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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 13.11.2003
Aktenzeichen: 15 B 02.31751
Rechtsgebiete: AsylVfG, AuslG


Vorschriften:

AsylVfG § 77 Abs. 1
AuslG § 51 Abs. 1
AuslG § 53 Abs. 1
AuslG § 53 Abs. 4
AuslG § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG § 53 Abs. 6 Satz 2
AuslG § 54
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

15 B 02.31751

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Verfahrens nach dem AsylVfG;

hier: Berufung der Beklagten und und Anschlussberufung des Beteiligten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. Oktober 2002,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 15. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Happ, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jerger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Wünschmann

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 13. November 2003

am 13. November 2003

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. Oktober 2002 wird die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten der Verfahren in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 von Hundert des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1. Der nach seinen Angaben am 3. Februar 1982 in Jalaula geborene und dort wohnhaft gewesene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er beantragte am 16. April 2002 Asyl.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Bundesamt - lehnte mit Bescheid vom 21. Juni 2002 den Asylantrag ab, verneinte das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG und forderte den Kläger unter Androhung seiner Abschiebung auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu verlassen. Der Sachvortrag des Klägers sei realitätsfremd und unglaubwürdig. Selbst bei einer Herkunft aus dem Zentralirak müsse sich der Kläger auf den Nordirak als inländische Fluchtalternative verweisen lassen.

Am 2. Juli 2002 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Bundesamtsbescheids vom 21. Juni 2002 zu der Feststellung zu verpflichten, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise die des § 53 AuslG, vorliegen. Bei einer Rückkehr in den Irak drohe ihm politische Verfolgung.

Mit Urteil vom 10. Oktober 2002 verpflichtete das Verwaltungsgericht Ansbach die Beklagte zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG unter Aufhebung der Regelungen der Nummern II. bis IV. des Bundesamtsbescheids vom 21. Juni 2002. Dem Kläger drohe wegen seiner illegalen Ausreise, seiner Asylantragstellung und seines Verbleibens im Ausland bei einer Rückkehr politische Verfolgung. Der Nordirak komme nicht als inländische Fluchtalternative in Frage, weil eine dortige Existenzmöglichkeit nicht belegt sei.

2. Mit Beschluss 16. Dezember 2002, der Beklagten zugestellt am 2. Januar 2003, ließ der Senat die Berufung der Beklagten zu. Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten legte am 8 Januar 2003 eine Anschlussberufung mit dem Antrag ein, unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgericht Ansbach vom 10. Oktober 2002 die Klage abzuweisen.

Die Beklagte sowie der Bundesbeauftragte beantragen

unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. Oktober 2002 Klageabweisung.

Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Berufungen.

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschrift vom 13. November 2003 sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen sind begründet.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom Ansbach vom 10. Oktober 2002 ist unter Berücksichtigung der nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgebenden gegenwärtigen Sachlage im Ergebnis unzutreffend. Die Klage ist abzuweisen.

1. Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Begriff des Verfolgten im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG ist, was die Verfolgungsmaßnahmen, die geschützten Rechtsgüter und den politischen Charakter der Verfolgung angeht, mit dem entsprechenden Begriff in Art. 16 a Abs. 1 GG identisch (vgl. BVerwG vom 18.2.1992 DÖV 1992, 582). Politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung durch Zufügung gezielter Rechtsverletzungen, die den Betroffenen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzt (vgl. BVerfG vom 10.7.1989 BVerfGE 80, 315/345). Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG greift - weitergehend - auch dann ein, wenn politische Verfolgung wegen eines asylrechtlich nicht beachtlichen Nachfluchtgrundes droht.

2. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Irak keine politische Verfolgung.

Die politische Situation im Irak hat sich durch die am 20. März 2003 begonnenen und am 2. Mai 2003 weitgehend beendeten Militäraktionen einer Koalition unter Führung der USA grundsätzlich verändert. Das Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Macht über den Irak verloren. Die Militäraktionen führten zur Auflösung der staatstragenden Organisationen und Institutionen dieses Regimes wie beispielsweise der Baath Partei, der Republikanischen Garde, der Armee und der Geheimdienste. Saddam Hussein und seine Familie und die Angehörigen der früheren Staatsführung werden von den USA weltweit gesucht. Über 30 von ihnen sind bereits festgenommen worden oder haben sich gestellt. Damit ist der größte Teil der früheren Regierungsmitglieder und der maßgebenden Träger staatlicher Gewalt getötet, verhaftet, untergetaucht oder geflohen (Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak des Auswärtigen Amtes vom 6.11.2003, Stand: Oktober 2003, - LB - , S. 2 f.).

