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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesarbeitsgericht
Beschluss verkündet am 18.05.2004
Aktenzeichen: 9 AZN 653/03
Rechtsgebiete: ArbGG


Vorschriften:

ArbGG § 72 Abs. 2
ArbGG § 72a Abs. 1
ArbGG § 72a Abs. 3
1. Die Beschwerde wegen Divergenz kann auch damit begründet werden, das Berufungsgericht habe in seiner nur scheinbar fallbezogenen Würdigung einen verdeckten divergierenden Rechtssatz aufgestellt.

2. Die Divergenzbeschwerde ist in diesem Fall nur dann begründet, wenn sich aus der Entscheidungsbegründung des Berufungsgerichts zwingende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Berufungsgericht den von der Beschwerde formulierten Rechtssatz seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat. Davon kann nicht ohne Weiteres ausgegangen werden, wenn die Beschwerde geltend macht, das Berufungsgericht habe verdeckt den Rechtssatz aufgestellt, bestimmte rechtliche Gesichtspunkte seien unbeachtlich.

3. Hat das Berufungsgericht einen gesetzlich oder von der Rechtsprechung vorgeschriebenen rechtlichen Gesichtspunkt lediglich unberücksichtigt gelassen, so liegt darin ein Rechtsanwendungsfehler. Dieser kann nicht im Beschwerdeverfahren, sondern nur im Rahmen eines statthaften Revisionsverfahrens überprüft werden.


Hinweise des Senats: Bestätigung und Fortführung Senat 14. Februar 2001 - 9 AZN 878/00 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 42 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 93; BAG 10. Dezember 1997 - 4 AZN 737/97 - AP ArbGG 1979 § 72a Nr. 40 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 83; 10. Juli 1984 - 2 AZN 337/84 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 15 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 44

BUNDESARBEITSGERICHT BESCHLUSS

9 AZN 653/03

In Sachen

hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 18. Mai 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Düwell, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Reinecke, den Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Zwanziger, die ehrenamtlichen Richter Trümner und Lang beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juni 2003 - 21 Sa 46/02 - wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Der Streitwert wird auf 53.685,65 Euro festgesetzt.

Gründe:

I. Die Klägerin wendet sich gegen die Wirksamkeit von Kündigungen, von denen die erste während der Probezeit ausgesprochen worden ist.

Die Klägerin trat am 1. Oktober 1998 bei dem beklagten Landkreis eine Stelle als leitende Abteilungsärztin (Chefärztin) in einer Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe an. Am 12. November 1998 beschwerte sich die Klägerin bei der Krankenhausleitung über schwerwiegende Behandlungsfehler und unterlassene Patientenaufklärungen durch ihren Stellvertreter, den Oberarzt Dr. S. Sie schrieb, das Vertrauensverhältnis sei aufs Schwerste gestört. Dr. S. sei lediglich noch in nachgeordneter Funktion als Weiterbildungsassistent oder allenfalls als Funktionsarzt einsetzbar. Der beklagte Landkreis sah das Vorgehen der Klägerin als völlig unangemessen an. Er rügte eine mangelnde Sozialkompetenz und kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 4. Dezember 1998 sowie erneut mit Schreiben vom 24. September 1999.

Das Arbeitsgericht hat der Feststellungsklage stattgegeben. Auf die Berufung des beklagten Landkreises hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. Hiergegen richtet sich die auf Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin.

II. Die Beschwerde ist teilweise unzulässig und teilweise unbegründet.

1. Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie sich auf Divergenz zu der Auffassung von Deiseroth, Whistleblowing in Zeiten von BSE, Berlin 2001, Seite 177 beruft. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren können nur Abweichungen von Rechtssätzen geltend gemacht werden, die in Entscheidungen der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG aufgeführten Gerichte enthalten sind. Denn die Divergenzbeschwerde dient nicht der Auseinandersetzung mit Schrifttum und Lehre, sondern der Vereinheitlichung der Rechtsprechung durch das Bundesarbeitsgericht (vgl. Senat 28. April 1998 - 9 AZN 227/98 - BAGE 88, 296). Abweichungen von Literaturmeinungen sind daher unbeachtlich.

Der mit Schriftsatz vom 24. November 2003 vorgebrachte Hinweis auf das von Deiseroth zitierte Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 1972 - 2 AZR 115/72 - ist unbeachtlich. Weder ist er innerhalb der am 17. November 2003 abgelaufenen Begründungsfrist (§ 72a Abs. 3 Satz 1 ArbGG) eingegangen, noch zeigt er einen bestimmten Rechtssatz auf, von dem die anzufechtende Entscheidung abgewichen sein soll.

a) Die Revision ist nach § 72a, § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG zuzulassen, wenn das Landesarbeitsgericht in dem anzufechtenden Urteil einen die Entscheidung tragenden fallübergreifenden Rechtssatz aufgestellt hat, der in derselben Rechtsfrage von einem Rechtssatz abweicht, den das Bundesarbeitsgericht oder eines der anderen in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG genannten Gerichte in einer divergenzfähigen und von der Beschwerde herangezogenen Entscheidung aufgestellt hat.

b) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

aa) Die Klägerin hat dargelegt, das Berufungsgericht habe "unausgesprochen" folgenden Rechtssatz aufgestellt:

"daß der öffentliche Arbeitgeber als Träger eines Krankenhauses selbst dann lediglich nachvollziehbare und vertretbare Motive für seinen Kündigungsentschluß und darlegen muß, wenn diese Motive gegen die vertraglichen ärztlichen Rechte und Pflichten des angestellten Chefarztes abzuwägen sind, der Leib und Leben der ihm anvertrauten Patienten vor einem Experimentalmedizin betreibenden leitenden Oberarzt zu schützen hat."

