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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 14.10.2002
Aktenzeichen: 9 UF 129/02
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 520 Abs. 2 Satz 1
ZPO § 538
ZPO § 538 Abs. 2
ZPO § 621 a Abs. 1
ZPO § 621 e Abs. 3 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

9 UF 129/02 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In der Familiensache

hat der 1. Senat für Familiensachen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts auf die befristete Beschwerde der Antragsgegnerin vom 11. Juli 2002 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lübben vom 7. Juni 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht

am 14. Oktober 2002 beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Amtsgericht Lübben zurückverwiesen.

2. Der Antragsgegnerin wird zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin N... bewilligt.

3. Dem Antragsteller wird zur Abwehr der Beschwerde ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin H... bewilligt.

4. Der Beschwerdewert beträgt 3.000 €.

Gründe:

I.

Die befristete Beschwerde ist statthaft und zulässig.

Sie ist insbesondere fristgemäß begründet worden. Nach der Neuregelung der ZPO beträgt die Begründungsfrist nunmehr auch für die befristete Beschwerde zwei Monate ab Zustellung der angefochtenen Entscheidung, vgl. § 621 e Abs. 3 Satz 2 ZPO i. V. m. § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Die angefochtene Entscheidung ist der Antragsgegnerin unter dem 20. Juni 2002 zugestellt worden, Bl. 236 d. A.. Die am 20. August 2002 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangene Begründung der eingelegten Beschwerde (Bl. 245 d. A.) ist daher fristgemäß erfolgt.

II.

Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft ergangen, da das Amtsgericht einen schweren Verfahrensverstoß begangen hat. Das Amtsgericht hat es unterlassen, das betroffene Kind persönlich anzuhören, obgleich dies gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist. Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an das Amtsgericht.

1.

Der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung an das Amtsgericht steht die mit der zum 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Reform der ZPO getroffene Neuregelung in § 538 ZPO nicht entgegen, da die verschärften Voraussetzungen für die Aufhebung und Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 ZPO im Verfahren der befristeten Beschwerde keine Anwendung finden.

Die Vorschrift des § 538 ZPO ist in § 621 e Abs. 3 Satz 2 ZPO, der für das Verfahren der befristeten Beschwerde maßgeblichen Verweisungsvorschrift, nicht genannt. Da außerhalb dieser Verweisungsvorschrift im Übrigen für die befristete Beschwerde die Vorschriften des FGG gelten, § 621 a Abs. 1 ZPO, kommt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht nach den allgemeinen Grundsätzen des FGG in Betracht. Zwar sieht das FGG eine solche Verfahrensweise nicht ausdrücklich vor, sie entspricht jedoch der allgemeinen Praxis in den Verfahren der allgemeinen Gerichtsbarkeit (vgl. nur BGH, FamRZ 1982, 152; im Übrigen Zöller/Philippi, ZPO, 23. Aufl. 2002, § 621 e Rn. 76 m. w. N.).

Insoweit kommt auch nicht die analoge Anwendung des § 538 Abs. 2 ZPO in Betracht (so aber Zöller/Philippi, a.a.O.). Dem steht schon der eindeutige Wortlaut der Vorschrift des § 621 e Abs. 3 Satz 2 ZPO, die die Vorschrift des § 538 ZPO gerade nicht einbezieht, entgegen. Der Gesetzeswortlaut ist eindeutig, es fehlt daher an einer Gesetzeslücke als der für die analoge Anwendung des § 538 ZPO wesentlichen Voraussetzung. Insoweit ist es auch nach dem In-Kraft-Treten der Zivilprozessrechtsreform dem Beschwerdegericht im Verfahren nach § 621 e ZPO möglich, ohne die strengen Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 ZPO nach freiem Ermessen über die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung des Verfahrens an die Vorinstanz zu entscheiden (ausdrücklich Musielak/Borth, ZPO, 3. Aufl. 2002, § 621 e Rn. 26; im Ergebnis wohl auch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60. Aufl. 2002, § 621 e Rn. 23 a. E.; wohl auch Thomas/Putzo, ZPO, 24. Aufl. 2002, § 621 e Rn. 15, soweit dieser darauf hinweist, dass das Gericht an Anträge grundsätzlich nicht gebunden ist).