Der Irak steht landesweit unter Besatzungsrecht und wird derzeit von einer "Zivilverwaltung" der Koalition (Coalition Provisional Authority), der CPA, regiert, die sich vor allem auf 170.000 Soldaten aus den USA und Großbritannien stützen kann. Hinzu kommen Militär- und Polizeikontingente aus 36 weiteren Staaten (vgl. LB, S. 2). Der Neuaufbau der Verwaltungsstrukturen wird maßgebend vom Leiter der CPA bestimmt (vgl. LB, S. 3). Als erster Schritt zum Aufbau einer Übergangsregierung wurde ein provisorischer 25-köpfiger Regierungsrat ("Transistory Governing Council") berufen, der sich aus Vertretern aller Bevölkerungsschichten, Ethnien und Glaubensrichtungen zusammensetzt und von einer unter den Ratsmitgliedern rotierenden Präsidentschaft geführt wird. Der US-Zivilverwalter hat sich bei allen Entscheidungen dieses Gremiums ein Veto-Recht vorbehalten. Der Übergangsrat hat u. a. die Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten sowie allgemeine und freie Wahlen vorzubereiten (vgl. LB, S. 4). Er ernannte Anfang September 2003 ein 25-köpfiges Interimskabinett, das den politischen und konfessionellen Proporz des Übergangsrates widerspiegelt. Die Ministerien werden faktisch von einem "senior advisor" geleitet, den die CPA stellt (vgl. LB, S. 5). Es gibt keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass Saddam Hussein oder Angehörige seines früheren Regimes in absehbarer Zeit in der Lage sein könnten, sich neu zu formieren und staatliche Verfolgungsmaßnahmen zu veranlassen (vgl. auch NdsOVG vom 14.8.2003 -20 A 430/02.A-; SächsOVG vom 28.8.2003 AuAS 2003, 250; OVG SH vom 28.10.2003 -1 LB 41/03).

Dem Kläger droht bei einer Rückkehr wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise keine politische Verfolgung mehr. Derartige früher gefahrbegründende Verstöße haben ihre Bedeutung verloren, weil ihr damals gefährdender Charakter entscheidend auf dem Unrechtsregime Saddam Husseins beruhte (vgl. Urteile des Senats vom 22.5.2000 -15 B 98.31916- und vom 9.10.2002 -15 B 99.32230-).

3. Abschiebungsschutz kann der Kläger auch nicht nach § 53 Abs.1 und § 53 Abs. 4 AuslG i. V. m. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II, S. 686) - EMRK - beanspruchen. Dem Kläger droht nach den politischen Verhältnissen im Irak weder derzeit noch in absehbarer Zukunft eine vom irakischen Staat oder einer staatsähnlichen Organisation ausgehende oder zu verantwortende Misshandlung (vgl. 2. und BVerwG vom 2.9.1997 NVwZ 1999, 311).

4. Der Kläger kann auch Abschiebungsschutz nicht aufgrund sonstiger Bestimmungen erlangen.

a) § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt voraus, dass für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die vorgenannten Rechtsgüter zu werden. Gefordert ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines derartigen Eingriffs. Das Element der Konkretheit der Gefahr setzt eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erheblichen Gefährdungssituation voraus (BVerwG vom 17.10.1995 InfAuslR 1996, 149). Hieran fehlt es.

