Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 20.06.2000
Aktenzeichen: 9 AZR 437/99
Rechtsgebiete: BUrlG, MTV Eisen- u. Stahlindustrie


Vorschriften:

BUrlG § 1
BUrlG § 11
Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen- und Stahlindustrie von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Dillenburg, Niederschelden und Wissen (MTV Stahl) vom 15. März 1989 § 15
Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen- und Stahlindustrie von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Dillenburg, Niederschelden und Wissen (MTV Stahl) vom 15. März 1989 § 20 Ziff. 1
Leitsätze:

Bei der Bemessung des Urlaubsentgelts nach § 15 Ziff. 1, § 20 Ziff. 1.2 Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen- und Stahlindustrie von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Dillenburg, Niederschelden und Wissen (MTV Stahl) ist die Vergütung für Rufbereitschaft als variabler Lohnbestandteil zu berücksichtigen.

Aktenzeichen: 9 AZR 437/99

Bundesarbeitsgericht 9. Senat Urteil vom 20. Juni 2000 - 9 AZR 437/99 -

I. Arbeitsgericht Bremen Urteil vom 23. Juli 1998 - 8 Ca 8439/97 -

II. Landesarbeitsgericht Bremen Urteil vom 10. Juni 1999 - 4 Sa 284/98 -


BUNDESARBEITSGERICHT Im Namen des Volkes! URTEIL

9 AZR 437/99 4 Sa 284/98

Verkündet am 20. Juni 2000

Klapp, Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

In Sachen

Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,

pp.

Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,

hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Prof. Dr. Leinemann, den Richter am Bundesarbeitsgericht Düwell, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Reinecke, die ehrenamtlichen Richter Furche und Ott für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 10. Juni 1999 - 4 Sa 284/98 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

Tatbestand

Die Parteien haben die Anwendung der Tarifverträge der Stahlindustrie auf ihr Arbeitsverhältnis vereinbart. Sie streiten, ob bei der Bemessung des tariflichen Urlaubsentgelts die Vergütung für Rufbereitschaft zu berücksichtigen ist.

Der Kläger wird seit Dezember 1966 in dem Stahlwerk der Beklagten beschäftigt. Er ist dort zur Zeit als Prüfbeauftragter tätig und leistet regelmäßig Rufbereitschaft, deren Bedingungen in einer Betriebsvereinbarung wie folgt geregelt sind:

"1.2 Sachlicher Geltungsbereich

Als Rufbereitschaft gilt die Zeit, in der sich ein Arbeitnehmer - ohne im Betrieb anwesend zu sein - für einen eventuellen Einsatz bereithalten muß.

...

2.4 Zeitraum

Die in der Arbeitszeitordnung festgelegte Höchstarbeitszeit darf nicht überschritten werden, so daß der betroffene Arbeitnehmer nur im Rahmen des Zumutbaren belastet wird. Aus diesen Gründen ist für die Rufbereitschaft ein Wochenturnus anzustreben, wobei der einzelne Mitarbeiter in der Regel höchstens einmal im Monat zu einer vollen Woche Rufbereitschaft eingeteilt wird. Ausnahmen sind nur in besonders zu begründenden Fällen zu vereinbaren.

...

3. Vergütung

Die Vergütung für die Rufbereitschaft wird wie folgt geregelt:

Die Vergütung der Rufbereitschaft basiert auf dem jeweils gültigen Tarifgehalt der Gruppe M3/3.

Der Stundensatz beträgt

von montags bis freitags

15 %

an Samstagen, Sonntagen und Wochenfeiertagen

22 %

und an hohen Feiertagen gemäß § 7 Ziffer 1.2.8 und 1.2.10 Manteltarifvertrag

33 %

des festgelegten Teilungsfaktors."

Die Beklagte gewährte dem Kläger im Oktober 1997 zehn Tage Urlaub. Abweichend von ihrer bisherigen Praxis berücksichtigte sie bei der Bemessung des Urlaubsentgelts keine Rufbereitschaftszeiten.

Die maßgeblichen Bestimmungen des Manteltarifvertrags für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen- und Stahlindustrie von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Dillenburg, Niederschelden und Wissen vom 15. März 1989 (MTV Stahl) lauten:

"§ 15

Urlaubsentgelt

1. Während des Urlaubs ist der regelmäßige Arbeitsverdienst (§ 20) weiterzuzahlen.

...

