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Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 03.02.2006
Aktenzeichen: 9 ZB 05.31075
Rechtsgebiete: AsylVfG, VwVfG, AufenthG


Vorschriften:

AsylVfG § 71 Abs. 1
AsylVfG § 78 Abs. 3
AsylVfG § 78 Abs. 4 Satz 4
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
VwVfG § 51 Abs. 3
VwVfG § 51 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 3
AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c
1. Zur Darlegung von Zulassungsgründen in Asylsachen.

2. Zur Erweiterung des Abschiebungsschutzes durch § 60 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 Buchst. c AufenthG bei einer von Familienangehörigen ausgehenden Gefahr der Beschneidung weiblicher Personen (Äthiopien).


Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

9 ZB 05.31075

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anerkennung als Asylberechtigte (Folgeantrag);

hier: Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. September 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 9. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Plathner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Heinl, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Waltinger

ohne mündliche Verhandlung am 3. Februar 2006

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Der Gegenstandswert für das Zulassungsverfahren beträgt 3.000 Euro.

Gründe:

I.

Die Klägerin ist am 16. April 1995 in Deutschland als Tochter äthiopischer Eltern, die beide 1993 in die Bundesrepublik eingereist sind und ohne Erfolg Asyl beantragt hatten, geboren. Sie begehrt, das durch den Ablehnungsbescheid vom 13. Januar 1998 bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufzugreifen, weil ihr in Äthiopien die Beschneidung drohe und weil sich insoweit die Rechtslage durch die am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Bestimmungen des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu ihren Gunsten geändert habe. Ihr Antrag vom 31. März 2005 und die Klage hatten keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat die Abweisung der Klage im Wesentlichen damit begründet, dass für den Folgeantrag (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG von drei Monaten nicht gewahrt sei. Die Gefahr der Genitalverstümmelung habe für die Klägerin schon während des Asylverfahrens bestanden. Durch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG habe sich die Rechtslage nicht zugunsten der Klägerin geändert. Schon vorher hätten einzelne Gerichte wegen der Gefahr der Genitalverstümmelung einen Asylanspruch nach Art. 16 a GG oder einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 oder § 53 AuslG bejaht. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf ermessensweises Wiederaufgreifen des Asylverfahrens (§ 51 Abs. 5 in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 1, § 49 Abs. 1 VwVfG), weil für sie aufgrund ihrer Familienverhältnisse in Äthiopien keine extreme individuelle Gefahr der Genitalverstümmelung bestehe.

Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung erhebt die Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine Reihe von Rügen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Der Antrag ist unzulässig, weil die Prozessbevollmächtigte der Klägerin keinen der gesetzlichen Zulassungsgründe schlüssig dargelegt hat.

In Asylsachen setzt die Zulassung der Berufung voraus, dass einer der in § 78 Abs. 3 AsylVfG bezeichneten Zulassungsgründe, auf die das Verwaltungsgericht in der dem Urteil beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung zutreffend hingewiesen hat, geltend gemacht und schlüssig dargelegt ist (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG) und dass er vorliegt (§ 124 a Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 VwGO).

1. Das Darlegen eines Zulassungsgrundes erfordert zunächst, dass der Zulassungsgrund ausdrücklich oder doch konkludent (OVG NRW vom 31.7.1998 NVwZ 1999, 202/204) bezeichnet wird. Der Kläger muss unmissverständlich und zweifelsfrei kundtun, auf welchen Zulassungsgrund er sich beruft (HessVGH vom 27.5.1997 NVwZ 1998, 203 = EZAR 625 Nr. 1; Marx, AsylVfG, 5. Aufl., § 78 RdNr. 467 mit weiteren Nachweisen). Sodann ist in einer klaren, verständlichen und übersichtlichen Weise zu erläutern, dass und warum der Zulassungsgrund vorliegen soll (BVerwG vom 23.11.1995 NJW 1996, 1554 zur Nichtzulassungsbeschwerde). Das erfordert, dass der Streitstoff durchdrungen und rechtlich aufbereitet wird (BVerfG, Kammer, vom 24.10.2000 NVwZ 2001, 425) und dass unter Aufgreifen und Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts aufgezeigt wird, dass die Voraussetzungen des jeweiligen Zulassungsgrundes vorliegen (OVG NRW vom 31.7.1998 NVwZ 1999, 202/205). Werden mehrere Zulassungsgründe geltend gemacht, muss deren Vorliegen jeweils selbständig dargelegt werden (HessVGH vom 9.1.1998 NVwZ 1998, 1096; Bader in Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 3. Aufl., § 124 a RdNr. 81). Der Antrag muss aus sich heraus verständlich sein (Marx, AsylVfG, 5. Aufl., § 78 RdNr. 55). Die Begründung des Zulassungsantrags muss es dem Berufungsgericht ermöglichen, auf seiner Grundlage zu erkennen, ob der geltend gemachte Zulassungsgrund vorliegt (OVG Berlin vom 17.9.1997 NVwZ 1998, 200; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 124 a RdNr. 49). Diese rechtlichen Anforderungen an die Bezeichnung und Darlegung von Zulassungsgründen sind die hauptsächliche Rechtfertigung dafür, dass der Zulassungsantrag gemäß § 67 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 VwGO dem Anwaltszwang unterworfen worden ist (vgl. BVerwG vom 23.11.1995 NJW 1996, 1554).

