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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 14.12.2006
Aktenzeichen: 1 AR 69/06
Rechtsgebiete: GVG, GG, BbgOBG, BbgPolG, ZPO, BbgGerNeuOG, BGB


Vorschriften:

GVG § 13
GVG § 17 Abs. 2 Satz 1
GVG § 23 Nr. 1
GVG § 71 Abs. 2 Nr. 2
GVG § 71 Abs. 3
GG Art. 34
BbgOBG §§ 38-42
BbgPolG § 70
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 4
BbgGerNeuOG § 8 Abs. 1 Nr. 1
BGB § 839
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

1 AR 69/06 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Kahl, den Richter am Oberlandesgericht Tombrink und den Richter am Amtsgericht Dr. von Selle am 14. Dezember 2006

beschlossen:

Tenor:

Zuständig ist das Landgericht Potsdam.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt vom beklagten Land die Zahlung von 1.703,08 € nebst Rechtsverfolgungskosten und Zinsen für die Reparatur der Eingangstür ihres Wohnungseigentums, die von der Polizei bei Durchführung einer gerichtlich angeordneten, gegen den Sohn ihrer Mieterin gerichteten Durchsuchung aufgebrochen wurde. Das Amtsgericht Brandenburg a. d. H. hat sich auf Hilfsantrag der Klägerin - die die Klage beim Amtsgericht erhoben hat, weil sie von der Rechtmäßigkeit der Durchsuchung ausgeht - und nach Anhörung des beklagten Landes mit Beschluss vom 28. August 2006 für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit unter Bezugnahme auf § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG i. V. m. Art. 34 GG, §§ 38-42 BbgOBG, § 70 BbgPolG an das Landgericht Potsdam verwiesen. Das Landgericht Potsdam hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 28. November 2006 dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts vorgelegt, weil die vom Amtsgericht Brandenburg a. d. H. zur Begründung der Zuständigkeit des Landgerichts angeführte Rechtsprechung lediglich die Zulässigkeit des ordentlichen Rechtswegs nach § 13 GVG belege, sodass es bei der sachlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts nach § 23 Nr. 1 GVG verbleibe.

II.

1. Der Zuständigkeitsstreit zwischen dem Amtsgericht Brandenburg a. d. H. und dem Landgericht Potsdam ist durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil es das beiden Gerichten zunächst höhere Gericht ist (§ 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO).

2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Brandenburg a. d. H. als auch das Landgericht Potsdam haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 28. August 2006 und letzteres durch die seine Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidung vom 28. November 2006, die als solche den Anforderungen genügt, die an das Merkmal "rechtskräftig" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ Bd. 102, S. 338, 340; Bd. 104, S. 363, 366; BGH NJW 2002, S. 3634, 3635; Senat, OLG-NL 2005, S. 16, 17; NJW 2004, S. 780; OLG-NL 2001, S. 70 und S. 214; Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 36 Rdnr. 24 f.; Baumbach/ Hartmann, ZPO, 64. Aufl. 2006, § 281 Rdnr. 48; Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 36 Rdnr. 23).

3. Zuständig ist das Landgericht Potsdam.

Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Brandenburg a. d. H. vom 28. August 2006 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).

a) Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt nur ausnahmsweise, namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiver Willkür, die etwa auch dann gegeben sein kann, wenn die Verweisung offenbar gesetzeswidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt ist (s. BGHZ Bd. 71, S. 69, 72; Bd. 102, S. 338, 341; BGH NJW 1993, S. 1273; NJW 2002, S. 3634, 3635; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; Senat, a.a.O.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17, 17 a m.w.Nw.; Baumbach/ Hartmann, a.a.O., § 281 Rdnr. 39 ff. m.w.Nw.; Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdnr. 12).

Im Interesse an einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer objektiven Willkür im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich für die grundsätzliche Bindungswirkung und Unanfechtbarkeit von - auch: fehlerhaften - Verweisungsbeschlüssen entschieden (§ 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO). Deshalb kann objektive "Willkür" nur unter bestimmten - engen - Voraussetzungen bejaht werden, und zwar dann, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der Bindungswirkung erfordert (s. Senat, NJW 2004, S. 780). Einfache Rechtsfehler genügen daher für die Annahme der Willkür nicht (BGH NJW-RR 1992, S. 902, 903; NJW 1993, S. 1273 und S. 2810; NJW-RR 1994, S. 126; NJW 2003, S. 3201; BayObLGZ 1991, S. 387, 389; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; NJW-RR 2001, S. 646, 647; Senat, ebd.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 36 Rdnr. 28; Musielak/Foerste, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 281 Rdnr. 17). Dies gilt erst recht für im Ergebnis - noch - vertretbare Entscheidungen. Die Abweichung von einer (bisher) "herrschenden Meinung" oder einer "(fast) einhelligen Ansicht" rechtfertigt für sich allein die Annahme von objektiver Willkür nicht; entscheidend ist, ob die Verweisung im Ergebnis noch "vertretbar" ist (vgl. etwa BGH MDR 2002, S. 1450, 1451; NJW-RR 2002, S. 1498 f.; NJW 2003, S. 3201 f.; BayObLG NJW 2003, S. 1196, 1197; Senat, ebd.; Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 281 Rdnr. 39 m.w.Nw.; vgl. auch OLG Hamburg, MDR 2002, S. 1210 f.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17; Musielak/Foerste, a.a.O., § 281 Rdnr. 17; Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdnr. 12).

