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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 20.09.2004
Aktenzeichen: 25 CS 03.914
Rechtsgebiete: LMBG, Etikettierungsrichtlinie 2000/13/EG


Vorschriften:

LMBG § 17
LMBG § 47 a
Etikettierungsrichtlinie 2000/13/EG
Die irreführende Wirkung einer Bezeichnung für ein Lebensmittel kann entfallen, wenn durch ihren andauernden, von den Behörden nicht effektiv unterbundenen Gebrauch die Verbrauchererwartung verändert wurde.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

25 CS 03.914

In der Verwaltungsstreitsache

wegen lebeensmittelrechtlicher Anordnung (Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO);

hier: Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. März 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 25. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dachlauer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Petz

ohne mündliche Verhandlung am 20. September 2004

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 25.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen die teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die lebensmittelrechtliche Anordnung des Landratsamtes Rosenheim vom 13. November 2002 bleibt ohne Erfolg. Der Senat hält die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Ergebnis für zutreffend. Zwar wird dessen Erfolgsprognose für das Hauptsacheverfahren nicht geteilt, sondern der Verfahrensausgang als offen angesehen. Die Umstände des Falles sprechen aber dafür, die aufgeworfenen Rechts- und Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren zu klären und so lange den status quo aufrechtzuerhalten.

Mit dem Bescheid vom 13. November 2002 - soweit er Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist - wurde der Antragstellerin verboten, von ihr vertriebene, im einzelnen aufgelistete Kochpökelwaren unter der Kennzeichnung "Spalla Cotta, Vorderschinken italienische Art", "Formfleischvorderschinken" oder "Spalla Cotta, belgischer Vorderschinken mit 70% Schweinefleisch" in Verkehr zu bringen; außerdem wurde ihr aufgegeben, die Kennzeichnung "Formvorderschinken" bei der von ihr vertriebenen Ware nur noch zu verwenden, wenn sie aus der Schweineschulter ist, das Fleischeiweiß im fettfreien Anteil mindestens 19% aufweist, der Abrieb (brätähnliche Masse) maximal 5% beträgt und Fremdwasser nicht nachgewiesen werden kann. Ob diese Maßnahmen auf der Grundlage des damals geltenden Art. 2 Lebensmittelüberwachungsgesetz (LÜG) vom 11. November 1997 (GVBl S. 738; die derzeit geltende Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 Gesundheitsdienst- und Verbraucherschutzgesetz - GDVG - vom 24.7.2003, GVBl S. 452 ist weitgehend identisch) getroffen werden durften, um Verstöße gegen das in § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG enthaltene Verbot, Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung in den Verkehr zu bringen, zu verhindern und zu unterbinden, hängt davon ab, ob die Bezeichnungen nach deutschem Recht irreführend sind und - wenn ja - ob europäisches Recht einem Einschreiten entgegensteht.

Es spricht einiges dafür, dass nach deutschem Recht die Verwendung der Bezeichnungen "Vorderschinken" und "Formfleischvorderschinken" für die Produkte der Antragstellerin eine nach § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG verbotene Irreführung darstellt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, die vom Bundesverwaltungsgericht nicht beanstandet wurde, hat die Bezeichnung "Schinken" in der Verbrauchererwartung einen klar bestimmbaren Aussagegehalt (vgl. BayVGH vom 17.5.2000 VGH n.F. 53, 139 = BayVBl 2001, 85; BVerwG vom 18.10.2000 Buchholz 418.711 LMBG Nr. 34). Dieser könnte sich allerdings inzwischen durch das Marktgeschehen und das Verhalten der Behörden geändert haben. Die in dem zitierten Verfahren als irreführend erkannte Verwendung der Bezeichnung Schinken für Produkte der Babynahrung wurde trotz ihres Prozesserfolgs von den Lebensmittelbehörden aufgrund einer zweifelnden Anfrage der Europäischen Kommission nicht unterbunden. Die Antragstellerin selbst verwendet die Bezeichnung Schinken in unterschiedlichen Zusammensetzungen für die von ihr importierten und in Deutschland in einem Umfang von wöchentlich ca. 30 - 50 t vertriebenen Produkte bereits seit mehr als 10 Jahren. Sie weist unbestritten darauf hin, dass auch eine Reihe von Konkurrenzunternehmen seit vielen Jahren für entsprechende Produkte ähnliche Bezeichnungen wählt. Es erscheint nicht als ausgeschlossen, dass sich durch diese länger andauernde, von den Behörden nicht erkennbar unterbundene Praxis auch die Verbrauchererwartung und die Unterscheidungskraft der Bezeichnung "Schinken" gewandelt haben. Das gilt verschärft für die Bezeichnung "Formfleischvorderschinken", für die nach Auffassung der Behörden bestimmte Qualitätsmerkmale (Material aus der Schweineschulter, Fleischeiweiß im fettfreien Anteil mindestens 19%, Abrieb maximal 5%, kein Fremdwasser) konstituierend sind, die nach dem Vortrag der Antragstellerin offensichtlich jedenfalls für den Belag von Schinkenpizza in großem Umfang tatsächlich nicht eingehalten werden.

