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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 14.11.2007
Aktenzeichen: 23 B 07.30496
Rechtsgebiete: AufenthG, AsylVfG


Vorschriften:

AufenthG § 60
AsylVfG § 73
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

23 B 07.30496

Verkündet am 14. November 2007

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Verfahrens nach dem AsylVfG;

hier: Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 5. April 2007,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 23. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Friedl, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Beuntner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Reinthaler

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. November 2007

am 14. November 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am *** *** **** in Bagdad geborene Klägerin zu 1 - folgend die Klägerin - ist Mutter der dort am ** ****** **** und ** ******* **** geborenen Kläger zu 2 und 3 sowie der am ** ****** **** ebenfalls in Bagdad geborenen Klägerin zu 4. Die Kläger sind irakische Staatsangehörige arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischer Religion. Sie reisten mit dem am ** **** **** in Kerkuk geborenen Ehemann der Klägerin Ende November 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragten Asyl.

Hierzu gab die Klägerin gegenüber dem Bundesamt unter anderem an, ihr erster Ehemann sei im Irak hingerichtet worden. Deswegen habe ihre 1984 in Bagdad aus dieser Ehe geborene Tochter, die sich noch beim Vater der Klägerin in Bagdad aufhalte, nicht die Schule besuchen dürfen. Ihren jetzigen Ehemann habe sie am 25. September 1989 geheiratet und sie sei von da an als Hausfrau tätig gewesen. Zur Zeit der Geburt des ersten Kindes, des Klägers zu 2, sei der Ehemann inhaftiert gewesen. Zehn Jahre hätten sie in Frieden gelebt, bis ihrem Ehemann vorgeworfen worden sei, zusammen mit einem Dritten bei staatlichen Versteigerungen zu betrügen. Sie sei deswegen zwei Tage inhaftiert worden, um, wie sie annehme, als Druckmittel gegen ihren Mann eingesetzt zu werden. Nach ihrer Freilassung seien die Kläger und der Ehemann der Klägerin aus dem Irak ausgereist und auf dem Landwege in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Mit Bescheid vom 25. Januar 2002 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger und des Ehemannes der Klägerin ab, stellten jedoch fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Nach vorheriger Anhörung der Kläger widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 6. Oktober 2004 die mit Bescheid vom 25. Januar 2002 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 AuslG vorliegen bezüglich der Kläger (Nr. 1 des Bescheidstenors) und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheidstenors).

Hiergegen erhoben die Kläger Klage mit dem Antrag, den Bescheid vom 6. Oktober 2004 aufzuheben, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht teilte die Klägerin mit, sie lebe in Scheidung. Das Scheidungsverfahren mit ihrem Ehemann sei jedoch derzeit ausgesetzt, weil dieser sich in der Justizvollzugsanstalt befinde. Er sei angeklagt, in Deutschland als Unterstützer der terroristischen Vereinigung Ansar-al-Islam im Irak tätig gewesen zu sein. Er werde auch im Irak als Terrorist bzw. Terrorverdächtiger geführt. Im Falle ihrer Rückkehr würde sie sofort verhaftet werden, insbesondere um von ihr Informationen über ihren Noch-Ehemann zu erhalten, denn über diesen sei bisher nur wenig bekannt. Der Tatvorwurf beziehe sich auf die Jahre 2003 bis 2005. Damals habe sie noch mit ihrem Ehemann zusammengelebt. Dieser solle von Deutschland aus die Terroristen im Irak unterstützt haben. Die Gefahr betreffe auch die Kinder im gleichen Maße, den ältesten Sohn ganz besonders.

