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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 26.05.2004
Aktenzeichen: 2 Ws 97/04
Rechtsgebiete: StPO, JGG, AuslG


Vorschriften:

StPO § 205
StPO § 206 a
StPO § 344
StPO § 344 Abs. 2
StPO § 345
JGG § 55 Abs. 2
AuslG § 8 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

2 Ws 97/04 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Strafsache

wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei

hat der 2. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Barteldes, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Kühl und den Richter am Oberlandesgericht Tscheslog

am 26. Mai 2004

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus vom 31. März 2004 aufgehoben.

Das Verfahren wird vorläufig eingestellt.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Senftenberg - 55 Ds 1940 Js 21458/01 (380/01) - verurteilte den Angeklagten am 21. Januar 2002 wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Hiergegen legte der Angeklagte Berufung ein.

Am 16. Mai 2003 verurteilte ihn wiederum das Amtsgericht Senftenberg -56 Ls 1940 Js 33126/01 (64/02)- wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in vier Fällen zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten, deren Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen das letztgenannte Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein.

Nachdem das Landgericht durch Beschluss vom 11. August 2003 beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte, verurteilte es den Angeklagten am 1. Dezember 2003 wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in sieben Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr. Gegen das Berufungsurteil legte der Angeklagte Revision ein.

Am 29. Januar 2004 wurde das schriftliche Urteil dem Verteidiger zugestellt. Die Unterrichtung des Angeklagten von der an seinen Verteidiger erfolgten Zustellung unter Beifügung einer in die vietnamesische Sprache übersetzten Urteilsausfertigung scheiterte, weil der Angeklagte bereits am 26. Januar 2004 "mit unbefristeter Wirkung" abgeschoben worden war. Die Revision wurde vom Verteidiger nicht mehr begründet.

Mit Beschluss vom 31. März 2004 hat das Landgericht "das Verfahren gemäß § 206 a StPO eingestellt, weil der Angeklagte ... am 26. Januar 2004 mit unbefristeter Wirkung abgeschoben worden ist".

Hiergegen richtet sich die rechtzeitig eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die der Auffassung ist, die Revision des Angeklagten sei als unzulässig zu verwerfen, weil sie nach § 55 Abs. 2 JGG unstatthaft und außerdem nicht rechtzeitig begründet worden sei. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg tritt dem Rechtsmittel bei und trägt ergänzend vor, dass kein unbehebbares Verfahrenshindernis vorläge.

II.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist nur zum Teil begründet.

1. Im Ergebnis zutreffend hat das Landgericht erkannt, dass der Fortführung des Revisionsverfahrens die durch seine Abschiebung herbeigeführte Abwesenheit des Anklagten entgegensteht. Durch die am 26. Januar 2004 erfolgte Abschiebung ist die Fähigkeit des Angeklagten, sich im Revisionsverfahren angemessen verteidigen zu können, derart eingeschränkt worden, dass eine Fortführung des Verfahrens aus rechtsstaatlicher Sicht jedenfalls derzeit nicht möglich ist.

Der Anspruch des Angeklagten auf eine angemessene Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 EMRK) verlangt, dass der Angeklagte die Fähigkeit hat, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Dabei gelten im Revisionsverfahren andere Anforderungen als im Verfahren vor dem Tatgericht:

In der Tatsacheninstanz ist die Einlassung des Angeklagten wesentliches Beweismittel. Der Angeklagte kann selbst Anträge stellen und Zeugen befragen. Er wird vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger angehört. Diese Rechte geben dem Angeklagten die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von seinem Verteidiger mitzugestalten und sich so zu verteidigen.

Das Revisionsverfahren bietet ein anderes Bild. Dieses Verfahren dient ausschließlich der rechtlichen Überprüfung des tatrichterlichen Urteils auf richtige Anwendung des sachlichen Rechts und des Verfahrensrechts. Erörterungen tatsächlicher Art finden hier nicht statt. Die Möglichkeiten des Angeklagten, dieses Verfahren mitzugestalten, sind gering. Selbst kann der Angeklagte das Rechtsmittel lediglich einlegen und zurücknehmen. Schon die Bestimmung des Umfangs der Anfechtung kann der Angeklagte nur durch seinen Verteidiger (oder zu Protokoll der Geschäftsstelle) vornehmen (§ 344 Abs. 1 StPO). Dasselbe gilt für die nach § 344 Abs. 2 StPO erforderliche Begründung der Revision. In der Revisionshauptverhandlung hat der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte das Recht auf Anwesenheit und auf Gewährung des letzten Wortes. Jedoch kann er auch dabei für das Revisionsverfahren maßgebliche Erklärungen nach § 344 StPO, die nach § 345 StPO nur befristet angebracht werden können und der dort genannten Form bedürfen, nicht wirksam abgeben.

