Scheidung im Dezember 2001 stand das Sorgerecht den Eltern gemeinsam zu. Auf deren Antrag gewährte der Kläger mit Bescheid vom 24. Juli 2002 Hilfe zur Erziehung in Form der Übernahme der Kosten der Unterbringung von N.S. im Kinderheim "Schöne Aussicht" in Rosenheim ab 2. Juni 2002. Die Hilfeleistung dauert an.

2. Die Mutter von N.S. verzog zum 1. Januar 2004 nach T. im Bereich des Beklagten. Unter Hinweis auf dessen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 SGB VIII bat der Kläger den Beklagten um Übernahme des Hilfefalls und Kostenerstattung gemäß § 89 c SGB VIII. Das lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 13. Februar 2004 und auch in der Folgezeit ab, weil der Kläger nach § 86 Abs. 5 SGB VIII zuständig geblieben sei.

3. Auf die entsprechende Klage hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, dem Kläger die im Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis 31. März 2004 für N.S. erbrachten Jugendhilfeleistungen zu erstatten. Der Beklagte sei dem Kläger nach § 89 c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 86 c Satz 1 SGB VIII zur Erstattung verpflichtet, weil er im fraglichen Zeitraum (nach Zuständigkeitswechsel) zuständig gewesen sei und der Kläger im Rahmen der fortdauernden Zuständigkeit nach § 86 c SGB VIII vorläufig geleistet habe. Die Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich aus § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII, weil die Eltern von N.S. verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt hätten. Auch wenn beide im Zuständigkeitsbereich des Klägers gewohnt hätten, komme § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB und damit auch § 86 Abs. 5 SGB VIII nicht zur Anwendung, weil es sich - entgegen oberverwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung und der herrschenden Literaturmeinung - insoweit doch um verschiedene gewöhnliche Aufenthalte im Sinne des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gehandelt habe.

4. Mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung begehrt der Beklagte die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts und die Abweisung der Klage. Die Eltern von N.S. hätten beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Klägers gehabt. In diesem Fall sei die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu bestimmen mit der Folge, dass erst durch den Umzug der Mutter nach T. verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Elternteile begründet worden seien und die bisherige Zuständigkeit des Klägers - weil die Personensorge beiden Elternteilen weiter gemeinsam zustand - nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII bestehen geblieben sei.

Der Kläger ist der Berufung entgegengetreten. Er verteidigt das angegriffene Urteil. Bei der vorliegenden speziellen Fallkonstellation verbiete sich ein Rückgriff auf die Grundzuständigkeit des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Die Eltern hätten nach ihrer Trennung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte, wenn auch im Bereich des Klägers, gehabt. Deshalb sei die insoweit speziellere Regelung des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII anzuwenden.

5. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen (§ 125 Abs. 1, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Über sie wird nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden, weil der Verwaltungsgerichtshof sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Das Berufungsverfahren weist insbesondere keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht auf (vgl. dazu BVerwGE 121, 211). Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, weil dem Kläger der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zusteht.

1. Der Kläger kann seinen Anspruch nicht auf den allein in Betracht kommenden § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII stützen. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 c aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Nach § 86 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Umzug der Mutter von N.S. nach T. brachte keinen Zuständigkeitswechsel mit sich. Der Kläger ist vielmehr weiter zuständig geblieben. Er hat deshalb im Erstattungszeitraum nicht im Rahmen seiner fortdauernden Leistungsverpflichtung nach § 86 c SGB VIII geleistet.