§ 20

Berechnung des Arbeitsverdienstes

1. Berechnung des regelmäßigen Arbeitsverdienstes

In allen Fällen, in denen dieser Tarifvertrag Anspruch auf Zahlung des "regelmäßigen Arbeitsverdienstes" regelt, sowie bei Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall wird für die Berechnung des regelmäßigen Arbeitsverdienstes folgendes zugrunde gelegt:

1.1 Der gleichmäßige Monatslohn/das Monatsgehalt wird nicht gekürzt.

1.2 Die variablen Lohn- bzw. Gehaltsbestandteile werden aus dem Durchschnitt der letzten 6 abgerechneten Monate berechnet. Sind in den letzten 6 abgerechneten Monaten insgesamt weniger als 160 Soll-Arbeitsstunden geleistet worden, wird der zuletzt ermittelte Durchschnittswert oder - soweit dies nicht möglich ist - der Durchschnitt zugrunde gelegt, der sich bei planmäßiger Arbeit in dem Abrechnungsmonat ergeben hätte, in dem der Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt.

...

Variable Lohn- und Gehaltsbestandteile sind die Bestandteile des monatlichen Arbeitsentgelts, auf die über den gleichmäßigen Monatslohn/das Monatsgehalt hinaus ein Lohn- oder Gehaltsanspruch besteht. Dazu gehören insbesondere: Vergütungen für Mehrarbeit, Reisezeit; Zuschläge für Mehr-, Spät-, Nacht-, Samstags-, Sonntags- und Feiertagsarbeit; Zulagen für außergewöhnliche Belastungen; betrieblich vereinbarte bewegliche Prämienbestandteile und Leistungszulagen, Akkordmehrverdienste sowie Provisionen.

Einmalige Zuwendungen, Leistungen, die Aufwendungsersatz darstellen (z.B. Auslösungen, soweit sie nicht Arbeitsentgelt sind), Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld und dergleichen sind keine variablen Lohn- oder Gehaltsbestandteile und zählen deshalb nicht zum regelmäßigen Arbeitsverdienst."

Der Kläger hat die Entgeltabrechnung der Beklagten beanstandet und verlangt, entsprechend der bisherigen Praxis die in den letzten sechs Monaten vor Urlaubsantritt geleisteten Rufbereitschaften zu berücksichtigen.

Mit der am 4. Dezember 1997 erhobenen Klage hat der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 212,90 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. November 1997 auf den sich hieraus ergebenen Nettobetrag zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte weiterhin die Klageabweisung.

Entscheidungsgründe

I. Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das arbeitsgerichtliche Urteil zurückgewiesen. Nach § 15 MTV Stahl hat der Kläger einen Anspruch darauf, daß die Beklagte ihm den regelmäßigen Arbeitsverdienst während des Urlaubs weiter zahlt. Zur Bemessung dieses Anspruchs sind nach § 20 Ziff. 1.2 MTV Stahl alle variablen Lohnbestandteile entsprechend dem Durchschnitt der letzten sechs abgerechneten Monate zu berücksichtigen. Die Vergütung für die Rufbereitschaft ist ein variabler Entgeltbestandteil. Das ergibt die Auslegung des § 20 Ziff. 1.2 MTV Stahl.

1. Entgegen der Rüge der Revision setzt der von den Tarifvertragsparteien in §§ 15, 20 MTV Stahl verwandte Begriff "Arbeitsverdienst" nicht voraus, daß der Arbeitnehmer Arbeit im physikalischen Sinne geleistet hat.

Der Begriff "Arbeitsverdienst" dient als urlaubsrechtlicher Fachbegriff zur Bemessung des Urlaubsentgelts in § 11 Abs. 1 BUrlG. Er wird dort zur Kennzeichnung der Gegenleistung verwandt, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für die im Abrechnungszeitraum erbrachten Dienste nach § 611 BGB geschuldet und vergütet hat (vgl. BAG 17. Januar 1991 - 8 AZR 644/89 - BAGE 67, 94; ErfK/Dörner § 11 BUrlG Rn. 8; Leinemann/Linck, Urlaubsrecht, § 11 BUrlG Rn. 23). Die in der Betriebsvereinbarung der Beklagten geregelte Rufbereitschaft ist ein Dienst im Sinne des § 611 BGB. Der zur Rufbereitschaft verpflichtete Arbeitnehmer muß sich außerhalb des Betriebs für einen eventuellen Arbeitseinsatz nach Ziff. 1.2 der Betriebsvereinbarung bereithalten. Der Arbeitgeber hat nach § 611 Abs. 1 BGB die Zeit, für die sich der Arbeitnehmer bereithalten muß, zu vergüten. Nach Ziff. 3 der Betriebsvereinbarung ist die Vergütung nach Stundensätzen des tariflichen Grundgehalts zu bemessen. Damit unterfallen die von der Beklagten in den letzten sechs abgerechneten Monaten vor Urlaubsantritt für den Bereitschaftsdienst gezahlten Stundensätze dem allgemeinen urlaubsrechtlichen Begriff des Arbeitsverdienstes. Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien in §§ 15, 20 MTV Stahl einen besonderen davon abweichenden Begriffsinhalt vorausgesetzt haben, sind nicht erkennbar.

