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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 06.03.2002
Aktenzeichen: 14 U 119/01
Rechtsgebiete: StVO, BGB, StVG, PflVG, ZPO


Vorschriften:

StVO § 10
BGB § 823 Abs. 1
StVG § 7 Abs. 1
StVG § 18 Abs. 1
PflVG § 3 Nr. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
ZPO § 713
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

14 U 119/01 Brandenburgisches Oberlandesgericht

Anlage zum Protokoll vom 06.03.2002

Verkündet am 06.03.2002

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Schäfer, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Zoller und den Richter am Amtsgericht Dr. Bachnick

auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2002 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Cottbus vom 07. August 2001 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.813,91 € nebst 4 % Zinsen hierauf seit dem 12. Oktober 2000 zu zahlen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldner Ersatz ihres materiellen Schadens aus einem Verkehrsunfall, der sich am 22. September 2000 gegen 11.30 Uhr in S..., F...Straße ereignete.

Zum angegebenen Zeitpunkt befuhr die Klägerin mit einem Pkw, Fabrikat M..., amtliches Kennzeichen: ..., aus Richtung G... Straße kommend die F... Straße in S.... Auf dem Beifahrersitz befand sich die Zeugin I... L.... In Fahrtrichtung der Klägerin parkte zu diesem Zeitpunkt der Pkw, Fabrikat: N... A..., amtliches Kennzeichen:.... Fahrer und Halter dieses Fahrzeuges, das bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversichert ist, war der Beklagte zu L, ein 78jähriger Mann. Die Klägerin musste zunächst hinter dem N... verkehrsbedingt anhalten, um Gegenverkehr passieren zu lassen. Anschließend fuhr die Klägerin an dem parkenden N... vorbei. Als die Klägerin anschließend ihren Pkw - dem Kurvenverlauf entsprechend - nach rechts steuerte, kollidierten beide Fahrzeuge miteinander.

Der Unfallhergang ist streitig.

Die Klägerin hat behauptet:

In weitem Bogen sei sie an dem rechts parkenden Pkw N... des Beklagten zu 1. vorbeigefahren. Erst nach der Kollision habe sie festgestellt, dass der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug mindestens 10m nach vorn fortbewegt und nunmehr der Abstand des N... von der Bordsteinkante zur Straßenmitte hin mindestens einen Meter betragen habe. Abgesehen davon sei während des Passierenlassens des Gegenverkehrs am Fahrzeug des Beklagten zu 1. weder Blinklicht noch sonst ein Lebenszeichen zu erkennen gewesen.

Die Klägerin hat ihren Schaden mit 11.371,01 DM beziffert und dementsprechend beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 11.371,01 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 12. Oktober 2000 zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben den von der Klägerin behaupteten Unfallverlauf bestritten und behauptet, dass die Klägerin am Fahrzeug des Beklagten zu 1. vorbeigefahren sei, ohne den erforderlichen seitlichen Sicherheitsabstand einzuhalten. Infolge dieses Fahrfehlers sei das Fahrzeug des Beklagten zu 1. von dem der Klägerin touschiert worden.

Das Landgericht hat durch die Vernehmung der Zeugin I... L... Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 02. Juli 2001 Bezug genommen.

Das Landgericht hat eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zugunsten der Klägerin angenommen, der Klage deshalb auch nur in Höhe von 2/3 der geltend gemachten Forderung (7.580,67) stattgegeben. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie von den Beklagten den vollständigen Ausgleich ihres Schadens verlangt.

Unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vertrages behauptet sie, dass das Fahrzeug des Beklagten zu 1. von diesem in der Zeit vom Zeitpunkt ihres Vorbeifahrens bis zum späteren Unfall fortbewegt worden sei und der Beklagte zu 1. außerdem den Fahrtrichtungsanzeiger vor dem Ingangsetzen seines Fahrzeugs nicht betätigt habe.