Mit Urteil vom 5. April 2007 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamtes vom 6. Oktober 2004 auf. Das Bundesamt habe die Feststellungen zu Abschiebungsverboten zu Unrecht widerrufen, da die Kläger jetzt und in absehbarer Zukunft einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG bezüglich des Iraks besäßen. Unabhängig von früher erlittener Verfolgung drohe zurückkehrenden Irakern nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, die anknüpfe an die Religionszugehörigkeit und gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat zum Teil nicht Willens, jedenfalls aber nicht in der Lage sei. Ungeachtet der religiösen Minderheiten drohenden erhöhten Verfolgungsgefahr aufgrund des wachsenden Islamismus drohe eine solche Verfolgung auch Sunniten und Schiiten, wechselseitig verübt von jeweils militanten Vertretern der gegnerischen Religion, wobei nach Angaben des Auswärtigen Amtes sogar direkte staatliche Verfolgung durch im Auftrag des Innenministeriums tätige Todesschwadronen schiitischer Glaubenszugehörigkeit stattfänden, die gezielt Sunniten ausfindig machten, in ihre Gewalt brächten und im Regelfall nach grausamen Misshandlungen töteten. Daneben fänden zahlreiche geplante und zielgerichtete Überfälle und Morde an Mitgliedern der jeweils anderen Glaubensrichtung statt. Diese Gefährdung bestehe im erheblich gesteigerten Maße für aus dem Ausland zurückkehrende Iraker, wie etwa aus Deutschland abgeschobene oder freiwillig zurückkehrende Asylbewerber. Eine innerstaatliche Fluchtalternative im kurdisch verwalteten Nordirak komme nicht in Betracht, weil die Kläger nicht aus diesem früheren Autonomiegebiet stammten und dorthin auch keine familiären Bindungen besäßen. Außerdem werde der Noch-Ehemann der Klägerin im Irak der Unterstützung islamischer Terrorgruppen verdächtigt, sitze deshalb in Deutschland in Haft und sei angeklagt, wobei der Leiter des Geheimdienstes PUK im Prozess in Deutschland als Zeuge vernommen worden sei. Auch deswegen drohe den Klägern im Falle einer Rückkehr in den Irak - ungeachtet der Probleme einer allein erziehenden Mutter und ihren Kindern - mögliche Verfolgung in Form von Sippenhaft und Folter durch die kurdischen oder irakischen Sicherheitsorgane im Irak.

Im vom Senat auf Antrag der Beklagten zugelassenen Berufungsverfahren wendet sich diese gegen die Feststellungen des Verwaltungsgerichts bezüglich der Gruppenverfolgung von Schiiten und Sunniten und der gesteigerten Gefährdung von Rückkehrern in den Irak. Sie verweist auf anders lautende Urteile bayerischer Verwaltungsgerichte und bezieht sich auf ihren angefochtenen Bescheid.

Die Beklagte beantragt,

das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten, die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und die von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 6. Oktober 2004 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, weil ihnen wegen ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht und eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht besteht. Das Verwaltungsgericht hat daher zu Recht die Widerrufsbescheide aufgehoben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) am 1. Januar 2005 wurde unter anderem durch das Aufenthaltsgesetz das bisherige Ausländergesetz (AuslG) vom 9. Juli 1990 abgelöst und das Asylverfahrensgesetz in einigen Vorschriften geändert. Verbote der Abschiebung politisch Verfolgter bzw. Abschiebungshindernisse gemäß § 51 Abs. 1 und § 53 AuslG werden nunmehr in § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG geregelt. Die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) findet sich in § 60 a AufenthG (bisher § 54 AuslG).

Das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) änderte unter anderem das Aufenthaltsgesetz und das Asylverfahrensgesetz, wobei auch § 60 AufenthG und § 73 AsylVfG neu gefasst wurden.

Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Ab. 1 Satz 2 AsylVfG). In Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 73 Abs. 1 AsylVfG muss die asylrelevante Verfolgungsgefahr objektiv entfallen sein, d. h., die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse müssen sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn die Asylanerkennung oder die Gewährung von Abschiebungsschutz von Anfang an rechtswidrig war. Ändert sich hingegen im Nachhinein lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, rechtfertigt dies den Widerruf nicht, selbst wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder neu erstellten Erkenntnismitteln beruht (BVerwG vom 25.8.2004 DÖV 2005, 77; vom 19.9.2000 BVerwGE 112, 80 = NVwZ 2001, 335). Bei bereits erlittener Vorverfolgung darf ein Widerruf nur erfolgen, wenn sich weitere Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausschließen lassen (BVerwG vom 24.11.1998 DVBl 1999, 544 = InfAuslR 1999, 143). Droht dem anerkannten Flüchtling im Falle des Widerrufs bei Rückkehr in seinem Heimatstaat keine Verfolgungswiederholung, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, ist der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden (BVerwG vom 18.7.2006 DVBl 2006, 1512 = InfAuslR 2007, 33). Von einem Widerruf ist nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - BAMF - besaß bei dem von ihm gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes erlassenen Verwaltungsakt keinen Ermessensspielraum, sondern hatte eine gebundene Entscheidung zu treffen (BVerwG vom 1.11.2005 DVBl 2006, 511 = BayVBl 2006, 409).

Davon ausgehend hat das Bundesamt zu Unrecht seine Feststellungen zu Abschiebungsverboten widerrufen.

Die Kläger haben nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und in absehbarer Zukunft bezogen auf den Irak weiterhin einen Anspruch auf Abschiebungsschutz, nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Denn soweit diese Vorschrift die Voraussetzungen für den Abschiebungsschutz politisch Verfolgter weiter fasst als die Vorgängerregelung in § 51 Abs. 1 AuslG, wirkt sich dieser übergreifende Schutz zu Gunsten der Kläger aus.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt wurden. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).

Anders als bei Art. 16 a Abs. 1 GG, der grundsätzlich nur Schutz vor staatlicher Verfolgung gewährt, kann Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von

a) dem Staat,

b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder

c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Danach ist auch die Verfolgung der Sunniten im Irak durch nichtstaatliche Akteure in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets erforderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen (BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.).

§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG erfasst dabei schon seinem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen. Weiter müssen die Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure - je für sich, soweit sie auf unterschiedliche Gruppen gerichtet sind, oder zusammen, soweit sie sich gegen dieselbe Personengruppe richten - auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen, um eine private Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu können. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund wertender Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (vgl. BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O., auch zu weiteren Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG vom 5.11.1991 NVwZ 1992, 582) liegt eine Verfolgungsgefahr vor, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der Gesamtumstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage eines Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannter Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise (vgl. BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.) nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Würdigung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (BVerwG vom 5.11.1991 a.a.O.). Dabei ist infolge der Gesetzesänderung allerdings zu berücksichtigen, dass der Asylberechtigte oder anerkannte Flüchtling nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates, hier des Irak, in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG).

Gemessen an diesen Grundsätzen haben die Kläger zwar wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr im Irak zu befürchten. Ihnen drohen aber durch nichtstaatliche Akteure allein wegen ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere Eingriffe wie Ermordung, Verstümmelung oder andere schwere asylrelevante Rechtsverletzungen (Gruppenverfolgung).

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Wie den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zu entnehmen ist, hat das frühere Regime Saddam Husseins durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA seine politische und militärische Herrschaft über den Irak endgültig verloren. Der Irak stand zunächst unter Besatzungsrecht und wurde von einer Übergangsbehörde (Coalition Provisionel Authoritiy - CPA) verwaltet. Den Neuaufbau der Verwaltungsstrukturen bestimmte maßgeblich der Leiter der US-Zivilverwaltung, der die tragenden Institutionen des früheren Regimes wie die Armee, das Verteidigungsministerium, die Republikanischen Garden und die Baath-Partei aufgelöst hat.