Eine Antragsbegründung, in der in einer ungeordneten Weise eine ganze Reihe von Rügen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts erhoben werden, mit denen rechtlich Unerhebliches mit Bruchstücken für Zulassungsgründe gemäß § 78 Abs. 3 AsylVfG und § 124 Abs. 2 VwGO vermengt werden, erfüllt diese formellen Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG nicht. Es darf nicht dem Verwaltungsgerichtshof überlassen werden, aus einem derartigen Gemenge herauszusuchen, was möglicherweise zur Darlegung eines Zulassungsgrundes geeignet sein könnte (vgl. OVG Hamburg vom 27.1.1997 NVwZ 1997, 689).

Die Antragsschrift vom 5. November 2005 erfüllt die formellen Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG für die Darlegung eines Zulassungsgrundes in Asylsachen nicht. In ihr werden in ungeordneter und unsubstanziierter Weise 'Verfahrensmängel", ein Verstoß gegen das "Willkürverbot", "nicht hinreichend nachvollziehbare Urteilsgründe", die "grundsätzliche Bedeutung" der Rechtssache, ein Verstoß gegen die "Aufklärungspflicht" und "ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils" gerügt. Keiner der allein maßgebenden Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 AsylVfG ist ausreichend dargelegt. Der Antrag ist deshalb unzulässig. Die Klägerin muss es sich gemäß § 173 VwGO, § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen, dass ihre Prozessbevollmächtigte den Zulassungsantrag in dieser mangelhaften Weise begründet hat.

2. Soweit man es gleichwohl unternimmt, das Vorbringen im Zulassungsantrag so zu filtern, zusammenzufassen und zu ordnen, dass der in erster Linie in Betracht kommende Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssage (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) herausgearbeitet wird, führt auch dies nicht zu einer ausreichenden Darlegung des Zulassungsgrunds. Für die hier nahe liegende Frage, ob sich die Rechtslage im Hinblick auf die Gefahr, dass die Klägerin nach einer Abschiebung nach Äthiopien auf Druck ihrer Großfamilie beschnitten wird, zum 1. Januar 2005 in asylrechtlich erheblicher Weise geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 VwVfG, § 60 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 Buchst. c AufenthG), ist nämlich die Entscheidungserheblichkeit weder aufgezeigt noch zu ersehen.

2.1. Die Frage, ob sich durch die am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Bestimmungen des § 60 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 Buchst. c AufenthG die Rechtslage nachträglich zugunsten der Klägerin geändert hat, ist für den Asylfolgeantrag der Klägerin zwar rechtserheblich (§ 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG, § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts begründete unter der Geltung des Ausländergesetzes die Gefahr, dass Asylbewerberinnen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland durch Familienangehörige beschnitten werden, keinen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 8 EMRK, weil diese Vorschriften nur vor Gefahren Abschiebungsschutz gewährten, die durch staatliche oder staatsähnliche Gewalt verursacht wird (BVerwG vom 27.4.2000 NVwZ-Beilage I 9/2000, 98/99 = Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 35). Aus dem gleichen Grund gab es wegen einer solchen Gefahr auch keinen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.

