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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 30.09.1998
Aktenzeichen: 5 AZR 58/98
Rechtsgebiete: BBiG, HandwO


Vorschriften:

BBiG § 14 Abs. 3
BBiG § 29 Abs. 3
HandwO § 27 a Abs. 3
Kann der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen, so verlängert sich das Ausbildungsverhältnis auf sein Verlangen bis zur nächst-möglichen Wiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr (§ 14 Abs. 3 BBiG analog).
Im Namen des Volkes! Urteil

5 AZR 58/98

Verkündet am 30. September 1998

In Sachen

pp.

hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30. September 1998 durch den Vorsitzenden Richter Griebeling, die Richter Dr. Reinecke und Kreft sowie durch die ehrenamtlichen Richter Sappa und Dittrich für Recht erkannt:

1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 22. September 1997 - 11 Sa 582/97 - wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs im Zusammenhang mit der Frage, wann das Ausbildungsverhältnis der Klägerin geendet hat.

Die Parteien schlossen am 1. Juni 1993 einen Berufsausbildungsvertrag. Danach sollte die Klägerin - nach einer zehnmonatigen Ausbildung in einem anderen Friseursalon - in der Zeit vom 1. Juni 1993 bis zum 31. Juli 1995 weiter zur Friseurin ausgebildet werden. Im dritten Lehrjahr betrug die Vergütung 770,00 DM pro Monat. Die Klägerin erzielte in der Zwischenprüfung ausgezeichnete Ergebnisse. Die Abschlußprüfung war für die Zeit vom 12. bis zum 26. Juni 1995 vorgesehen. Daran nahm die Klägerin nicht teil. Für die Zeit vom 9. Juni bis zum 5. Juli 1995 legte sie dem Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.

Anschließend verlangte sie zunächst persönlich und dann mit Anwaltsschreiben vom 13. Juli 1995 vom Beklagten die Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses bis zur nächsten Prüfungsgelegenheit. Das lehnte der Beklagte ab. Die Klägerin rief den Ausschuß zur Schlichtung von Lehrlingsstreitigkeiten bei der Friseur-Innung Frankfurt am Main an. Dieser erließ in der mündlichen Verhandlung vom 22. August 1995 einen Spruch, wonach das Berufsausbildungsverhältnis zwischen den Parteien "mit Ablauf der Ausbildungszeit, nämlich dem 31. Juli 1995 beendet" sei. Mit Schreiben vom 30. August 1995 beantragte die Klägerin bei der Handwerkskammer Rhein-Main eine Verlängerung der Ausbildungszeit gemäß § 29 Abs. 3 BBiG. Diese bat mit Schreiben vom 17. November 1995 noch um ergänzende Auskünfte. Am 29. Januar 1996 bestand die Klägerin die Abschlußprüfung. Ihr Verlängerungsantrag war bis zu diesem Zeitpunkt nicht beschieden worden.

Mit ihrer am 6. September 1995 bei Gericht eingegangenen Klage hat die Klägerin zunächst die Feststellung begehrt, daß ihr Ausbildungsverhältnis nicht am 31. Juli 1995 endete, sondern darüber hinaus fortbestand. Sie begehrt nunmehr - nach Bestehen der Gesellenprüfung - Zahlung der Ausbildungsvergütung bis zum 29. Januar 1996 in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie hat vorgetragen: Ihr Ausbildungsverhältnis habe sich gemäß § 14 Abs. 3 BBiG über den 31. Juli 1995 hinaus bis zum 29. Januar 1996 verlängert. Da sie infolge ihrer Erkrankung an der Prüfung im Juli 1995 nicht habe teilnehmen können, habe sie diese nicht bestanden. Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie DM 4.495,80 brutto nebst 4 % Zinsen aus jeweils DM 770,00 brutto seit dem 1. Sep-tember 1995, dem 1. Oktober 1995, dem 1. November 1995, dem 1. Dezember 1995 und dem 1. Januar 1996 und aus DM 645,80 brutto seit dem 1. Februar 1996 zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat vorgetragen: Das Ausbildungsverhältnis habe wie vertraglich vereinbart am 31. Juli 1995 geendet. Die Klägerin habe schon im Juni 1995 angekündigt, sie wolle ihre Ausbildungszeit möglichst ausdehnen, um ihrem Vater in Bezug auf dessen fortdauernde Unterhaltspflichten "einŽs auszuwischen". § 14 Abs. 3 BBiG sei nur anzuwenden, wenn eine Prüfung infolge von Ausbildungsmängeln nicht bestanden werde und deshalb eine "Nachlehre" erforderlich sei. Für Fälle wie den vorliegenden ermöglichten § 29 Abs. 3 BBiG, § 27 a Abs. 3 HandwO die erforderliche Verlängerung der Ausbildung.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit seiner Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung der Ausbildungsvergütung für die Zeit bis zum 29. Januar 1996. Das ergibt sich aus § 615 BGB in Verbindung mit dem Berufsausbildungsvertrag. Das Ausbildungsverhältnis hat sich bis zu diesem Zeitpunkt verlängert. Der Beklagte befand sich in Annahmeverzug.