Seit dem 28. Juni 2004 ist der Irak formell wieder souverän. Die Zivilverwaltung wurde aufgelöst, ein Nationalrat gebildet und eine Übergangsregierung installiert. Während dieser nur eingeschränkte Vollmachten und keine Kompetenz zum Treffen langfristiger Entscheidungen zugestanden wurde, blieben die von den USA geführten Koalitionstruppen bis auf weiteres für die Sicherheit zuständig. Die irakische Bevölkerung nahm am 15. Oktober 2005 in einem Referendum die neue irakische Verfassung an. Die Verfassung bestimmt, dass der Irak ein demokratischer föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat sein soll. Der Islam ist Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung. Art. 3 Satz 1 der Verfassung verankert die multi-ethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak, Satz 2 betont den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 41 und Art. 2 Abs. 2 legen fest, dass Wahl und Ausübung der Religion frei sind. Nicht umfasst ist jedoch die Freiheit zu missionieren. Art. 2 Abs. 2 erwähnt ausdrücklich Christen, Yeziden, Sabäer und Mandäer neben Moslems (Auswärtiges Amt, Lagebericht - AALB - vom 19.10.2007 S. 16, vom 11.1.2007 S. 20). Die Verfassung enthält einen umfassenden Menschenrechtskatalog und garantiert eine Frauenquote von 25 % im Parlament. Am 15. Dezember 2005 fanden im Irak Parlamentswahlen statt. Dabei erhielten die Vereinigte Irakische Allianz (Schiiten) als stärkste Kraft 47 %, das Kurdische Bündnis ca. 19 %, die Irakische Front der Eintracht (Sunniten) ca. 16 %, die Nationale Irakische Liste (Säkulare) ca. 9 %, die Irakische Dialogfront (Sunniten) ca. 4 % sowie sonstige Gruppen ca. 5 % der Stimmen. Nach Abschluss langwieriger Koalitionsverhandlungen wählte das Parlament am 20. Mai 2006 Nuri Al-Maliki von der Schiitenallianz zum Ministerpräsidenten. Mit dem Antritt seiner Regierung, an welcher fast alle politischen Gruppierungen beteiligt sind, ist der politische Übergangsprozess im Irak formal abgeschlossen. Das aus 40 Amtsträgern bestehende Kabinett spiegelte in seiner Zusammensetzung den ethnisch-konfessionellen Proporz wieder, auf den sich die Parteien bei der Bildung der Regierung der Nationalen Einheit einigen konnten. Das Parlament wählte am 22. April 2006 den amtierenden Staatspräsidenten Dschalal Talabani erneut zum Staatsoberhaupt.

Seit dem Antritt der Regierung von Ministerpräsident Al-Maliki intensivierten sich die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten und es herrscht politischer Stillstand. Parlament und Regierung sind handlungsunfähig. Mächtige Parteichefs lassen sich nicht in das Kabinett einbinden. Am 16. April 2007 legten die Minister der Sadr-Bewegung ihre Ämter nieder, die bislang nicht nachbesetzt worden sind. Immer wieder kommt es zu Boykotten der Parlamentsarbeit durch verschiedene Fraktionen. Der Einfluss der in sich zerrissenen Regierung auf die tatsächliche Entwicklung im Lande ist äußerst gering; sie ist nur ein Machtfaktor unter vielen (AALB vom 19.10.2007 S. 9). Die Gesamtzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle erhöhte sich von etwa 100 pro Tag Ende 2005 auf täglich 200 bis zum Ende des Jahres 2006, wobei die Schwerpunkte der interkonfessionellen Auseinandersetzungen Bagdad und der Zentralirak sind. Insgesamt hat sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert und ist auf ihrem bisherigen Tiefpunkt angelangt. Die Menschenrechtslage ist prekär und der Staat kann den Schutz seiner Bürger nicht gewährleisten (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 5 und 9, vom 11.1.2007 und 29.6.2006 jeweils S. 5).

Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung irakischer Staatsangehöriger durch dessen Regime nicht mehr möglich. Der Ex-Diktator wurde festgenommen, zum Tode verurteilt und am 30. Dezember 2006 hingerichtet. Weder von den Koalitionstruppen noch von der irakischen Regierung haben Exiliraker Gefährdungen zu erwarten. Der Ausschluss von Verfolgungsmaßnahmen ihnen gegenüber ist, jedenfalls für die im Zeitpunkt der Entscheidung absehbare Zukunft, als dauerhaft anzusehen, weil trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak für eine Änderung der Situation zum Nachteil der Klagepartei kein Anhalt besteht. Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs wird es im Irak in überschaubarer Zeit nicht mehr zur Errichtung eines Regimes ähnlich dem des gestürzten Machthabers Saddam Hussein kommen, wo rechtstaatliche Prinzipen und Menschenrechte missachtet wurden. Mit hinreichender Sicherheit ist ausgeschlossen, dass sich eine Staatsgewalt neu etablieren könnte, von welcher Irakern in Anknüpfung an das gegen das untergegangene Regime von Saddam Hussein angeblich gerichtete eigene Tun Übergriffe drohen würden.

Allerdings droht zurückkehrenden Irakern sunnitischen Glaubens nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Religion, gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat oder staatsähnliche Organisationen nicht in der Lage sind.

Bemühungen um Schaffung eines neuen irakischen Staatsgebildes geschahen und geschehen in einem wachsenden Umfeld gewalttätiger Übergriffe und terroristischer Anschläge. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden, was auch Anfang Juli 2004 zum Erlass eines Notstandsgesetzes geführt hat. Sie ist geprägt durch Tausende terroristische Anschläge und durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Schwerpunkt der Anschläge fundamentalistischer Gruppen und militanter Opposition sind Bagdad und der Zentralirak. Aber auch im Nord- und Südirak geschehen Anschläge mit zum Teil verheerenden Folgen. Wie bereits ausgeführt erhöhte sich die Gesamtzahl der bekannt gewordenen sicherheitsrelevanten Vorfälle bis Ende 2006 auf 200 täglich. Ziel dieser Anschläge einer irakischen Guerilla sind nicht nur die irakischen Regierungsorgane und die Koalitionstruppen, sondern auch alle Einrichtungen und Personen, die mit der irakischen Regierung und den von den USA geführten Koalitionstruppen zusammen arbeiten oder in den Verdacht einer solchen Zusammenarbeit geraten. Dabei werden nicht nur Mitglieder der Regierung, Provinzgouverneure, UN-Mitarbeiter und Angehörige ausländischer nichtstaatlicher Organisationen und Firmen ins Visier genommen, sondern auch Angehörige der irakischen Streitkräfte und der irakischen Polizei sowie Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der Regierung zusammenarbeiten. Mitarbeiter irakischer Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Anschlägen (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 20, vom 11.1.2007 S. 15 f., vom 2.11.2004; Deutsches Orient-Institut - DOI - vom 31.1.2005 zu Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger mit christlicher Religionszugehörigkeit). Selbst Bewerber um Arbeit bei der Verwaltung in den Sicherheitsdiensten werden nicht verschont. Auch wenn nach wie vor Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, die irakischen Sicherheitskräfte, Politiker, Offizielle und Ausländer das Hauptanschlagsziel der Terroristen sind, trägt die weitgehend ungeschützte irakische Zivilbevölkerung den Großteil der Opferlast (AALB vom 11.1.2007). Die allgemeine Kriminalität ist stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Überfälle und Entführungen sind an der Tagesordnung. Im Irak marodierende Todesschwadronen, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Extremisten, entführen Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe und erschießen sie (Frankfurter Rundschau - FR - vom 14.9.2006). Landesweit ereignen sich konfessions-motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen und Entführungen der jeweilig anderen Glaubensrichtung. Das US-Militär hat den Westen des Irak (Provinz Al Anbar) militärisch für verloren gegeben; US-Truppen sollen nicht mehr in der Lage sein, die Aufständischen zu besiegen (FR vom 29.11.2006 unter Berufung auf einen Bericht der US-Marineinfanterie). Staatlicher Schutz gegen Übergriffe militanter Opposition, Todesschwadronen und irakischer Guerilla kann nicht erlangt werden; eine Verfolgung von einzelnen Straftaten findet so gut wie nicht statt (AALB vom 19.10.2007 S. 20). Ziel der in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge, die sich auf öffentliche Plätze und Märkte erstrecken, ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren (AALB vom 11.1.2007, vom 24.11.2005, vom 2.11.2004, DOI vom 31.1.2005).