Durch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG wurde zunächst klar gestellt, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch wegen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung vorliegen kann. Durch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG wurde sodann der bisher durch § 51 Abs. 1 AuslG gewährte Abschiebungsschutz auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure erstreckt, sofern der Staat oder Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Diese Erweiterung des Schutzbereichs ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und aus dem in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen Ziel, sich insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union zu dem durch das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 gewährten Schutz anzuschließen (BT-Drucks. 15/420 S. 91; vgl. zu dieser Schutzbereichserweiterung auch Renner, AuslR, 8. Aufl., § 60 AufenthG RdNr. 19).

2.2. Insoweit ist der Folgeantrag vom 31. März 2005 auch innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG von drei Monaten gestellt worden.

2.3. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat jedoch die Entscheidungserheblichkeit dieser Rechtsänderung nicht ausreichend dargelegt.

Eine rechtliche Grundsatzfrage ist nicht entscheidungserheblich, wenn die für sie maßgeblichen tatsächlichen Voraussetzungen im konkreten Rechtsstreit nicht vorliegen (Marx, AsylVfG, 5. Aufl., § 78 RdNr. 145). Das ist nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die die Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht mit Zulassungsgründen im Sinn des § 78 Abs. 3 AsylVfG angegriffen hat, der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat mit nachvollziebarer Begründung festgestellt, dass für die in Deutschland geborene, nunmehr zehn Jahre alte Klägerin in Äthiopien keine Gefahr der Beschneidung bestehe, weil die seit 1993 in Deutschland lebenden Eltern der Klägerin als gesetzliche Vertreter das Verfahren gemeinsam betreiben, weil nach den Angaben ihrer Mutter von deren Herkunftsfamilie keine Gefahr der Beschneidung drohe und weil ihr Vater in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass er nicht wisse, ob seine Herkunftsfamilie eine Genitalverstümmelung befürworte oder ob sie sogar versuchen würde, eine solche gegen seinen Willen durchzusetzen.

Die Antragsbegründung setzt dem nur den nicht näher substantiierten Hinweis auf den "gesellschaftlichen Druck", gegen den sich die Eltern der Klägerin in Äthiopien "nicht dauerhaft wehren könnten", und die Behauptung entgegen, dass die Eltern der Klägerin "von ihren Familien ausgegrenzt" würden und sich vorwerfen lassen müssten, "die Eheaussichten ihrer Töchter zunichte zu machen". Diesem Vorbringen kann weder eine Verfahrensrüge im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG in Verbindung mit einer der in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensfehler noch eine konkrete und entscheidungserhebliche Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) entnommen werden. Unerheblich ist, dass das Verwaltungsgericht diese Feststellungen zu § 51 Abs. 5 VwVfG und damit zu einer Vorschrift getroffen hat, auf die ein Folgeantrag nicht gestützt werden kann (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG).

Unabhängig davon ist auch die Klärungsbedürftigkeit einer entsprechenden Tatsachenfrage nicht dargelegt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Juli 2005 (Seite 20 unter Nr. 3.d. Abs. 2) in vielen Landesteilen Äthiopiens die traditionellen Formen der Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen zwar noch weit verbreitet, aber im Rückgang begriffen sind, dass die Regierung in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen versucht, der Beschneidung durch Aufklärung entgegenzuwirken, und dass die bisher noch straffreie Beschneidungspraxis durch das revidierte Strafgesetzbuch, das sich noch in der parlamentarischen Beratung befindet, unter Strafe gestellt werden soll. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Äthiopien am 1. Juni 2004 das sog. "Maputo-Protokoll" unterzeichnet hat, dessen Art. 5 d die Vertragsstaaten verpflichtet, Mädchen und Frauen Schutz vor schädlichen traditionellen Praktiken zu bieten. Schließlich ist zu bedenken, dass in Äthiopien sowohl Regierungsorganisationen wie Nichtregierungsorganisationen mit sozialem Aufgabengebiet von der Beschneidung bedrohten Mädchen Zuflucht, zum Teil sogar langfristige Zuflucht bieten (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.1.2005 an das VG München). Damit kommt auch eine innerstaatliche Fluchtalternative (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG) in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylVfG). Der Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit ergibt sich aus § 30 Satz 1 Alt. 1 RVG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Bekanntgabe dieses Beschlusses an die Beteiligten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Ende der Entscheidung

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