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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 03.03.2006
Aktenzeichen: 25 B 00.1493
Rechtsgebiete: BauGB, BayVwVfG


Vorschriften:

BauGB § 11 Abs. 3 a.F.
BayVwVfG Art. 39 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

25 B 00.1493

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Verbot der Inkraftsetzung eines Bebauungsplans;

hier: Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. Februar 2000,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 25. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dachlauer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Petz

ohne mündliche Verhandlung am 3. März 2006

folgendes Urteil:

Tenor:

I. In Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. Februar 2000 wird der Bescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 16. September 1998 aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Geltendmachung von Rechtsverstößen durch die höhere Verwaltungsbehörde bei der Anzeige eines Bebauungsplans nach altem Recht (§ 11 Abs. 3 BauGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 8.12.1986, BGBl I S. 2253, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.1996, BGBl I S. 2049, im Folgenden: BauGB a.F.).

Die klagende Gemeinde hatte ihren Bebauungsplan "Borngasse" nach mehreren Änderungen des Entwurfs in der Entwurfsfassung vom 9. Mai 1995 mit Gemeinderatsbeschluss vom 17. Februar 1998 als Satzung beschlossen und durch ihren ersten Bürgermeister am 20. Mai 1998 ausgefertigt. Der Bebauungsplan setzt auf einer Fläche von 1,26 ha ein Dorfgebiet fest und sieht dort neben einzelnen bereits bestehenden Gebäuden einige eingeschoßige neue Wohnhäuser vor. Das Baugebiet wird unter anderem durch eine ca. 95 m lange Stichstraße erschlossen. Die dort geplanten 10 Wohngebäude wurden mittlerweile plangemäß errichtet.

Mit Anzeige vom 15. Juni 1998, eingegangen am 17. Juni 1998, legte die Klägerin dem Landratsamt Aschaffenburg den Bebauungsplan vor. Dieses erließ daraufhin folgenden, am 17. September 1998 zugestellten Bescheid vom 16. September 1998:

I. Nach § 11 Abs. 3 BauGB wird eine Verletzung von Rechtsvorschriften mit folgender Maßgabe nicht geltend gemacht:

Anlage eines Wendehammers in der Erschließungsstraße "B" aus verkehrstechnischen Gründen.

II. Der Bebauungsplan darf nicht nach § 12 BauGB a.F. in Kraft gesetzt werden.

Zur Begründung wurde ausgeführt, den von den Trägern öffentlicher Belange gestellten Forderungen sei weitgehend entsprochen worden. Eine Verletzung von Rechtsvorschriften sei nicht geltend zu machen gewesen. Zur Maßgabe sei festzustellen, der in einer früheren Entwurfsfassung vorgesehene Wendehammer in der Erschließungsstraße "B" sei ohne fachliche Begründung wieder herausgenommen worden. Gemäß EAE 85 Nr. 5.2.1.9 sei wenigstens eine Wendeanlage Typ 1 erforderlich. Nach Anerkennung der Maßgabe und entsprechender Änderung und Wiederholung der notwendigen Verfahrensabschnitte sei der Bebauungsplan mit Begründung erneut dem Landratsamt vorzulegen.

Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Die Maßgabe stelle eine auflösende Bedingung dar, die als milderes Mittel unbedenklich sei. Der Bescheid enthalte auch eine ausreichende Begründung. Wenn auch Rechtsvorschriften nicht genannt wurden, könne die Behörde nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die erforderliche Begründung nachträglich geben und erst recht nachträglich ergänzen. Im gerichtlichen Verfahren habe der Beklagte die Rechtsvorschriften zitiert, welche verletzt seien (§ 1 Abs. 5 Nrn. 1 und 8 BauGB a.F.). Auf diese Vorschriften habe sich der Beklagte zu Recht berufen. Außerdem sei Art. 9 Abs. 1 Satz 2 BayStrWG einschlägig, wonach die Träger der Straßenbaulast die Straßen in einem dem gewöhnlichen Verkehrsbedürfnis und den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung genügenden Zustand zu bauen und zu unterhalten haben. Die planerische Gestaltungsfreiheit der Klägerin finde hier ihre Grenze, nach Auffassung der Kammer sei die Planung rechtlich nicht mehr vertretbar. Die vom Beklagten herangezogenen Richtlinien definierten die rechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs. Die von der Klägerin herangezogenen Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seien nicht in jeder Hinsicht vergleichbar, auch habe die Motorisierung weiter zugenommen. Jedenfalls sei ein Abwägungsfehler gegeben, weil wichtige Belange, welche für den Wegfall einer Wendemöglichkeit sprechen könnten, nicht zu erkennen seien. Der Klägerin sei es offensichtlich nur um das private Interesse, keine oder nur geringe Flächen abtreten zu müssen, gegangen. Die Kammer sehe sich nicht in der Lage, eine Planung rechtlich abzusegnen, welche nicht nur kurzsichtig erscheine, sondern auch Risiken in sich berge.