I. Die Klage ist zulässig. Ihr ist die Verhandlung vor dem Ausschuß zur Schlichtung von Lehrlingsstreitigkeiten als der zuständigen Stelle vorangegangen. Die Klage ist rechtzeitig erhoben. Nach § 111 Abs. 2 Satz 3 ArbGG ist binnen zwei Wochen nach ergangenem Spruch Klage beim zuständigen Arbeitsgericht zu erheben. § 9 Abs. 5 ArbGG gilt entsprechend. Es kann hier dahinstehen, wann der vollständige Spruch der Klägerin zugestellt worden ist. Selbst wenn dies schon am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Ausschuß, dem 22. August 1995, geschehen sein sollte, ist die am 6. September 1995 bei Gericht eingegangene Klage nicht verspätet. Da dem Beschluß eine Rechtsmittelbelehrung nicht beigefügt war, galt die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG. Diese Frist ist in jedem Fall gewahrt.

II. Die Vorinstanzen haben die Auffassung vertreten, das Ausbildungsverhältnis der Klägerin habe sich bis zum 29. Januar 1996 verlängert, da § 14 Abs. 3 BBiG auch bei entschuldigtem Fehlen in der Abschlußprüfung anzuwenden sei. Dem ist zuzustimmen (ebenso LAG Rheinland-Pfalz Urteil vom 5. März 1985 - 3 Sa 984/84 - EzB § 14 Abs. 3 BBiG Nr. 10; LAG Hamm Urteil vom 18. September 1996 - 9 Sa 2341/95 - juris; Sarge, DB 1993, 1034; Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., 1995, § 14 Rz 12; Gedon/Spiertz, Berufsbildungsrecht, Stand Mai 1998, BBiG § 14 Rz 23; KR-Weigand, 4. Aufl., §§ 14, 15 BBiG Rz 25; a. A. ArbG Berlin, Urteil vom 5. Dezember 1985 - 1 Ca 281/85 - EzB § 29 Abs. 3 Nr. 3; Herkert, BBiG, Stand 15. Juni 1998 § 14 Rz 7 b).

1. Nach § 14 Abs. 3 BBiG verlängert sich das Ausbildungsverhältnis auf Verlangen des Auszubildenden, wenn er die Abschlußprüfung "nicht besteht". Welche Folgen das entschuldigte Fehlen in der Abschlußprüfung für das Berufsausbildungsverhältnis hat, ist weder im Berufsbildungsgesetz noch in der Handwerksordnung ausdrücklich geregelt. Die Vorinstanzen haben § 14 Abs. 3 BBiG für unmittelbar anwendbar gehalten. Dagegen könnte sprechen, daß sich nach dem Gesetzeswortlaut das Berufsausbildungsverhältnis bis zur nächstmöglichen "Wiederholungsprüfung" verlängert, es sich aber bei einem Fehlen in der ersten Abschlußprüfung im zweiten Prüfungstermin um die erste Prüfung, und nicht um eine Wiederholungsprüfung handelt. Doch kann dies im Ergebnis dahinstehen. Denn zumindest ist § 14 Abs. 3 BBiG analog anzuwenden, wenn der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bei der Abschlußprüfung fehlt.

a) Es handelt sich um eine planwidrige Gesetzeslücke. Die Ähnlichkeit beider Tatbestände (Nichtbestehen und Fehlen wegen Krankheit) erfordert es, die Rechtsfolge aus § 14 Abs. 3 BBiG auf den hier vorliegenden Tatbestand zu erstrecken.

Der erkennbare Sinn des § 14 Abs. 3 BBiG geht dahin, daß das Berufsausbildungsverhältnis nach Möglichkeit erfolgreich, das heißt mit dem Bestehen der Abschlußprüfung abgeschlossen wird. Der Auszubildende, der die Prüfung nicht bestanden hat, soll weiter praktisch und theoretisch ausgebildet werden. Außerhalb des Berufsausbildungsverhältnisses ist dies in der Regel nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Deshalb ordnet § 14 Abs. 3 BBiG die Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses auf Verlangen des Auszubildenden bis zur nächstmöglichen Wiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr, an, und zwar zunächst für die Fälle, in denen der Auszubildende die Abschlußprüfung wegen schlechter Leistungen nicht besteht, sie wegen Täuschungshandlung für nicht bestanden erklärt wird oder wegen Fernbleibens von der Abschlußprüfung ohne wichtigen Grund als nicht bestanden gilt (§§ 18, 19, 23 der Musterprüfungsordnungen für die Durchführung von Abschlußprüfungen für anerkannte Ausbildungsberufe/Gesellenprüfungen, abgedruckt bei Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., § 41 Rz 13, S. 322 ff., 331 ff.).

