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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 08.08.2003
Aktenzeichen: 1 AR 60/03
Rechtsgebiete: InsO, ZPO


Vorschriften:

InsO § 3
InsO § 3 Abs. 1 Satz 1
InsO § 3 Abs. 1 Satz 2
InsO § 4
InsO § 5 Abs. 1
InsO § 5 Abs. 1 Satz 1
ZPO § 36
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 2
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 281 Abs. 2 S. 2
ZPO § 281 Abs. 2 S. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

1 AR 60/03 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Insolvenzantragssache

hat der 1. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts

durch die Richterin am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Landgericht ...

am 8. August 2003

beschlossen:

Tenor:

Zuständig ist das Amtsgericht Charlottenburg.

Gründe:

I.

Der am 08.11.2002 bestellte, alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der im Handelsregister Frankfurt(Oder) zur HRB-Nr. ... eingetragenen Schuldnerin hat am 26.05.2003 beim Amtsgericht Frankfurt(Oder) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens für diese Gesellschaft und zugleich die Verweisung des Verfahrens an das Amtsgericht Charlottenburg beantragt. Zur Begründung des Verweisungsantrags hat er ausgeführt, dass der Betrieb eingestellt sei und dass nunmehr alle maßgeblichen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Abwicklung der Firma in Berlin getroffen würden. Dort erfolge auch die Abstimmung mit einer zur Unterstützung der Abwicklung beauftragten Wirtschaftsberatungsgesellschaft, die auch die Möglichkeiten einer Sanierung des Unternehmens prüfen solle. Auf Nachfragen des Amtsgericht Frankfurt(Oder) hat der Geschäftsführer seinen Verweisungsantrag bekräftigt, weil sowohl er als auch die beauftragte Wirtschaftsberatungsgesellschaft in Berlin ansässig seien. Mit Beschluss vom 10.06.2003 hat sich das Amtsgericht Frankfurt(Oder) mit der Begründung, der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin befinde sich in Berlin, für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Charlottenburg verwiesen. Das Amtsgericht Charlottenburg hat sich mit Beschluss vom 17.06.2003 seinerseits für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Schuldnerin entfalte in Berlin keinerlei werbende Tätigkeit, so dass sich die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg nicht aus § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO ergeben könne. Der Geschäftsführer der Schuldnerin sei aus einer Reihe anderer Insolenzverfahren bekannt, wo er für insolvente Gesellschaften, die z.T. zunächst bei Handelsregistern außerhalb Berlins eingetragen waren, aufgetreten sei und Insolvenzanträge gestellt habe. Vielfach habe er hierbei keine tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse, diese lägen vielmehr bei der ebenfalls regelmäßig involvierten Wirtschaftsberatungsgesellschaft. Das Amtsgericht Frankfurt(Oder) sei insoweit seiner sich aus § 5 Abs. 1 InsO ergebenden Nachforschungspflicht nicht nachgekommen, sein Verweisungsbeschluss sei daher willkürlich.

Die Schuldnerin hat sich hierzu nicht geäußert.

II.

1. Der Zuständigkeitsstreit zwischen dem im Bezirk des Brandenburgischen Oberlandesgerichts gelegenen Amtsgericht Frankfurt(Oder) und dem im Bezirk des Kammergerichts gelegenen Amtsgericht Charlottenburg ist gemäß § 4 InsO im Verbindung mit § 36 Abs.1 Nr. 6, 2 ZPO durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil das Amtsgericht Frankfurt(Oder) unter den am Zuständigkeitsstreit beteiligten Gerichten zuerst mit der Sache befasst worden ist. Die Anwendbarkeit von § 36 ZPO auf das Insolvenzverfahren - über die Verweisungsnorm des § 4 InsO - ist anerkannt (s. nur Smid, InsO, 2. Aufl. 2001, § 4 Rn. 8; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2001, § 3 Rn. 12; OLG Düsseldorf NZI 2000, 601).

2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Frankfurt(Oder) als auch das Amtsgericht Charlottenburg haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt, ersteres durch den nach § 281 Abs. 2 S. 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 10.06.2003, letzteres durch die seine Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidung vom 17.06.2003, die als solche den Anforderungen genügt, die an das Merkmal "rechtskräftig" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ 102, 338, 340; 104, 363, 366; BGH NJW 2002 3634, 3635; Senat OLG-NL 2001, 70 und 214; Zöller/Vollkommer, ZPO, 23. Aufl. 2002, § 36 Rn 24 f.).