Auch wenn man unterstellt, dass der Kläger wahrheitsgemäß berichtet hat, ergibt sich daraus keine konkrete Gefahr im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Die Sicherheitsdienste sind aufgelöst. Im Fall einer Neugründung ist maßgebend, dass der Kläger an der (behaupteten) Ermordung des Angehörigen des Sicherheitsdienstes nicht beteiligt gewesen ist und er in der Haft kein Geständnis abgelegt hat. Zudem wurde er aus der Haft entlassen. Damit fehlt es auch an Anknüpfungspunkten für eine Blutrache.

b) Die allgemeine Sicherheits- und die Versorgungslage im Irak begründet keine konkrete, individuell bestimmte Gefahr im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Es handelt es sich um allgemeine Gefahren im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, denen die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, und die im Grundsatz nur aufgrund einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 54 AuslG zur Aussetzung der Abschiebung führen können. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfasst allgemeine Gefahren im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG auch dann nicht, wenn sie den Kläger konkret und in individualisierbarer Weise treffen würden (vgl. BVerwGE 99, 324).

c) Auch eine extreme allgemeine Gefahrenlage, die eine entsprechende Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gebietet, besteht nicht. Bei einer derartigen Gefahrenlage ist § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG wegen der verfassungsrechtlichen Garantien aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungskonform auszulegen: Die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG greift nicht; es darf wegen § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht abgeschoben werden (BVerwG a.a.O. S. 328). Das ist der Fall, wenn es die obersten Landesbehörden unterlassen haben, von ihrer Ermächtigung aus § 54 AuslG Gebrauch zu machen, obwohl der einzelne Ausländer im Falle seiner Abschiebung wegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (BVerwG a.a.O.).

Lebensbedrohliche Gefährdungen treten im Irak nur punktuell an Orten auf, die potenzielle Ziele für terroristische Anschläge bieten (vgl. LB, S.8 ff.). Gefährdet sind nach dem derzeitigen Stand in erster Linie Einheiten der Besatzungstruppen, mit ihnen zusammenarbeitende Politiker und ausländische oder internationale Organisationen. Selbst diese Organisationen schätzen die Sicherheitslage nicht durchweg so negativ ein, dass sie die Sicherheit ihrer Mitarbeiter extrem bedroht sehen (vgl. Die Welt vom 29.10.2003 "Helfer sind verunsichert - dennoch kein Rückzug geplant"; Neue Zürcher Zeitung vom 30.10.2003 "Das IKRK bleibt im Irak"). Die Besatzungstruppen bemühen sich intensiv um eine Verbesserung der Lage.

Auch die allgemeine Versorgungslage ist nicht so kritisch, dass ein Rückkehrer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren (Hunger-)Tod ausgeliefert werden würde (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 26.1.1999 InfAuslR 1999, 265). Die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung hatte sich nach Kriegsbeginn zwar zeitweilig verschlechtert. Das "Oil-for-Food" - Programm wurde jedoch nach Beendigung der Kampfhandlungen wieder aufgenommen, so dass eine spürbare Entspannung eingetreten ist, und soll auch nach dem 21. November 2003 von der Besatzungsbehörde CPA bis auf weiteres unverändert fortgeführt werden (vgl. LB, S. 10). Auch das Deutsche Orient Institut (DOI) sieht die Versorgung mit Lebensmitteln gewährleistet und geht von einer faktischen Verlängerung des "Oil-for-Food" - Programms mit Modifikationen aus. Dabei sind die vorhandenen Versorgungsstrukturen übernommen worden, so dass weiterhin auf örtlicher Ebene eine Lebensmittelverteilung stattfindet. Zu bedrohlichen Hungerkrisen ist es bisher nicht gekommen (DOI, a. a. O., S. 7 f.). Auch wenn die Wasserversorgung teilweise als kritisch zu bewerten ist, kann nicht von einer "Wasserkatastrophe" gesprochen werden, die zu einer existenziellen Gefährdung führen würde. Punktuelle Engpässe werden behoben und es wird intensiv an der der Wiederherstellung einer funktionierenden Wasserversorgung gearbeitet (LB, S. 10; DOI, a. a. O., S. 8 f.).

Im Übrigen finden Rückkehrer vielfach Aufnahme und Hilfe durch die Familie und Sippe (LB, S. 13). Gründe, die beispielsweise gegen eine Rückkehr an seinen Herkunftsort sprechen könnten, gab der Kläger nicht an und sind auch sonst nicht ersichtlich.

5. Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

6. Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

7. Gründe für die Zulassung der Revision gibt es nicht (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Ende der Entscheidung

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