Bei dieser Sachlage sei ihr der Vorwurf des Mitverschuldens nicht zu machen. Vielmehr meint sie, der Beweis des ersten Anscheins spreche für ein Alleinverschulden des Beklagten zu 1., der bei dieser Unfallkonstellation die qualifizierten Pflichten des § 10 StVO nicht beachtet habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 07. August 2001 abzuändern und die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 11.371,01 DM nebst 4 % Zinsen hierauf seit dem 12. Oktober 2000 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen mit näheren Ausführungen das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Klägerin steht wegen des Verkehrsunfalls vom 22. September 2000 gemäß §§ 823 Abs. 1 BGB, 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagten als Gesamtschuldner ein Anspruch auf vollständigen Ersatz des ihr erwachsenen materiellen Schadens zu.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts muss nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme davon ausgegangen werden, dass der Beklagte zu 1. den Unfall durch eine schuldhafte Verletzung der ihm gemäß § 10 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten verursacht hat. Nach dieser Bestimmung muss derjenige, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich dabei so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dem Beklagten zu 1. oblag dieses besondere Maß an Sorgfalt, weil, wie die Kammer mit Recht hervorhebt, die Kollision sich zu einem Zeitpunkt ereignete, als der Beklagte zu 1. seinen N... A... unmittelbar zuvor in Gang gesetzt hatte. Nichts anderes kann der Aussage der Zeugin L..., zum Unfallzeitpunkt Beifahrerin im Fahrzeug der Klägerin, entnommen werden. Denn die Zeugin hat u.a. betont, dass "wir dann schon in der Rechtskurve etwas drin (waren), als hinten rechts an unserem Fahrzeug plötzlich ein Anstoß stattfand", und ergänzend bemerkt, dass "bis zur Anstoßstelle das zunächst rechts gehaltene Fahrzeug 6 oder 7 m gefahren sein (müsste)". Diese Darlegungen enthalten jedenfalls im Kern die Aussage, dass die Kollision sich zu einem Zeitpunkt ereignete, als sich beide Unfallfahrzeuge in Bewegung befanden, woraus wiederum ohne weiteres der Rückschluss zu ziehen ist, dass der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug in Bewegung gesetzt hatte und damit vom Fahrbahnrand im Sinne von § 10 StVO angefahren war.

Kommt es bei einer solchen Verkehrssituation, d.h. im Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand auf die Fahrbahn, zu einem Unfall mit einem anderen, im Fließverkehr befindlichen Fahrzeug, spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Kollision darauf beruht, dass der vom Fahrbahnrand anfahrende Verkehrsteilnehmer die ihm nach § 10 StVO obliegende gesteigerte Sorgfalt nicht hinreichend beachtet hat (OLG Frankfurt, VersR 1999, 864, 865; OLG Düsseldorf VersR 1977, 60, 61). Denn es handelt sich bei derartigen Fällen um Geschehensabläufe typischer Art, die nach der Lebenserfahrung auf ein unfallursächliches Verschulden des sich in den fließenden Verkehrs Einfädelnden hindeuten (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 10 StVO Rn. 11 mit zahlreichen Nachweisen).

Die Beklagten haben den gegen den Beklagten zu 1. sprechenden Anscheinsbeweis nicht entkräftet. Wer das tun will, hat Umstände darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen untypischen Geschehnisablaufs ergibt (BGH DAR 1985, 316). Die Beklagten haben zwar - erstinstanzlich - behauptet, dass die Klägerin "unter absoluter Nichteinhaltung des notwendigen seitlichen Sicherheitsabstandes am Fahrzeug des Beklagten zu 1. vorbeigefahren" sei, infolge dessen es "zur Berührung" beider Fahrzeuge gekommen sei, die Klägerin mithin "in dem Moment, als der Beklagte zu 1. sein Fahrzeug habe verlassen wollen", auf den stehenden N... gefahren sei. Nachgewiesen ist diese Unfallkonstellation aber nicht. Nach der erstinstanzlichen Beweiserhebung steht das Gegenteil fest.