3. Zuständig ist das Amtsgericht Charlottenburg. Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Frankfurt(Oder) vom 10.06.2003 gemäß § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO.

Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt nur ausnahmsweise, namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiver Willkür, die etwa auch gegeben sein kann, wenn die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst grob fehlerhaft erfolgt ist (vergl. BGHZ 71, 69, 72; 102, 338, 341; BGH NJW 1993, 1273; NJW 2002, 3634, 3635; BayObLG, NJW-RR 2000, 589; Senat a.a.O., Zöller/Greger a.a.O., § 281, Rn. 17, 17a m.w.N.). Im Interesse einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-) Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer objektiven Willkür im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Einfache Rechtsfehler genügen für die Annahme der Willkür nicht (vgl. BGH NJW-RR 1992, 902, 903; NJW 1993, 1273 und 2810; NJW-RR 1994, 126; BayObLG NJW-RR 2000, 589; NJW-RR 2001, 646, 647; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rn. 17; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 36 Rn. 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Frankfurt(Oder) nicht objektiv willkürlich.

a) Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO ist örtlich ausschließlich zunächst das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk der Schuldner zum Zeitpunkt des Insolvenzantrages seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Nur wenn der Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners an einem anderen Ort liegt, d.h. dort, wo sich das Zentrum der geschäftlichen Aktivitäten befindet und die tatsächliche Willensbildung innerhalb der Gesellschaft stattfindet (Uhlenbruck, a.a.O., § 3 Rn. 4), ist gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO das dortige Insolvenzgericht ausschließlich zuständig. Selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ist jede auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit, die nicht in abhängiger Stellung erfolgt. Nicht erforderlich ist, dass tatsächlich Gewinn erzielt wird (vgl. Smid, a.a.O., § 3 Rn. 4). Wird eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr ausgeübt, war sie bei Antragstellung vielmehr bereits vollständig eingestellt, richtet sich die Zuständigkeit wiederum nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Schuldners, d.h. nach dem letzten satzungsmäßigen, eingetragenen Sitz der Gesellschaft (vgl. OLG Köln ZIP 2000, 155; BayOblG ZIP 1999, 1714).

Eine selbständige unmittelbar auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit wurde bei Antragstellung am 26.05.2003 von der Schuldnerin bereits nach den eigenen Angaben ihres Geschäftsführers nicht mehr ausgeübt. Sie hatte ihren Betrieb "völlig eingestellt", die Geschäftsräume waren aufgegeben, allen Mitarbeiten war gekündigt worden.

Unter den Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO fällt nach überwiegender Ansicht aber auch das Abwicklungsstadium einer Firma, sodass der Ort der Abwicklungstätigkeit maßgeblich ist (MüKo-Inso/Ganter, 2001, § 3 Rn. 7; Uhlenbruck, a.a.O., § 3 Rn. 11). Führt der Geschäftsführer Korrespondenz und Abwicklungsmaßnahmen von seinem Wohnsitz aus, so kann auch dies die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts begründen, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat (OLG Rostock ZInsO 2001; OLG Schleswig NZI 1999, 436; LG Hamburg ZInsO 2000, 118; Uhlenbruck, a.a.O., § 3 Rn. 11 m.w.N.; MüKo-Inso/Ganter, a.a.O., § 3 Rn. 8, Hess/Weis/Wienberg, InsO, 2. Aufl. 2001, § 3 Rn. 21; a.A. OLG Hamm ZInsO 1999, 533).

Diese Voraussetzungen sind - jedenfalls nach der Darstellung des Geschäftsführers der Schuldnerin im Rahmen des Insolvenzantragsverfahren - gegeben. Hiernach hat er seinen Wohnsitz in Berlin und betreibt von dort aus aktiv die Abwicklung. Dort werden die für die Abwicklung des Unternehmens maßgeblichen Entscheidungen getroffen und von dort aus wird die Zusammenarbeit mit dem eingeschalteten Wirtschaftsberatungsunternehmen, welches die Abwicklungstätigkeit unterstützen und die Möglichkeiten einer Sanierung, d.h. mögliche Optionen für eine Unternehmensfortführung, prüfen soll, koordiniert.