Mit dem Anschlag vom 22. Februar 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den Vergeltungsaktionen in der Folge nähert sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Im Laufe des Jahres 2006 hat die Gewalt im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wiederholt brannten sunnitische und schiitische Moscheen. Straßenzüge in Bagdad und weiteren größeren Städten wie Mosul, Tikrit und Kerkuk werden von Milizen kontrolliert; dazu gehört die Vertreibung der jeweiligen konfessionellen Minderheit bis hin zu gegenseitigen Tötungsorgien. Im Oktober 2006 wurden 90 sunnitische Araber in Balad umgebracht und Hunderte von Sunniten aus der Stadt gejagt (AALB vom 19.10.2007 S. 21). Immer wieder kommt es zu Massenentführungen von Mitgliedern beider Konfessionen, die Entführten werden gefoltert und ermordet. Schiitische Akteure führen willkürlich Razzien in sunnitischen Vierteln und Nachbarschaften von Städten und Ortschaften durch und entsenden Todesschwadronen, möglicherweise mit Unterstützung des Innenministeriums. Sowohl die irakische Armee als auch die Polizei und andere Sicherheitskräfte sind schiitisch dominiert. Verbreitet sind Selbstmordanschläge in Bussen. Zur Nachtzeit überfallen in Polizei- oder Armeeuniformen gekleidete Personen überwiegend sunnitisch bewohnte Städte und Stadtviertel. Nicht wenige der im Zuge dieser Razzien inhaftierten Sunniten werden wenig später gefesselt und erschossen, mit Spuren von Folter und Misshandlungen, auf der Straße gefunden (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 21, Europäisches Zentrum für kurdische Studien - EZKS - vom 12.5.2007, UNHCR vom 8.10.2007 sowie die zahlreichen zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Presseberichte).

Die Gewalt und die schwierigen Lebensbedingungen haben zu einer Flüchtlingswelle großen Ausmaßes in die Nachbarländer geführt. Die Flucht erfolgt vor allem aus der Süd- und Zentralregion, Hauptaufnahmeländer sind Syrien (bis 1,2 Mio Flüchtlinge) und Jordanien (ca. 750.000) sowie im geringen Umfang Iran (50.000), Ägypten (80.000), Libanon (20.000 bis 40.000) und andere Golfstaaten. Im Herbst dieses Jahres flüchteten monatlich allein bis zu 30.000 Iraker nach Syrien. Die Zahl der Binnenvertriebenen ist auf 2,2 Millionen gestiegen. Noch immer sollen monatlich etwa 60.000 Iraker ihre Heimat verlassen (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 15).