Im Fall des Nichtbestehens wegen schlechter Leistungen geht es um die Behebung der in der Prüfung festgestellten Mängel. Gilt dagegen die Prüfung wegen Fernbleibens ohne wichtigen Grund als nicht bestanden, so kann Verlängerung nicht zur Behebung von in der Abschlußprüfung festgestellten Mängeln dienen, weil eine solche Prüfung gerade nicht stattgefunden hat. § 14 Abs. 3 BBiG dient also schon in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich nicht ausschließlich dazu, dem Auszubildenden, der seine Abschlußprüfung nicht besteht, die fehlenden Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln (entgegen Herkert, aaO). Auch bei grundlosem Fernbleiben von der Prüfung oder Täuschungshandlung soll der Auszubildende eine weitere Chance erhalten. Diese soll sich nicht wegen vorzeitiger Beendigung des Ausbildungsverhältnisses verschlechtern.

Ähnlich ist die Interessenlage, wenn der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen kann. Auch dessen Chancen, die Prüfung beim nächsten Termin zu bestehen oder eine gute Note zu erreichen, würden sich ohne Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses verschlechtern. Das gilt für alle Ausbildungsberufe unabhängig von den Ergebnissen etwaiger Zwischenprüfungen. Es läge fern anzunehmen, der Gesetzgeber habe den Auszubildenden, der wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen kann, hinsichtlich der Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses schlechter stellen wollen als den Auszubildenden, der die Prüfung zwar ablegt, aber nicht besteht.

b) Die Vorschriften der §§ 29 Abs. 3 BBiG, 27 a Abs. 3 HandwO stehen dieser Analogie nicht entgegen. Hiernach kann die zuständige Stelle bzw. Handwerkskammer "in Ausnahmefällen" auf Antrag des Auszubildenden bzw. Lehrlings "die Ausbildungszeit verlängern, wenn die Verlängerung erforderlich ist, um das Ausbildungsziel zu erreichen". Diese Vorschriften enthalten eine sehr weit gefaßte Härteregelung, die auch solche Fälle erfaßt, in denen sich das Ausbildungsverhältnis nicht schon aufgrund gesetzlicher Regelung verlängert. Auch außergewöhnliche Fallgestaltungen sollen auf diesem Wege einer angemessenen Regelung zugeführt werden können. Es geht dabei um Fälle, in denen bereits vor der Prüfung abzusehen ist, daß eine Verlängerung erforderlich ist, und in denen eine Entscheidung darüber vor dem Prüfungstermin ergehen kann. Dabei kann es sich beispielsweise um Ausfallzeiten während der Ausbildung sowie um gesundheitliche Behinderungen des Auszubildenden handeln. In dem "Beschluß des Bundesausschusses für Berufsbildung vom 25. Oktober 1974 betreffend Kriterien zur Abkürzung und Verlängerung der Ausbildungszeit" (abgedruckt bei Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., § 29 Rz 9) heißt es dazu:

"3. Verlängerung der Ausbildungszeit

...

3.2. ...

Als Ausnahmegründe sind z. B. anzusehen: Erkennbare schwere Mängel in der Ausbildung, längere, vom Auszubildenden nicht zu vertretende Ausfallzeiten sowie körperliche, geistige oder seelische Behinderungen des Auszubildenden."

§ 29 Abs. 3 BBiG, § 27 a Abs. 3 HandwO betreffen mithin wirkliche "Ausnahmefälle", nicht den eher alltäglichen, jedenfalls nicht ungewöhnlichen Fall, daß der Auszubildende wegen Krankheit an der Prüfung nicht teilnehmen kann.

Damit scheidet auch eine analoge Anwendung der §§ 29 Abs. 3 BBiG, 27 a Abs. 3 HandwO aus. Sie wäre nicht sachgemäß. Die Verlängerung der Ausbildung im Fall der Nichtteilnahme wegen Krankheit erscheint regelmäßig sinnvoll. Es geht insoweit nicht um die Würdigung individueller Umstände. Im übrigen kann die Durchführung des Verfahrens nach § 29 Abs. 3 BBiG, § 27 a Abs. 3 HandwO zu Verzögerungen führen. Das zeigt der Streitfall eindrucksvoll. Es mag sein, daß die Handwerkskammer noch vor dem 29. Januar 1996, dem nächsten Prüfungstermin, entschieden hätte, wenn die Klägerin ihren Antrag gleich nach Ablauf der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit gestellt hätte. Die Handwerkskammer war aber offenbar nicht in der Lage, in den knapp fünf Monaten zwischen Antragstellung (30. August 1995) und Prüfung (29. Januar 1996) eine Entscheidung zu fällen. Erst am 17. November 1995, also mehr als zehn Wochen nach Antragstellung forderte sie von der Klägerin ergänzende Auskünfte. Derartige Verzögerungen sind nicht erträglich und dem Auszubildenden, der die erste Prüfung wegen Krankheit nicht hat ablegen können, nicht zuzumuten.

2. Das Ausbildungsverhältnis zwischen den Parteien hat sich auf Verlangen der Klägerin bis zum 29. Januar 1996 verlängert. Die Klägerin war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts arbeitsunfähig krank. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Beklagte habe den hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellter ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit seinem Vortrag nicht erschüttert. Diese Feststellung ist für den Senat nach § 561 ZPO bindend. Eine Verfahrensrüge nach § 554 Abs. 3 Nr. 3 b ZPO hat der Beklagte nicht erhoben.

Ende der Entscheidung

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