Zwar kann das Vorhandensein einer Divergenz angenommen werden, wenn das Landesarbeitsgericht seiner rechtlichen Würdigung einen verdeckten Rechtssatz zugrunde gelegt hat (vgl. Senat 14. Februar 2001 - 9 AZN 878/00 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 42 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 93). In einem derartigen Fall muss sich jedoch aus der Begründung der anzufechtenden Entscheidung zweifelsfrei ergeben, ob und welchen verdeckten Rechtssatz das Landesarbeitsgericht aufgestellt hat (vgl. BAG 10. Juli 1984 - 2 AZN 337/84 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 15 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 44). Der besondere institutionelle Zweck der Divergenzbeschwerde verwehrt dem Beschwerdegericht nämlich, in eine dem Revisionsverfahren vorbehaltene Fehlerkontrolle des Berufungsurteils einzutreten. Daher genügt es für die Annahme eines verdeckt aufgestellten Rechtssatzes nicht, wenn sich ein von der Beschwerde formulierter Rechtssatz widerspruchsfrei in die Entscheidungsgründe des Berufungsgerichts einfügen lässt. Ansonsten würde jede fehlerhaft unterlassene Berücksichtigung eines rechtlichen Gesichtspunktes stets als Aufstellen eines eigenständigen Rechtssatzes gewertet (das zu Recht ablehnend: BAG 10. Dezember 1997 - 4 AZN 737/97 - AP ArbGG 1979 § 72a Nr. 40 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 83). Daher fordert die Rechtsprechung zur Abgrenzung gegenüber dem Revisionsverfahren, dass zwingende Anhaltspunkte für das Aufstellen eines verdeckten Rechtssatzes vorhanden sein müssen (BAG 10. Juli 1984 - 2 AZN 337/84 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 15 = EzA ArbGG 1979 § 72a Nr. 44; 4. August 1981 - 3 AZN 107/81 - AP ArbGG 1979 § 72a Divergenz Nr. 9). Diese Anhaltspunkte können sich auch aus prozessleitenden Verfügungen oder Beweisbeschlüssen ergeben (ArbGV-Bepler § 72a Rn. 30).

Daran fehlt es hier. Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung als nicht willkürlich angesehen, weil - wie berechtigt auch die gegen Dr. S. erhobenen Vorwürfe möglicherweise gewesen seien - die Klägerin "die bei der Lösung der deutlich erkennbaren Konfliktlage erforderliche kritische kühle Distanz" habe vermissen lassen. Dem Landkreis sei es deshalb nicht zuzumuten gewesen abzuwarten, ob sich seine negative Prognose hinsichtlich der Personalführungskompetenz der Klägerin bewahrheite. Ob das Landesarbeitsgericht bei seiner rechtlichen Würdigung auch die von der Klägerin geltend gemachten berufsethischen Fragen, insbesondere hinsichtlich des Schutzes der Patienten gebührend berücksichtigt hat, ist eine Frage der richtigen Rechtsanwendung. Aus den einzelfallbezogenen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts kann jedenfalls nicht zweifelsfrei entnommen werden, dass das Landesarbeitsgericht dazu den von der Beschwerde formulierten fallübergreifenden Rechtssatz aufstellen wollte.

bb) Ferner fehlt es an einer rechtserheblichen Divergenz, weil die von der Beschwerde in den herangezogenen Entscheidungen aufgezeigten Rechtssätze nicht zu ein und derselben Rechtsfrage ergangen sind. Während der von der Beschwerde der anzufechtenden Entscheidung entnommene "verdeckte" Rechtssatz die Frage betrifft, welche Gesichtspunkte bei der Missbrauchskontrolle einer Kündigung in der Probezeit zu berücksichtigen sind, enthalten die den herangezogenen Entscheidungen entnommenen Rechtssätze Aussagen zur Schutzpflicht staatlicher Organe (BVerfG 14. Januar 1981 - 1 BvR 612/72 - BVerfGE 56, 54), zur Bedeutung der Zeugenpflicht für die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung (2. Juli 2001 - 1 BvR 2049/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 n.F. Nr. 188) und zur Berücksichtigung eines Gewissenskonflikts im Rahmen des billigen Ermessens nach § 315 BGB (BAG 24. Mai 1989 - 2 AZR 285/88 - BAGE 62, 59).

c) Letztlich geht es der Klägerin um eine Fehlerkontrolle des Berufungsurteils. Dieser in § 72a ArbGG nicht vorgesehene Zulassungsgrund wird in der eigenen Zusammenfassung der Beschwerdebegründung (Seite 11 des Schriftsatzes vom 17. November 2003) offen angesprochen:

"daß das Landesarbeitsgericht das verfassungsrechtliche Gebot der Risikovorsorge und Gefahrenabwehr bei der Würdigung der zur Rechtfertigung der Probezeitkündigung vom Beklagten vorgetragenen Gründe übersehen hat. Das anzufechtende Urteil beruht auf diesem Fehler, weshalb beantragt wird, die Revision zuzulassen."

Die von der Beschwerde gewünschte Fehlerkontrolle ist dem Beschwerdegericht verwehrt. Das Beschwerdegericht ist nach § 72a Abs. 1 iVm. § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG nur zur Prüfung von Rechtssatzdivergenzen befugt.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 25 Abs. 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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