2. Unzutreffend ist auch die Rüge der Revision, Rufbereitschaftsvergütungen seien mit der in § 20 Ziff. 1.2 Unterabs. 3 MTV Stahl getroffenen besonderen Regelung für variable Lohn- und Gehaltsbestandteile unvereinbar.

a) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß die Rufbereitschaftsvergütung ein zeitabhängiger variabler Bestandteil des monatlichen Arbeitsentgelts im Sinne von § 20 Ziff. 1.2 Unterabs. 3 MTV Stahl ist. Zwar gehört diese Art der Vergütung nicht zu den im § 20 Ziff. 1.2 Unterabs. 3 Satz 2 MTV Stahl ausdrücklich aufgeführten Vergütungsarten. Das ist aber unerheblich. Denn die Tarifvertragsparteien haben, wie das Wort "insbesondere" zu Beginn der Aufführung anzeigt, in Satz 2 keine abschließende Liste von berücksichtigungsfähigen Vergütungsarten aufstellen wollen. Zu dem vergleichbaren Manteltarifvertrag für die Arbeiter und Angestellten in der Metallindustrie Nord-Württemberg/Nord-Baden vom 5. Mai 1990 (dort § 4 Nr. 4.2.2) hat der Senat das bereits erkannt (BAG 21. März 1995 - 9 AZR 953/93 - Arzt und Recht 1995 Nr. 5 S 29). Auch hier haben die Tarifvertragsparteien in § 20 Ziff. 1.2 Abs. 3 MTV Stahl die berücksichtigungsfähigen variablen Entgeltbestandteile weit gefaßt. Dazu gehören alle Ansprüche, die zeitbezogen sind und auf die über den gleichmäßigen Monatslohn hinaus ein Anspruch besteht. Die Erbringung einer Arbeitsleistung im physikalischen Sinne ist nicht erforderlich. Das wird insbesondere durch die ausdrückliche Einbeziehung der für Reisezeit und Provisionen geschuldeten Vergütungen deutlich.

b) Ausgenommen sind nach § 20 Ziff. 1.2 Abs. 4 MTV Stahl lediglich einmalige Zuwendungen und Leistungen, die Aufwendungsersatz darstellen. Die für die Rufbereitschaft aufgewandte Zeit ist weder eine einmalige Zuwendung noch Aufwendungsersatz. Das verkennt die Revision, die den Vergütungsanspruch für die Rufbereitschaft als eine Entschädigung für angewandte Freizeit bezeichnet. Der Senat hat sich insoweit bereits im Urteil vom 21. März 1995 (aaO), der Rechtsprechung des Fünften Senats angeschlossen, nach der für das Bereithalten der Arbeitskraft kein Aufwendungsersatz, sondern ein Arbeitsentgelt geschuldet wird (vgl. BAG 20. Oktober 1983 - 5 AZR 674/92 - DB 1994, 1626 = EzA LohnFG § 2 Nr. 24).

c) Entgegen der Ansicht der Revision ist es unerheblich, daß die in der Betriebsvereinbarung geregelte Rufbereitschaft nicht von dem Begriff Arbeitszeit in § 2 Abs. 1 Satz 1 ArbZG erfaßt wird (vgl. dazu Küttner/Reinecke Personalbuch 2000 Stichwort Rufbereitschaft Rn. 1 und 2). Diese arbeitszeitrechtliche Begriffsbestimmung dient ausschließlich dem Zweck, den Gesundheitsschutz durch die Festlegung von Höchstarbeitszeiten zu regeln (§ 1 ArbZG). Demgegenüber ist es Inhalt der tariflichen Regelung in §§ 15, 20 MTV Stahl entsprechend § 1 BUrlG die Fortzahlung des Arbeitsentgelts während des Urlaubs sicherzustellen. Die arbeitszeitrechtliche Einordnung der Rufbereitschaft ist daher für die Auslegung der tarifvertraglichen Regeln für die Bemessung des Urlaubsentgelts ohne Bedeutung.

d) Unerheblich ist auch, daß vergütungsrechtlich zwischen der Zeit der Rufbereitschaft und der Zeit, in der gearbeitet wird, unterschieden werden muß. Dieser Unterschied ist durch die besondere Vergütungsregelung für Rufbereitschaft in Nr. 3 der Betriebsvereinbarung bedingt. Sie dient außerdem auch dazu, Normalarbeitszeit und tarifliche Mehrarbeitszeit abzugrenzen. Der zur Rufbereitschaft eingeteilte Arbeitnehmer leistet erst dann tariflich zuschlagspflichtige Mehrarbeit, wenn er im Anschluß an seine Normalarbeitszeit auch tatsächlich zur Arbeitsleistung herangezogen wird. Diese Unterscheidungen zwingen entgegen der Ansicht der Revision nicht dazu, die Vergütung für das Bereithalten der Arbeitskraft von der Bemessung des Urlaubsentgelts auszunehmen.

II. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.



Ende der Entscheidung

Zurück