b) Den derart zu konkretisierenden (verfassungsrechtlichen) Einschränkungen der Bindungswirkung hält der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Brandenburg a. d. H. im Ergebnis stand.

aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist beachtet worden.

bb) Die Verweisung ist auch nicht offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt. Zwar enthalten weder der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Brandenburg a. d. H. vom 28. August 2006 noch die ihn vorbereitenden gerichtlichen Hinweise eine nachvollziehbare Begründung für die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts. Dessen sachliche Zuständigkeit lässt sich aber anderweit vertretbar begründen, sodass es bei der allein maßgeblichen objektiven Betrachtung im Ergebnis an einer "willkürlichen" Verweisung fehlt.

(1) Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Potsdam kommt zunächst nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 BbgGerNeuOG in Betracht. Ein dahingehender Vorbehalt zu Gunsten der Landesgesetzgebung ergibt sich aus § 71 Abs. 3 GVG. Nach diesen Vorschriften sind die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstands ausschließlich zuständig für Ansprüche gegen den Staat oder eine Körperschaft des öffentlichen Rechts wegen Verfügungen der Verwaltungsbehörden. Hierunter fallen namentlich Entschädigungsansprüche aus Polizei- und Ordnungsrecht als spezialgesetzliche Ausprägung der allgemeinen Aufopferungsentschädigung, auf die sich die Klägerin in der Klagebegründung ausdrücklich beruft.

(2) Darüber hinaus lässt sich die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Potsdam vertretbar auch auf § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG stützen.

Nach der neueren Rechtsprechung des BGH bilden Entschädigungsansprüche aus Amtshaftung, aus Polizei- und Ordnungsrecht und aus enteignungsgleichem Eingriff einen einheitlichen Streitgegenstand (BGH, NJW 1996, S. 3151, 3152; BGHR GG vor Art. 1/ enteignungsgleicher Eingriff/Bausperre 6); gleiches muss für Ansprüche aus enteignendem Eingriff gelten, der sich vom enteignungsgleichen Eingriff nur dadurch unterscheidet, dass dem Betroffenen ein Sonderopfer als Nebenfolge rechtmäßigen hoheitlichen Verhaltens auferlegt wird (statt vieler Münch-Komm/Papier, BGB, 4. Aufl. 2004, § 839 Rdnr. 36, mit Rechtsprechungsnachweisen). Die Einheitlichkeit des Streitgegenstands kann in diesen Fällen nicht davon abhängen, ob die klagende Partei selbst die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs für gegeben ansieht oder nicht. Denn Streitgegenstand meint nicht den materiellrechtlichen Anspruch, sondern das prozessuale Rechtsschutzbegehren, das durch Klageantrag und Klagegrund bestimmt wird - also durch alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Klagevortrag zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den die klagende Partei zur Stützung ihres Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet (BGH, a.a.O.). Damit erlaubt der zur Begründung des Staatshaftungsbegehrens unterbreitete Tatsachenkomplex typischerweise auch eine - wenigstens gedankliche - Mitprüfung der Voraussetzungen des § 839 BGB (Baldus/Böhr, NWVBl. 1996, 95 f.).

Im Streitfall wird neben einem Anspruch aus analoger Anwendung des Polizei- und Ordnungsrechts insbesondere eine Schadensersatzverpflichtung aus enteignungsgleichem oder enteignendem Eingriff zu prüfen sein. Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff werden, wie der BGH (BGHR GG vor Art. 1/enteignungsgleicher Eingriff/Beschlagnahme 1) bereits entschieden hat, durch das StrEG (hier: § 2 Abs. 2 Nr. 4) nicht verdrängt, weil sich dieses Gesetz nur auf den Beschuldigten, Angeschuldigten, Angeklagten oder in ähnlicher Weise von einer Strafverfolgungsmaßnahme Betroffenen bezieht; letzteres steht auch einer Verdrängung von Ansprüchen aus enteignendem Eingriff durch das StrEG entgegen. Die hiernach gebotene Prüfung dieser Anspruchsgrundlagen ermöglicht zugleich eine - zumindest gedankliche - Prüfung der Voraussetzungen des § 839 BGB.

Gestützt auf den Rechtsgedanken des § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet, hat sich auch bei der Frage des zuständigen Gerichts zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass jedenfalls bei einem einheitlichen Sachverhalt über die konkurrierenden materiell-rechtlichen Ansprüche mitentschieden werden darf, die bei isolierter Betrachtung nicht in die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts fallen (siehe nur Zöller/Vollkommer, a.a.O). Danach zieht die einem Staatshaftungsbegehren - im Regelfall und so auch hier (s. o.) - implizite sachliche Zuständigkeit des Landgerichts für den Amtshaftungsanspruch die Zuständigkeit für konkurrierende materiell-rechtliche Anspruchsgrundlagen nach sich (Musielak/Wittschier, a.a.O., § 71 GVG Rdnr. 7 Fn. 11; im Ergebnis ebenso - analoge Anwendung von § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG - Baldus/Böhr, a.a.O., S. 96).

4. Sonach verbleibt es bei der Zuständigkeit des angewiesenen Landgerichts Potsdam.

Ende der Entscheidung

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