Unstreitig lag die örtliche Zuständigkeit für die Leistung bis 31. Dezember 2003 beim Kläger. In Streit steht nur, ob sich diese aus der Grundzuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ergeben hat, oder - weil die Eltern von N.S. bis 31. Dezember 2003 unterschiedliche Wohnsitze im Bereich des Klägers hatten - nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, wovon das Verwaltungsgericht ausgeht. Ersteres trifft zu. Für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch ist gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Beide Elternteile von N.S. hatten bis zum 31. Dezember 2003 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich desselben örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, nämlich des Klägers. Einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern verlangt § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht (vgl. OVG Koblenz vom 26.2.2003 NDV-RD 2003, 122). Die Zuständigkeit nach dieser Vorschrift ist also auch dann gegeben, wenn die Eltern keinen gemeinsamen, sondern einen getrennten Haushalt führen, wobei dieser auch an verschiedenen Orten bestehen kann, wenn diese Orte nur im Zuständigkeitsbereich des gleichen örtlichen Trägers liegen (vgl. Kunkel in LPK- SGB VIII, 2. Aufl. 2003, RdNr. 15 zu § 86 m.w.N.; Reisch in: Jans/Happe/Saur-bier/Maas, Kinder- und Jugendhilferecht, Art. 1 KJHG RdNrn. 17, 42, 66, zu § 86; Münder u.a., FK-SGB VIII, RdNr. 6 zu § 86; Grube in Hauck/Noftz, SGB VIII, RdNr. 9 zu § 86). Der Verwaltungsgerichtshof teilt diese in Rechtsprechung und Literatur herrschende Meinung (vgl. BayVGH jeweils vom 1.9.2005 12 B 02. 1164 und 12 B 02.2455). § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII knüpft an die biologische (natürliche) Elternschaft an. Unerheblich ist deshalb, ob die Eltern miteinander verheiratet sind (Wiesner, SGB VIII, RdNr. 11 zu § 86; Reisch, a.a.O., RdNr. 4 zu § 86). Sie müssen daher auch nicht zusammen leben. Die Eltern müssen nur im Bereich desselben örtlichen Trägers wohnen. Nach der als allgemeine Legaldefinition herangezogenen Begriffsbestimmung des "gewöhnlichen Aufenthalts" in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I ist mit den Worten "Ort oder in diesem Gebiet" der räumliche Verantwortungsbereich des jeweiligen örtlichen Trägers gemeint. Dieses Ergebnis ergibt sich auch aus dem Zusammenhang mit Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift. Diese Regelung betrifft den Fall einer Konkurrenz mehrerer Jugendämter. Eine solche Konkurrenz kann im Rahmen des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nur bestehen, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte im Bereich verschiedener Jugendämter haben. Haben die Eltern - wie hier - unterschiedliche Wohnsitze im Bereich desselben örtlichen Trägers, liegt eine Konkurrenz mehrerer Jugendämter nicht vor, so dass § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII keine Anwendung finden kann. Für die vom Verwaltungsgericht vorgenommene und vom Kläger geteilte (gegenteilige) Auslegung des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist deshalb kein Raum. Im Übrigen war es gerade der Zweck der Neuregelung der örtlichen Zuständigkeit, jeden interpretatorischen Spielraum bei der Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften zu vermeiden (Regierungsbegründung - BT-Drs. 12/2866/1992). Das gilt insbesondere auch soweit das Verwaltungsgericht und der Kläger auf die Entstehungsgeschichte des § 86 SGB VIII und vor allem auf § 85 KJHG a.F. zurückgreifen. Dabei wird übersehen, dass im Vergleich mit der Fassung des § 85 KJHG von 1990 die alten Regelungen für Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zwar in ihren Grundzügen übernommen, aber auch Tatbestände erstmals geregelt worden sind. So ist bei verschiedenen Aufenthalten der Eltern vor Leistungsbeginn nicht mehr der überwiegende Aufenthalt eines Kindes oder Jugendlichen bei einem Elternteil (§ 85 Abs. 1 Satz 2 KJHG), sondern das Personensorgerecht wesentliches Kriterium (vgl. § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Diese (abweichende) Anknüpfung an das Personensorgerecht bringt aber als Voraussetzung für die Anwendung des § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit sich, dass die Elternteile bereits bei Beginn der Leistung den gewöhnlichen Aufenthalt jeweils im Bereich verschiedener Jugendhilfeträger haben.

Daraus folgt, dass - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit im vorliegenden Fall auf § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht zurückgegriffen werden kann. Voraussetzung für dessen Anwendung ist eben, dass die Elternteile bereits bei Beginn der Leistung den gewöhnlichen Aufenthalt jeweils im Bereich verschiedener örtlicher Jugendhilfeträger haben (vgl. Reisch, a.a.O., RdNr. 26 zu § 86; Münder u.a., a.a.O., RdNr. 7 zu § 86).

Erst mit dem Umzug der Mutter von N.S. in den Bereich des Beklagten zum 1. Januar 2004 haben die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII begründet. Da die Personensorge aber weiterhin beiden Elternteilen gemeinsam zusteht, blieb die bisherige Zuständigkeit des Klägers nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII bestehen. Ein Wechsel in der Zuständigkeit im Sinne des § 89 c Abs. 1 Satz 1 und § 86 c SGB VIII hat nicht stattgefunden.

Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Mutter von N.S. ihren gewöhnlichen Aufenthalt am 1. April 2004 wieder im Bereich des Klägers genommen hat. Sie hat damit einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII begründet, so dass der Kläger (weiter) für die Leistung örtlich zuständig ist (Reisch, a.a.O., RdNr. 66). Dem hat der Kläger mit der Begrenzung des Erstattungszeitraumes auf den 31. März 2004 auch entsprochen.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf eine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine ohnehin nur in geringer Höhe angefallenen außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu vollstrecken.

3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.600 € festgesetzt (§§ 47, 52 Abs. 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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