Dass der nicht auf freiem Fuß befindliche Angeklagte keinen Anspruch auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht hat, ist wegen der skizzierten Ausgestaltung des Revisionsverfahrens unbedenklich, wenn er einen Verteidiger hat und dieser in der Hauptverhandlung anwesend ist.

Nach diesen Grundsätzen wird es im Revisionsverfahren erforderlich, aber auch ausreichend sein, wenn der Angeklagte die Fähigkeit hatte, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden, und mindestens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage ist (vgl. BGHSt 41, 16 f sowie BGH StV 1996, 250 f jeweils zur Frage der Verhandlungsfähigkeit im Revisionsverfahren).

Fallbezogen bedeutet dies Folgendes:

Die Fähigkeit des Angeklagten, sich mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme seiner Revision zu beraten, verlangt nicht notwendig dessen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Der hierzu erforderliche Informationsaustausch kann - jedenfalls in einem einfach gelagerten Fall wie hier - auch schriftsätzlich und ggf. telefonisch erfolgen. Der Senat geht jedoch davon aus, dass ebenso wie der Strafjustiz auch dem Verteidiger der derzeitige Aufenthalt des Angeklagten nicht bekannt ist. Dieser Umstand - der Kontaktabbruch zwischen Angeklagtem und Verteidiger - ist hier gerade durch staatliches Handeln, nämlich die Abschiebung des Angeklagten, bewirkt worden. Insofern unterscheidet sich der zu beurteilende Sachverhalt von Fällen, in denen der Angeklagte von sich aus "untertaucht"; in den letztgenannten Fällen hätte der Angeklagte die Einschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeit selbst zu vertreten.

Es ist naheliegend, dass der Verteidiger die Revision gerade deshalb nicht mehr begründet hat, weil er den Kontakt zum Angeklagten verloren hat und sich mit diesem nicht mehr über die Fortführung des Rechtsmittels beraten und auch nicht auf Bezahlung seiner weiteren Aktivitäten hoffen kann. In dieser Situation den durch staatliches Handeln bewirkten Kontaktabbruch zwischen Angeklagtem und Verteidiger gleichsam auszunutzen, um die Revision des Angeklagten als unzulässig zu verwerfen, verstieße gegen den Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK.

2. Begründet ist das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, soweit das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss das Verfahren nicht nur vorläufig, sondern (endgültig) nach § 206 a StPO eingestellt hat.

Wie lange das derzeit bestehende Verfahrenshindernis - der durch staatliches Handeln bewirkte Kontaktabbruch zwischen Angeklagtem und Verteidiger - fortwirkt, ist offen. Das Revisionsverfahren könnte bereits dann seinen Fortgang nehmen, wenn der Aufenthalt des Angeklagten in Vietnam bekannt und dem Verteidiger mitgeteilt wird. Ebenso könnte das Revisionsverfahren fortgesetzt werden, wenn der Angeklagte wieder in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Der Umstand, dass der Angeklagte "mit unbefristeter Wirkung" abgeschoben wurde, besagt lediglich, dass ihm nach § 8 Abs. 2 AuslG keine neue Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden darf. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, dass der Angeklagte illegal in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wird.

Der Senat hebt danach den angefochtenen Beschluss auf und trifft die in der Sache erforderliche Entscheidung (§ 309 Abs. 2 StPO), die vorläufige Einstellung des Verfahrens entsprechend § 205 StPO.

3. Eine andere Entscheidung könnte allerdings geboten sein, wenn die Revision des Angeklagten - wie die Staatsanwaltschaft meint - nach § 55 Abs. 2 JGG unstatthaft wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil der Angeklagte zwar gegen das Urteil des Amtsgerichts Senftenberg vom 21. Januar 2002, nicht aber gegen das Urteil des gleichen Gerichts vom 16. Mai 2003 Berufung eingelegt hatte. Danach steht dem Angeklagten gegen das Berufungsurteil des Landgerichts jedenfalls insoweit das Rechtsmittel der Revision zu, als es den von ihm zuvor nicht angefochtenen Schuldspruch wegen der im Urteil des Amtsgerichts Senftenberg vom 16. Mai 2003 abgeurteilten Taten umfasst.

Dieses Rechtsmittels ist der Angeklagte auch nicht durch die vom Landgericht mit Beschluss vom 11. August 2003 vorgenommene Verbindung beider anhängiger Berufungssachen verlustig gegangen, denn es liegt nicht in der Kompetenz der Tatgerichte, durch Verbindung oder Abtrennung von Verfahren über die Statthaftigkeit von Rechtsmitteln des Angeklagten zu entscheiden.

III.

Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst.

Ende der Entscheidung

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