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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 28.06.2005
Aktenzeichen: 12 CE 05.1287
Rechtsgebiete: SGB VIII, SGB IX, SGB XII, GVG


Vorschriften:

SGB VIII § 41
SGB IX § 14 Abs. 2 Satz 1
SGB XII § 54
GVG § 17 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

12 CE 05.1287

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilferechts (Antrag nach § 123 VwGO);

hier: Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 21. April 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 28. Juni 2005

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 21. April 2005 wird der Antragsgegner im Weg der einstweiligen Anordnung verpflichtet, von Juni 2005 bis November 2005 die Kosten für ein Selbständigkeitstraining des Antragstellers durch einen Psychotherapeuten mit sechs Behandlungseinheiten pro Woche zu übernehmen.

II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Antragsteller und der Antragsgegner je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

IV. Dem Antragsteller wird in dem unter Nr. 1 dargestellten Umfang Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. W, Nürnberg, beigeordnet. Im übrigen wird der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt, den Antragsgegner als Jugendhilfeträger im Weg der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für Trainingsmaßnahmen zur Förderung seiner Selbständigkeit im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige zu übernehmen.

Der 1985 geborene Antragsteller, der an einem Asperger-Syndrom leidet, erhielt vom Antragsgegner in den Jahren 1997 bis 2000 Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII. Im Anschluss daran absolvierte er im Berufsbildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte eine Ausbildung zum Technischen Zeichner, die er im Januar 2005 beendete. Seitdem wohnt er in einer Wohnung in der Nähe seiner Mutter, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, die Betreuung des autistischen Antragstellers zu bewältigen, zumal sie sich ab April 2005 in stationäre Behandlung begeben musste. Bis zur Aufnahme in einer Einrichtung für betreutes Einzelwohnen wird der Antragsteller durch Trainingsmaßnahmen eines Psychotherapeuten bei der Arbeitssuche und der selbständigen Bewältigung von Alltragsproblemen unterstützt. Der Psychotherapeut hielt in seiner Stellungnahme vom 4. März 2005 eine Verselbständigung des Antragstellers in etwa zwei Jahren für erreichbar. Derzeit sei ein Aufwand von etwa sechs Behandlungseinheiten pro Woche erforderlich. Mit Schreiben vom 8. Februar 2005 beantragte die Mutter für ihren Sohn beim Jugendamt des Antragsgegners Hilfe für junge Volljährige. Mit Schreiben vom 8. März 2005 leitete das Jugendamt den Antrag an die Sozialhilfeverwaltung mit der Begründung weiter, eine Hilfe nach § 41 SGB VIII scheide aus, weil der Antragsteller auf unabsehbare Zeit eine Betreuung benötige. Mit Schreiben vom 17. März 2005 leitete die Sozialhilfeverwaltung des Antragsgegners den Antrag an den überörtlichen Sozialhilfeträger weiter, der den Antrag mit dem Hinweis zurückgab, dass für den Antragsteller Hilfe für junge Volljährige in Betracht komme.

Den Eilantrag des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. April 2005 abgelehnt, weil innerhalb des von § 41 SGB VIII vorgesehenen Zeitrahmens der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung nicht abgeschlossen werden könne.

Zur Begründung seiner Beschwerde führt der Antragsteller im wesentlichen aus, dass er nach Auffassung seines Psychotherapeuten bei entsprechender Betreuung innerhalb von zwei Jahren eine überwiegend selbständige Lebensführung erreichen könne. Sollte er im Eilverfahren keinen Erfolg haben, würde der Psychotherapeut, der bisher den Antragsteller ohne Kostenberechnung betreut habe, seine Dienste einstellen.

Er beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 21. April 2005 den Antragsgegner im Weg der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab 1. April 2005 vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Hilfe für junge Volljährige zu gewähren.

Gleichzeitig beantragt der Antragsteller, ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

1. Die zulässige Beschwerde hat teilweise Erfolg.

1.1 Soweit der Antragsteller die Übernahme der Trainingskosten ab dem 1. April 2005 und damit für einen Zeitraum vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs begehrt, fehlt es an einem Anordnungsgrund (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Denn die Verpflichtung einer Behörde zur Gewährung von Leistungen, die vergangene Zeiträume betreffen, ist im Regelfall nicht dringlich.