Sollte sich dennoch ergeben, dass nach deutschem Recht eine irreführende Bezeichnung vorliegt, müsste geprüft werden, ob der Bescheid mit dem Geltungsvorrang europarechtlicher Vorschriften vereinbar ist. Dabei käme es zunächst darauf an, ob die von der Antragstellerin in Deutschland vertriebenen Produkte tatsächlich, wie von ihr behauptet, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft (in Betracht kommen Belgien und Italien) rechtmäßig hergestellt und rechtmäßig in Verkehr gebracht werden. Der Antragsgegner hat diese Behauptung zwar mit guten Gründen in Zweifel gezogen, eine nähere Aufklärung im Hauptsacheverfahren ist aber noch erforderlich. Sollte die Behauptung der Antragstellerin zutreffen, wären die deutschen Regelungen nur noch in einem Kernbereich und nach Maßgabe der europarechtlichen Bestimmungen anwendbar (vgl. § 47 a LMBG; Art. 2, 3, 4, 5, 6 und 18 der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.3.2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl Nr. L 109 S. 29), zuletzt geändert durch die Richtlinie 2003/89/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. November 2003 (ABl Nr. L 308 S. 15); vgl. auch die ab 1. Januar 2005 geltenden Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 (ABL Nr. L 31 S. 1, Art. 8, 16 und 65). Das Verbot, eine irreführende (Verkehrs-)Bezeichnung zu verwenden, entfiele damit zwar nicht (vgl. EuGH vom 9.2.1999 Slg 1999 I - 0731, Gründe 31 bis 33); insbesondere hat der Senat Zweifel an der Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht anscheinend vertretenen Auffassung, eine irreführende Verkehrsbezeichnung könnte durch zutreffende Angaben im Zutatenverzeichnis geheilt werden (vgl. auch EuGH a.a.O.). Bei der Frage, welche Angaben im Zutatenverzeichnis gefordert werden können und welche die Qualität der Erzeugnisse betreffende Eigenschaften (Fleischeiweißgehalt) zu einer Irreführung im Sinne der europarechtlichen Vorschriften führen können (vgl. EuGH a.a.O. Gründe 39 bis 42), würde sich aber der Vorrang des Europarechts auswirken. Da ausdrückliche Rechtsvorschriften zur Stützung der von der Behörde verlangten Qualitätseigenschaften fehlen, müsste geklärt werden, ob in Deutschland tatsächlich eine Verbrauchererwartung besteht, die die Verkehrsbezeichnung "Formfleischvorderschinken" mit den geforderten präzisen Qualitätsmerkmalen verknüpft (vgl. EuGH a.a.O.).

Der Senat sieht den Ausgang des Hauptsacheverfahrens somit noch als offen an. Angesichts der sich bereits über viele Jahre hinziehenden Vermarktung entsprechender Produkte mit den möglicherweise irreführenden Verkehrsbezeichnungen scheint ihm das für Eilfälle vorgesehene Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO zu einer vertieften Klärung der Rechts- und Sachfragen nicht angemessen. Weil besondere Gefahren - insbesondere Gesundheitsgefahren - für die Verbraucher nicht bestehen, fällt die Abwägung der Interessen zu Gunsten der Antragstellerin aus.

Kostenentscheidung: § 154 Abs. 2 VwGO; Streitwert: § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F., Art. 1 § 72 Nr. 1 KostGMoG vom 5. Mai 2004 (BGBl I S. 718).

Ende der Entscheidung

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