2.

In den die Personen- oder Vermögenssorge betreffenden Verfahren ist neben den Eltern (§ 50 a FGG) auch das Kind persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn es zur Feststellung des Sachverhaltes angezeigt erscheint, dass sich das Gericht von dem Kind einen unmittelbaren Eindruck verschafft (§ 50 b Abs. 1 FGG). Zu diesen Verfahren zählt auch das vorliegende Verfahren, innerhalb dessen die Eltern um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das betroffene Kind und damit um einen wesentlichen Teilbereich der elterlichen Sorge streiten. Dabei richtet sich § 50 b Abs. 1 FGG an noch nicht 14 Jahre alte Kinder, da ältere Kinder, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und nicht geschäftsunfähig sind, in einem die Personensorge betreffenden Verfahren stets persönlich anzuhören sind (§ 50 b Abs. 2 Satz 1 FGG). Die Mindestaltersgrenze, ab der Kinder gem. § 50 b Abs. 1 FGG regelmäßig anzuhören sein werden, liegt bei 3 Jahren, da erst ab diesem Alter das Kind in der Lage sein wird, entsprechende Neigungen oder Bindungen bilden zu können und erkennbar werden zu lassen (BayObLG a.a.O.; Keidel/Kuntze/Winkler-Engelhardt, FGG, 14. Aufl. 1999 § 50 a Rn. 11). Wegen der Bedeutung einer Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sind in diesen Verfahren Kinder ab einem Alter von 3 Jahren daher regelmäßig anzuhören (s. auch BayObLG a.a.O.).

Entgegen den von dem Antragsteller in seinem Schriftsatz vom 24. September 2002 geäußerten Bedenken an den Fähigkeiten des betroffenen Kindes, kindgerechte Fragen beantworten zu können, war auch im vorliegenden Fall eine Anhörung des betroffenen Sohnes geboten. Woraus sich für den Antragsteller, abgesehen von dem allgemeinen Hinweis auf das junge Alter des Kindes, diese Bedenken ergeben, hat dieser nicht näher substantiiert. Zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung, die am 8. Mai 2002 erfolgte, stand das betroffene Kind etwa einen Monat vor der Vollendung seines 4. Lebensjahres, weshalb schon deshalb aus allgemeinen Erwägungen keine Bedenken an seiner Vernehmung bestehen. Ferner ist der betroffene Sohn im laufenden Verfahren zumindest von der Verfahrenspflegerin bereits im Februar 2002 angehört worden (vgl. das Schreiben der Verfahrenspflegerin vom 26. Februar 2002, Bl. 171 d.

A.) und hat seinen Willen dabei äußern können, ohne dass sich hieraus Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Vernehmungsfähigkeit ergeben.

Sofern die Anhörung gem. § 50 b FGG geboten ist, darf nur aus schwerwiegenden Gründen davon abgesehen werden (§ 50 b Abs. 3 Satz 1 FGG). Die Anhörungspflichten sind deshalb grundsätzlich zwingend (BayObLG FamRZ 1987, 87, 88; Keidel/Kuntze/Winkler-Engelhardt a.a.O. § 50 a Rn. 10 und § 50 b Rn. 5). Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen zu veranlassen und die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen, § 12 FGG. Diese Aufklärungspflicht wird durch die Anhörungspflichten konkretisiert (BGH FamRZ 1984, 1084, 1085 f; BayObLG a.a.O.); zudem dient die Aufklärungspflicht der Gewährung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG. Das Kind ist daher grundsätzlich persönlich, also mündlich, anzuhören. Zum einen soll sich das Gericht damit einen Eindruck von dem Anzuhörenden verschaffen, was für die Entscheidungsfindung von wesentlicher Bedeutung ist (BayObLG a.a.O. sowie FamRZ 1997, 223, 224; vgl. auch BVerfGE 55, 171, 182 f). Zum anderen trifft gerade auf Kinder die Erwägung zu, dass diese sich nicht hinreichend schriftlich äußern können und bei einer schriftlichen Anhörung daher die Gefahr einer Beeinflussung durch die Eltern besonders groß ist (OLG Köln, FamRZ 1997, 1549; Keidel/Kuntze/Winkler-Engelhardt a.a.O. § 50 b Rn. 1).