Eine detaillierte Feststellung von Anzahl und Intensität aller solcher Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Sunniten (17 bis 22 % der irakischen Bevölkerung), gegen die im Zentralirak Schutz weder von staatlichen Stellen noch von nichtstaatlichen Herrschaftsorganisationen zu erlangen ist, ist ebenso wenig möglich wie eine Inbeziehungsetzung zur Größe der betroffenen Gruppe (vgl. hierzu BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.). Weder ist die genaue Zahl der derzeit noch im Irak lebenden sunnitischen Bevölkerung ermittelbar, noch ist es möglich exakte Erkenntnisse über das zahlenmäßige Ausmaß der asylrelevanten Übergriffe zu gewinnen. Weitere Aufklärung kommt nicht in Betracht, weil das Auswärtige Amt aufgrund der desolaten Sicherheitslage im Irak nicht in der Lage ist, Amtshilfeersuchen der Verwaltungsgerichte zu bearbeiten (AA vom 17.8.2006). Aus den einschlägigen beigezogenen Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass bei weitem nicht alle Anschläge und Übergriffe dieser Art bekannt werden und dass auch nicht alle bekannt gewordenen in den Medien veröffentlicht werden. Die vorhandenen Berichte über zahlreiche einzelne Vorfälle lassen jedoch nach Überzeugung des Senats darauf schließen, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen werden. Die genaue Anzahl der seit dem Jahr 2003 im Irak getöteten Sunniten ist ebenso wenig feststellbar wie die Gesamtanzahl der im Irak getöteten Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sollen im Lauf des Jahres 2006 über 34.452 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben sein, weitere 36.685 seien verwundet worden. Auch im ersten Halbjahr des Jahres 2007 kamen monatlich Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben; viele Entführte sind verschwunden. Immer wieder werden Leichen (auch von sunnitischen Gläubigen) gefunden. Insgesamt 4,2 Millionen Iraker befinden sich auf der Flucht (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 4).

Ein verständiger irakischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens wird bei Abwägung aller Umstände auch die besondere Schwere des zu befürchtenden Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtungen einbeziehen, wie es das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 5. November 1991 (a.a.O.) verdeutlicht hat. Aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Sunniten aus dem Irak macht es bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er sich z. B. im öffentlichen Leben nur schiitischen Gepflogenheiten unterwerfen muss oder aber Folterung, Verstümmelung, Misshandlungen, Vertreibung oder Ermordung durch nichtstaatliche und teils auch staatliche Akteure zu riskieren hat. Diese Überlegungen stellen aber nicht nur viele Sunniten im Irak an. Ansonsten würden nicht 60.000 Iraker monatlich ihrem Heimatland den Rücken kehren (AALB vom 19.10.2007 S. 15). Dies macht die hohe Zahl von Flüchtlingen ins Ausland und im Inland ("Umsiedlungen") verständlich.

Die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen aus jüngster Zeit, wie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2007, die Stellungnahme des UNHCR vom 8. Oktober 2007 und des EZKS vom 12. Mai 2007 verdeutlichen dem Senat eine zunehmende asylrelevante Verfolgung der Sunniten durch Schiiten, insbesondere in Anbetracht der Schwere der zu befürchtenden Übergriffe. Die Sunniten im Irak, und damit auch die Klagepartei im Falle einer Rückkehr dorthin, sind demzufolge nach Überzeugung des Senats nicht nur von den allgemeinen Verhältnissen, sondern insbesondere als Gruppe von den Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure in schweren asylerheblichem Maße betroffen.

Den Klägern ist im Nordirak eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht eröffnet (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Auch für die Gruppenverfolgung gilt, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.).

Der Senat hat zu Zeiten der Schreckensherrschaft Saddam Husseins in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass für irakische Staatsangehörige aus dem Zentralirak die "autonomen" kurdischen Provinzen nur dann eine Fluchtalternative darstellen, wenn sie dort zum einen mangels politischer Exponiertheit vor dem Zugriff des zentralirakischen Staates ausreichend sicher sind und zum anderen aufgrund familiärer oder klientelistischer Verbindungen ihr wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist (vgl. statt vieler BayVGH vom 6.6.2002 Az. 23 B 02.30536 und vom 14.12.2000 Az. 23 B 00.30256).