Bei dieser Sachlage ist von einem alleinigen Verschulden des Beklagten zu 1. an dem Verkehrsunfall auszugehen. Er hat die ihm obwaltende gesteigerte Sorgfaltspflicht als Anfahrender aus § 10 StVO in schwerwiegender Weise verletzt, indem er ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers und ohne vorherige Rückschau - anders ist das Unfallgeschehen nicht zu erklären - sein Fahrzeug in Bewegung setzte. Die vom Landgericht angenommene Mithaftung der Klägerin scheidet demgegenüber sowohl aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung (§ 823 Abs. 1 BGB) als auch nach den Grundsätzen der Gefährdungshaftung (§ 7 StVG) aus.

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin unaufmerksam oder mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist oder sie aufgrund konkreter Umstände unmittelbar vor dem Passieren des Fahrzeuges des Beklagten zu 1. damit hätte rechnen müssen, dass dieser anfahren würde; sind nicht ersichtlich. Insbesondere hatte die Klägerin, anders als vom Landgericht angenommen wird, beim Lenken ihres Fahrzeugs nach dem Vorbeifahrvorgang keinen Grund, sich zu vergewissern, ob die Fahrbahn rechts von ihr tatsächlich frei sein würde, da die Verkehrslage nicht darauf hindeutete, dass sich das zunächst geparkte Fahrzeug des Beklagten zu 1. noch während des Vorbeifahrens in gleicher Fahrtrichtung fortbewegen würde. Jedenfalls war dies für die Klägerin nicht erkennbar, zumal da der Beklagte zu 1. den Fahrtrichtungsanzeiger nicht gesetzt hatte. Soweit das Landgericht darüber hinaus eine Sorgfaltspflichtverletzung der Klägerin darin gesehen hat, dass sie vor dem Vorbeifahren nicht einen Blick in das zu diesem Zeitpunkt stehende Fahrzeug des Beklagten zu 1. geworfen und deshalb diesen nicht wahrgenommen habe, ist dem nicht zu folgen. Hier wird der Sorgfaltsmaßstab im Allgemeinen, aber auch unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrssituation überzogen. Die Klägerin war gehalten, zunächst Gegenverkehr passieren zu lassen. Ihre Aufmerksamkeit galt deshalb vornehmlich dieser Verkehrslage. Abgesehen davon ist es auch lebensfremd, von einem Autofahrer zu fordern, vor dem Vorbeifahren an einem parkenden Fahrzeug sich darüber vergewissern zu müssen, ob dessen Fahrersitz besetzt ist. So etwas kann nur bei Hinzutreten weiterer, auf ein unmittelbares Anfahren hindeutender, hier aber nicht vorliegender Umstände verlangt werden. Auch die weiteren Erwägungen der Kammer, wonach die Klägerin, "selbst wenn (sie) nicht in das Beklagtenfahrzeug hineinsehen konnte, bei besonderer Aufmerksamkeit gleichwohl mit der Möglichkeit (hätte) rechnen können, dass jemand im Fahrzeug saß und eventuell auch gerade dabei war, anzufahren," ist realitätsfremd und mit den heutigen Verkehrsbedürfnissen nicht zu vereinbaren.

Bei dieser Sach- und Rechtslage bleibt hiernach festzustellen, dass das Unfallgeschehen durch den Beklagten zu 1. allein verursacht und verschuldet worden ist, so dass die von dem Fahrzeug der Klägerin ausgehende Betriebsgefahr durch das schwerwiegende Verschulden des Beklagten zu 1., aber auch durch die hierdurch von seinem Kraftfahrzeug ausgehende deutlich erhöhte Betriebsgefahr vollständig kompensiert wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 91 Abs. 1 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr.10, 711, 713 ZPO.

Wert des Gegenstandes II. Instanz: 1.937,97 Euro

Ende der Entscheidung

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