Legt man diese Angaben als tatsächlich richtig zugrunde, so kann die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Frankfurt(Oder), das mit seiner Entscheidung offensichtlich die Anwendbarkeit des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO auch für den Fall bejaht hat, dass der Geschäftsführer nach Aufgabe des Geschäftslokals die Abwicklung der Gesellschaft von seinem Wohnsitz aus betreibt, nicht als schlechterdings unvertretbar bezeichnet werden.

b) An der örtlichen Zuständigkeit des angegangenen Insolvenzgerichts kann es aber fehlen, wenn die Voraussetzungen des § 3 InsO zwar formal gegeben sind, wenn der Antragsteller den Eintritt dieser Voraussetzungen aber im Sinne einer Gerichtsstandserschleichung rechtsmissbräuchlich herbeigeführt hat (MüKo-Inso/Ganter, a.a.O., § 3 Rn. 38; Uhlenbruck, a.a.O., § 3 Rn. 12 m.w.N.). Ebenso genügt ein bloßer Rechtsschein - beispielsweise eine Briefkastenadresse - nicht, um die Zuständigkeit wirksam, zu begründen (MüKo-Inso/Ganter, a.a.O., § 3 Rn. 6).

Die vom Amtsgericht Charlottenburg in seinem Beschluss vom 17.06.2003 vorgetragenen - dort gerichtsbekannten - Umstände, namentlich, dass sich unter der von der Schuldnerin angegebenen Berliner Adresse lediglich ein Postfach befindet, dass diese Adresse bei einer Vielzahl anderer Insolvenzverfahren auch als Firmenanschrift Verwendung findet und dass der Geschäftsführer der Schuldnerin, augenscheinlich ohne die Vermögensverhältnisse im Einzelnen zu kennen und ohne eigene tatsächliche Entscheidungsbefugnisse zu besitzen, auch bei diesen Gesellschaften als Geschäftsführer fungiert, können den Verdacht begründen, dass vorliegend in Berlin der Gerichtsstand rechtsmissbräuchlich herbeigeführt werden soll. Insbesondere ist zweifelhaft, ob der Geschäftsführer der Schuldnerin bei der Abwicklung tatsächlich eine maßgebliche Rolle spielt, und ob es gerechtfertigt ist, seinen Wohnsitz als Anknüpfungspunkt im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO zu betrachten.

Die für die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit maßgeblichen tatsächlichen Umstände hat das Insolvenzgericht gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO grundsätzlich von Amts wegen zu erforschen (Senat, Beschluss vom 28.02.2000, 1 AR 4/00). Die Frage, ob überhaupt zu ermitteln ist, sowie Art und Umfang der gebotenen Amtsermittlung richten sich hierbei nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Insolvenzgerichts (BGH KTS 1957, 12, 13; Uhlenbruck, a.a.O., § 5 Rn. 4; Smid, a.a.O., § 5 Rn. 12). Setzt sich das Gericht über seine Pflicht zur Amtsermittlung leichtfertig hinweg, obwohl konkrete Umstände eine nähere Nachprüfung der vom Schuldner gemachten Angaben nahe legen, kann ein darauf beruhender Verweisungsbeschluss objektiv willkürlich sein, mit der Folge, dass er keine Bindungswirkung entfaltet (vergl. OLG Hamm ZInsO 1999, 533; Senat a.a.O.)

Die dem Amtsgericht Charlottenburg aus anderen Verfahren, an denen der Geschäftsführer der Schuldnerin beteiligt war, bekannt gewordenen Details, die Zweifel an den im Insolvenzantrag gemachten Angaben begründen und eine Nachprüfung nahe legen, waren dem Amtsgericht Frankfurt(Oder) indes nicht bekannt. Aus dem Antrag vom 26.05.2003 an sich sowie aus dem weiteren an das Amtsgericht Frankfurt(Oder) gerichtete Schreiben vom 04.06.2003 ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, an den dort gemachten Angaben zu zweifeln. Nachforschungen zu der Frage, ob und in welchem Umfang der Geschäftsführer der Schuldnerin die Abwicklung tatsächlich aktiv betreibt bzw. ob im Übrigen in Berlin Abwicklungsmaßnahmen stattfinden, waren damit - bei verständiger Würdigung - aus Sicht des Amtsgerichts Frankfurt(Oder) nicht zwingend veranlasst. Der auf dieser Einschätzung fußende - möglicherweise rechtsfehlerhafte - Verweisungsbeschluss ist damit nicht willkürlich.

Somit verbleibt es bei der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Frankfurt(Oder), der die Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg begründet.

Ende der Entscheidung

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