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und beantragt sinngemäß, den Bescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 16. September 1998 aufzuheben.

Sie trägt vor, in dem angefochtenen Bescheid sei nicht ordnungsgemäß die Verletzung von Rechtsvorschriften geltend gemacht worden. Die Benennung von Rechtsfehlern könne auch nicht nachgeholt werden, weil hierzu eine gesetzliche Frist von drei Monaten einzuhalten sei. Die angesprochenen verkehrstechnischen Gründe stellten Zweckmäßigkeitsüberlegungen dar, welche die Planungshoheit der Klägerin nicht einschränken dürften. Es sei im vorliegenden Fall auch nicht zwingend geboten gewesen, die Stichstraße mit einem Wendehammer zu versehen. Sie sei weniger als 100 m lang und erschließe lediglich 10 Grundstücke, von denen die beiden Eckgrundstücke im vorderen Bereich zusätzlich noch durch eine weitere Erschließungsanlage erschlossen würden. Es bestehe nur Anliegerverkehr, Lieferverkehr könne unter Zuhilfenahme der Privatgrundstücke im gesamten Bereich wenden, so dass niemand zum Rückwärtsfahren gezwungen sei.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, und verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Die Verwendung auflösender Bedingungen bei der Geltendmachung von Rechtsverletzungen sei zulässig und entspreche dem Willen des historischen Gesetzgebers. Die Abwägung der Klägerin zu den Fragen der straßenmäßigen Erschließung des Baugebiets habe nicht den Anforderungen des Abwägungsgebots nach § 1 Abs. 6 BauGB a.F. entsprochen. Die Gemeinde habe sich dabei an Art. 9 Abs. 1 Satz 2 BayStrWG zu orientieren, dessen Vorgaben durch die EAE 85/95 konkretisiert würden. Danach seien Wendeanlagen am Ende von Stichstraßen nur erforderlich, wenn Gehwegüberfahrten nicht mitbenutzt werden könnten. Die Belange der Straßenreinigung und der Müllabfuhr seien angemessen zu berücksichtigen. Diese Empfehlungen habe die Klägerin nicht berücksichtigt.

Die Parteien haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Wegen ihres Vorbringens im Einzelnen sowie wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen. Vorgelegen und Gegenstand der Entscheidung waren zwei Aktenheftungen des Landratsamtes Aschaffenburg zum Bebauungsplan "Borngasse" und zwei Leitzordner der Klägerin zum Bebauungsplan "Borngasse", Nrn. 1 bis 24.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§ 124 Abs. 1, § 124 a Abs. 5 und 6 VwGO) ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Behörde stützt den Bescheid auf den im vorliegenden Fall noch anwendbaren § 11 Abs. 3 BauGB a.F. (i.d.F. der Bekanntmachung des Gesetzes vom 8.12.1986, BGBl I S. 2253, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.12.1996, BGBl I S. 2049; vgl. § 233 Abs. 1 Satz 1 BauGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 27.8.1997, GVBl I S. 2141). Danach hatte die höhere Verwaltungsbehörde - in Bayern gemäß § 203 Abs. 3 BauGB a.F., § 2 Abs. 4 ZustVBau vom 5.7.1994, GVBl S. 573, das Landratsamt; von der entsprechenden Fortgeltung der letztgenannten Vorschrift im maßgeblichen Zeitraum geht der Senat zur Vermeidung einer ungewollten Zuständigkeitsänderung für die Altfälle aus, weil die Vorschrift durch § 1 Nr. 5 Buchst. a der Änderungsverordnung vom 1.1.1998, GVBl S. 1, offensichtlich versehentlich übergangslos das Anzeigeverfahren nicht mehr regelte - innerhalb von drei Monaten nach Eingang der Anzeige des Bebauungsplans die Verletzung von Rechtsvorschriften geltend zu machen. Der Bebauungsplan durfte nur in Kraft gesetzt werden, wenn die höhere Verwaltungsbehörde die Verletzung von Rechtsvorschriften nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht hatte. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier nicht gegeben, weil in dem Bescheid keine bestimmten Rechtsvorschriften benannt wurden, gegen die der Bebauungsplan verstößt.