Eine mündliche Anhörung des bei Erlass der angefochtenen Entscheidung annähernd vier Jahre alten betroffenen Kindes ist nicht erfolgt. Will das Gericht von einer Kindesanhörung absehen, so muss es wegen der Bedeutung der zwingend vorgeschriebenen Anhörung die dafür leitenden Gründe darlegen (BGH FamRZ 1984, 1084, 1086). Daran fehlt es; weder im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2002 (Bl. 203 d. A.) noch in den Gründen des angefochtenen Beschlusses ist eine Begründung für ein Absehen von der Anhörung erfolgt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe erkennbar, die ein Absehen von der vorgeschriebenen Anhörung rechtfertigen würden. Insbesondere die Befürchtung einer ernstzunehmenden psychischen oder physischen Beeinträchtigung des betroffenen Kindes, die einen schwerwiegenden Grund im Sinne von § 50 b Abs. 3 Satz 1 FGG darstellen könnte (OLG Köln FamRZ 1997, 1549; BayObLG FamRZ 1987, 87, 88; Staudinger-Peschel-Gutzeit a.a.O. Rn. 398; Keidel/Kuntze/Winkler-Engelhardt a.a.O. § 50 b Rn. 27), ist nicht ersichtlich.

Die angefochtene Entscheidung beruht auf der verfahrensfehlerhaft unterlassenen Anhörung des betroffenen Kindes. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn die vorgeschriebene Anhörung durchgeführt worden wäre. Ausreichend für die Aufhebung bei Verfahrensverstößen ist es, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Verstoß beruhen kann und diese Möglichkeit sich nicht ausschließen lässt (BayObLG FamRZ 1997, 223, 225; Keidel/Kuntze/Winkler-Kahl a.a.O. § 27 Rn. 18). Zudem hat das Amtsgericht mit dem Unterlassen der gebotenen Anhörung gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verstoßen. Auch bei einem Verstoß gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Mangel beruhen kann, weshalb eine Zurückverweisung geboten ist (vgl. nur Keidel/Kuntze/Winkler-Kahl a.a.O. § 27 Rn. 66).

Aus diesen Gründen kann bereits dahinstehen, ob dem Amtsgericht nicht ein weiterer schwerer Verfahrensverstoß insoweit vorzuwerfen ist, als es kein Sachverständigengutachten eingeholt hat, worin ein Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht gemäß § 12 FGG zu sehen sein könnte. Jedenfalls aber hätte das Amtsgericht über die Einholung oder Nichteinholung eines Gutachtens erst dann abschließend entscheiden können, wenn auch das betroffene Kind persönlich angehört worden wäre. Insoweit ist nicht auszuschließen, dass nach der noch durchzuführenden Anhörung des betroffenen Kindes das Amtsgericht entgegen der in dem angefochtenen Beschluss getroffenen Begründung nunmehr doch zu der Auffassung gelangt, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich sei.

Auch aus diesem Grunde ist es offen, ob neben der Anhörung des betroffenen Kindes noch weitere Maßnahmen erforderlich sind, weshalb keine Entscheidungsreife gegeben und auch aus diesem Grunde die Aufhebung der getroffenen Entscheidung und Zurückverweisung des Verfahrens an das Amtsgericht geboten erscheint.

Die Entscheidung zum Beschwerdewert beruht auf §§ 94 Abs. 2 S. 1, 30 Abs. 2 und 3 KostO.

Ende der Entscheidung

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