Die Verhältnisse haben sich insoweit, was Flüchtlinge aus dem Zentralirak ohne Bindungen zum Nordirak betrifft, nicht geändert (vgl. Senatsurteil vom 8.2.2007 Az. 23 B 06.31052 u. a.). Eine Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach Überzeugung des Gerichts zumutbar allenfalls Irakern möglich, wenn sie von dort stammen und ihre Großfamilie/Sippe dort ansässig ist (vgl. DOI vom 13.11.2006). Andere Personen aus dem Zentralirak oder dem Südirak stoßen in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohnraum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Eine Umsiedlung aus dem Zentralirak oder Südirak in den Nordirak ermöglicht den Betroffenen nicht, ein normales Leben ohne unzumutbare Härten zu führen (UNHCR vom 8.10.2007, vom 6.2.2007). Seit 2005 wächst die Unzufriedenheit der einheimischen Bevölkerung mit der kurdischen Verwaltung und deren Fähigkeit, die Bereitstellung grundlegender Versorgungsdienste, insbesondere der Wasser-, Brennstoff- und Energieversorgung zu verbessern. Zusätzliche Belastungen erwachsen den ohnehin nur eingeschränkt funktionsfähigen Versorgungssystemen durch die große Anzahl der Binnenvertriebenen in den drei nördlichen Provinzen, wodurch wiederum die Aufnahmekapazitäten in dieser Region drastisch begrenzt werden (UNHCR vom 6.2.2007).

An diesen Verhältnissen gemessen ist den Klägern eine Rückkehr in den Nordirak nicht zumutbar. Sie kommen aus Bagdad. Diese Stadt war ihr Lebensmittelpunkt. Über familiäre oder andere Beziehungen in den Nordirak verfügen sie nicht. Davon abweichende Tatsachen hat die Beklagte auch nicht behauptet. Eine Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist allenfalls Irakern möglich, wenn sie von dort stammen und über familiäre oder stammesmäßige Verbindungen verfügen (vgl. auch UNHCR vom 8.10.2007 S. 15 f., DOI). Wie das Verwaltungsgericht in seinem Urteil bereits betont hat, wären die Kläger - ungeachtet der Probleme einer alleinerziehenden Mutter mit ihren Kindern - möglicher Verfolgung in Form von Sippenhaft und Folter durch die kurdischen oder irakischen Sicherheitsorgane im Irak ausgesetzt.

Eine Fluchtalternative gibt es auch nicht innerhalb des Zentraliraks (AALB vom 19.10.2007 S. 23, UNHCR vom 8.10.2007 S. 15). Sunnitische Flüchtlinge laufen Gefahr, wenn sie sich in überwiegend sunnitischen Vierteln größerer Städte niederlassen, mit dortigen sunnitischen Aufständischen in Konflikt zu geraten. Sunnitische Familien, die aus schiitischen Gebieten vertrieben worden sind, werden immer wieder verdächtigt, Spione zu sein oder mit der irakischen Regierung oder den Koalitionstruppen zusammenzuarbeiten. Zudem finden sie keine ausreichende Lebensgrundlage, wenn sie nicht über besondere Beziehungen zu den im Ausweichbereich lebenden Menschen verfügen (vgl. EZKS vom 12.5.2007 S. 23).

Somit kann den Klägern nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Irak nicht zugemutet werden.

Das Verwaltungsgericht hat daher zu Recht den Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Oktober 2004 einschließlich der Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, aufgehoben. Das Abschiebeverbot besteht nunmehr in seiner Ausgestaltung nach § 60 Abs. 1 AufenthG weiter. Die Kläger können den Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht in Anspruch nehmen (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), weil es diesen Schutz gegen nichtstaatliche Akteure, die Sunniten verfolgen, im Irak nicht gibt. Einer Entscheidung über subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG bedarf es daher nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG kostenfrei.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Beschluss:

In Änderung des am 14. November 2007 verkündeten Beschlusses und des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 5. April 2007 wird der Gegenstandswert für jeden Rechtszug auf jeweils 4.200,-- € festgesetzt (§ 63 Abs. 3 GKG, § 83 b Abs. 2 AsylVfG a.F., § 30 RVG), weil die Kläger bereits im Jahre 2004 ihre Klagen erhoben hatten (vgl. BVerwG vom 21.12.2006 BayVBl 2007, 378).

Ende der Entscheidung

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