Der Bescheid nennt keine Rechtsvorschriften, sondern nur die Empfehlungen für die Anlage von Erschließungsstraßen (Ausgabe 1985), EAE 85, der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, von denen er einen dreiseitigen Auszug als Anlage enthält. Bei diesen Empfehlungen, die seit Juni 1995 in einer aktualisierten Ausgabe vorliegen (EAE 85/95), handelt es sich um ein fachliches Regelwerk, das auf Initiative des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in Abstimmung mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden erarbeitet wurde und eine verbesserte Verknüpfung von verkehrlichen und städtebaulichen Gesichtspunkten bei der Anlage von Erschließungsstraßen ermöglichen soll (vgl. EAE 85/95, Vorwort). Die Empfehlungen verstehen sich vorrangig als konzeptionelle Entscheidungshilfen für die Vor- und Entwurfsplanung der beauftragten Architekten; bei ihrer Anwendung ist nach ihrem eigenen Verständnis wegen der vielfältigen Anforderungen an Straßenverkehrsanlagen innerhalb bebauter Gebiete und der schwer regelbaren Besonderheiten des Einzelfalles kein starrer Maßstab anzulegen (EAE 85/95, Geltungsbereich, Blatt 2). Schon die Gewichtung der zwei Hauptfunktionen des Straßenraums ist im Einzelfall unterschiedlich und führt oft zu Zielkonflikten, die im Planungs- und Entwurfsprozess gelöst werden müssen (EAE 85/95, 1. städtebauliche Ziele und Grundsätze). Das zeigt, dass die Empfehlungen fachlich nicht zwingend sind und damit auch nicht normkonkretisierend für gesetzliche Gebote wie z.B. Art. 9 Abs. 1 Satz 2 BayStrWG oder § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 8 BauGB a.F. sein können. Sie gehen vielmehr als eine Entscheidungshilfe in den planerischen Gestaltungsprozess mit ein, wenn die Gemeinde bei der Aufstellung des Bauleitplans gemäß § 1 Abs. 6 BauGB a.F. alle betroffenen öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen hat.

Mit der Maßgabe "Anlage eines Wendehammers ... aus verkehrstechnischen Gründen" und der Verweisung auf die EAE 1985 hat das Landratsamt somit weder direkt noch indirekt einen eindeutig identifizierbaren Rechtsverstoß geltend gemacht. Die gesetzliche Grundlage seiner Forderung bleibt vielmehr offen. § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a.F. verlangt aber die konkrete Benennung einer bestimmten verletzten Rechtsvorschrift (vgl. Gaentzsch, BauGB, 1991, RdNr. 9 zu § 11; derselbe in Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Auflage 1995, RdNr. 14 zu § 11; Bielenberg in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, Stand Oktober 1991, RdNr. 21). Der Senat ist ferner der Auffassung, dass die Benennung der verletzten Rechtsvorschrift nach Ablauf der Dreimonatsfrist auch nicht nachgeholt werden kann. Nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a.F. stellt die Geltendmachung der Verletzung von Rechtsvorschriften den eigentlichen Kern der Behördenentscheidung dar. Im Gegensatz zur Versagung einer Genehmigung oder zur Untersagung des Normerlasses wird von der Behörde damit eine formalisierte Darlegung und Beschränkung auf eine bestimmte Norm gefordert; nicht genannte Normen können daher die Gemeinde an der Fortführung ihres Normerlassverfahrens nicht hindern. Zugunsten der Gemeinde soll in kurzer Frist der Streitstoff auf eine bestimmte Normverletzung reduziert werden. Damit ist nach Auffassung des Senats durch die spezielle Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 BauGB a.F. auch die spätere Benennung von Rechtsvorschriften durch eine nachträglich gegebene Begründung gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG ausgeschlossen. Es handelt sich nämlich bei der Benennung der Rechtsvorschrift nicht um eine Begründung des Verwaltungsakts im Sinne von Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG, sondern um seinen wesentlichen Entscheidungsinhalt (a.A. Bielenberg a.a.O.). Die vom Beklagten im gerichtlichen Verfahren nach Ablauf der Dreimonatsfrist benannten möglichen Rechtsverstöße können den angefochtenen Verwaltungsakt also nicht mehr wirksam ergänzen. Damit kann auch die Frage offen bleiben, ob der unter den von Beklagtenseite vorgebrachten Rechtsverstößen einzig näher in Betracht zu ziehende gegen das Abwägungsgebot tatsächlich vorliegt. Gegen ein fehlerhaftes Abwägungsergebnis bei Verzicht auf eine Wendeanlage nach EAE 85 Nr. 5.2.1.9 könnte im Übrigen neben den gegenläufigen öffentlichen und privaten Belangen des sparsamen Umgangs mit Grund und Boden immerhin die Fallkonstellation sprechen, die der von Klägerseite angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vom 27.4.1990 NVwZ 1991, 76) zu Grunde lag.

Kostenentscheidung: § 154 Abs. 1 VwGO; vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO; Nichtzulassung der Revision: § 132 Abs. 2 VwGO.

Beschluss:

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.112,92 Euro (entspricht 10.000 DM) festgesetzt (§ 72 Nr. 1 GKG, §§ 14, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F.).

Ende der Entscheidung

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