1.2 Im übrigen hat der Antragsteller aber einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X), zu dessen Realisierung er nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden kann, weil sein Psychotherapeut nicht länger bereit ist, das Honorar für seine Betreuungsleistungen zu stunden.

1.2.1 Dem unstreitig seelisch behinderten Antragsteller ist Hilfe für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu gewähren. Dass der Antragsteller, dessen soziale Kommunikationsfähigkeit durch seine Erkrankung beeinträchtigt ist, möglicherweise für nicht absehbare Zeit auf Unterstützung angewiesen ist, ändert nichts daran, dass ihm Hilfe für junge Volljährige zusteht. § 41 SGB VIII verlangt keine Prognose, dass die Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs oder bis zu einem begrenzten Zeitraum darüber hinaus erreicht wird. Die Hilfe, die nach dem gesetzlichen Wortlaut für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt wird, ist nicht notwendig auf einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auf einen Fortschritt im Entwicklungsprozess bezogen (vgl. BVerwGE 109, 325). Nachdem der Psychotherapeut des Antragstellers eine Verselbständigung des Antragstellers in zwei Jahren für erreichbar hält, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Hilfe von Anfang an keinen Erfolg verspricht (vgl. OVG NRW vom 20.2.1997 NVwZ-RR 1998, 315).

Da der Antragsgegner über den Antrag des Antragstellers innerhalb angemessener Zeit nicht entschieden und damit den ihm nach § 36 Abs. 2 SGB VIII zustehenden Beurteilungsspielraum über den im Einzelfall bestehenden Bedarf sowie die geeigneten und notwendigen Hilfeleistungen nicht ausgeschöpft hat, macht der Verwaltungsgerichtshof im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes von der Befugnis Gebrauch, trotz des bestehenden Beurteilungsspielraums den Antragsgegner zu einer bestimmten Handlung zu verpflichten (vgl. BayVGH vom 7.8.2003 FSt. 2004 Nr. 96). Nach der Stellungnahme des den Antragsteller betreuenden Psychotherapeuten reichen derzeit sechs Behandlungseinheiten pro Woche für die Betreuung und das Training mit dem Antragsteller aus. Der Verwaltungsgerichtshof beschränkt den Verpflichtungszeitraum auf ein halbes Jahr, damit nach Unterbringung des Antragstellers im Rahmen des betreuten Einzelwohnens erneut über den aktuellen Hilfebedarf entschieden werden kann.

1.2.2 Darüber hinaus hätte die Beschwerde aber auch dann in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang Erfolg, wenn dem Antragsteller ausschließlich Leistungen nach §§ 53 ff. SGB XII zustünden. Da der im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII behinderte Antragsteller beim Jugendamt des Antragsgegners, einem Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft beantragt und das Jugendamt diesen Antrag nicht innerhalb von 15 Tagen nach Eingang an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet hat (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX), ist das Jugendamt für die Gewährung der Rehabilitationsleistungen zuständig geworden ungeachtet der Frage, ob es sich um Leistungen nach dem Jugendhilferecht oder nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch handelt (vgl. BSG vom 26.10.2004 SozR 4-3250 § 14 Nr. 1, BayVGH vom 1.12.2003 NDV-RD 2004, 113 und vom 3.3.2005 Az. 12 CE 04.2180). Auch wenn Leistungen auf Sozialhilfe im Regelfall nur vor den Sozialgerichten erstritten werden können, haben die Verwaltungsgerichte, die für die Gewährung von Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Jugendhilfeträger zuständig sind, in den Fällen, in denen ein Jugendhilfeträger nach § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in Anspruch genommen wird, nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten und damit auch unter Anwendung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch zu entscheiden.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und § 154 Abs. 2 VwGO.

3. Dem Antragsteller ist Prozesskostenhilfe nur in dem sich aus Nummer 1 des Tenors ergebenden Umfang zu gewähren, weil sein Rechtsschutzbegehren nur insoweit hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten hat (§ 166 VwGO, § 114 ZPO). Auf die Begründung in Nummer 1.2.1 wird Bezug genommen.

4. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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