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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 30.01.2002
Aktenzeichen: I R 71/00
Rechtsgebiete: KStG, EStG, HGB, EHGB


Vorschriften:

KStG § 8 Abs. 1
EStG § 5 Abs. 1 Satz 1
HGB § 249 Abs. 1 Satz 1
HGB § 246 Abs. 1
HGB § 252 Abs. 1 Nr. 4
EHGB Art. 28 Abs. 1 Satz 2
1. Für die Verpflichtung, Pensionären und aktiven Mitarbeitern während der Zeit ihres Ruhestandes in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen Beihilfen zu gewähren, ist eine Rückstellung zu bilden.

2. Der Grundsatz der Nichtbilanzierung schwebender Geschäfte hindert nicht den Ausweis einer Verbindlichkeit, die erst nach Beendigung des Schwebezustands zu erfüllen sein wird ("Verpflichtungsüberhang").


Gründe:

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Kreditinstitut. Sie gewährt Pensionären in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen eine Beihilfe auf der Grundlage einschlägiger Besoldungsgesetze in Verbindung mit Beihilfevorschriften des Bundesangestelltentarifs und von Einzelverträgen. Berechtigt sind einerseits Versorgungsempfänger und andererseits aktive Beamte und aktive versorgungsberechtigte anderweitige Arbeitnehmer für die Zeit nach Eintritt in den Ruhestand. Für diese Verpflichtung zur Beihilfegewährung begehrt die Klägerin die Berücksichtigung von Rückstellungen in den Bilanzen der Streitjahre 1990, 1991 und 1992. Dem ist der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) entgegengetreten.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben. Im Einzelnen wird auf die in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1306 abgedruckten Entscheidungsgründe verwiesen.

Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung von § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) und von § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Verbindung mit den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet, sie war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Recht hat das FG entschieden, dass die Klägerin für ihre Verpflichtung, ihren (ehemaligen) Mitarbeitern während ihres Ruhestandes Beihilfen zu zahlen, in ihren Bilanzen der Streitjahre Rückstellungen zu bilden hatte.

1. Gemäß § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG hat die Klägerin in ihren Bilanzen das Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist. Diese ergeben sich u.a. aus § 249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuches (HGB). Danach sind u.a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Ungewisse Verbindlichkeiten in diesem Sinne sind einerseits Verbindlichkeiten, die dem Grunde nach bestehen, deren Höhe aber noch ungewiss ist, und andererseits Verbindlichkeiten, deren künftiges Entstehen noch ungewiss ist, wobei die Ungewissheit der Höhe nach dazukommen kann (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. November 2001 I R 45/97, BFHE 196, 216, BStBl II 2002, BFH/NV 2001, 1334).

Im Streitfall sind ungewisse Verbindlichkeiten im letzteren Sinne zu beurteilen. Auch wenn sich nach dem "Gesetz der großen Zahl" aus der Gesamtheit der Beihilfeverpflichtungen eine Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ergeben sollte, die an Sicherheit grenzt, besteht am Bilanzstichtag noch keine gewisse Verbindlichkeit. Ihr Vorliegen würde eine dem Inhalt und der Höhe nach bestimmte Leistungspflicht voraussetzen, die erzwingbar ist und eine wirtschaftliche Belastung darstellt (BFH-Urteile vom 4. Februar 1999 IV R 54/97, BFHE 187, 418, BStBl II 2000, 139; vom 6. April 2000 IV R 31/99, BFHE 192, 64, BStBl II 2001, 536). Eine Zahlungspflicht im genannten Sinne war am Bilanzstichtag noch nicht entstanden.

2. Für dem Grunde nach ungewisse Verbindlichkeiten ist nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung eine Rückstellung zu bilden, wenn sie erstens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entstanden sind und der Steuerpflichtige daraus in Anspruch genommen wird und wenn sie zweitens ihre wirtschaftliche Verursachung im Zeitraum vor dem Bilanzstichtag finden (ständige Rechtsprechung, vgl. neuerdings etwa BFH-Urteil vom 8. November 2000 I R 10/98, BFHE 193, 406, BStBl II 2001, 349).

a) Das FG hat mit Recht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme der Klägerin bejaht. Diese wird in der Rechtsprechung mit der Formel umschrieben, dass mehr Gründe für als gegen das Entstehen der in Rede stehenden Verbindlichkeit und die künftige Inanspruchnahme des Steuerpflichtigen sprechen (BFH-Urteile vom 1. August 1984 I R 88/80, BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44; vom 2. Oktober 1992 III R 54/91, BFHE 169, 423, BStBl II 1993, 153; vom 6. Dezember 1995 I R 14/95, BFHE 180, 258, BStBl II 1996, 406; in BFHE 193, 406, BStBl II 2001, 349). Dabei ist grundsätzlich auf das einzelne Rechtsverhältnis abzustellen. Im Streitfall ist bereits aus der dem einzelnen Berechtigten gegenüber bestehenden Beihilfeverpflichtung eine Inanspruchnahme hinreichend wahrscheinlich. Denn es entspricht der Lebenserfahrung, dass beihilfeberechtigte Pensionäre im Laufe ihres Ruhestandes zugesagte Beihilfeleistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Jedenfalls ergibt sich die erforderliche Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme im Wege einer pauschalen Beurteilung der Risiken aufgrund aller bestehenden Beihilfeverpflichtungen. Ist wie im Streitfall über die Bilanzierung einer Mehrzahl gleicher oder gleichartiger Wirtschaftsgüter oder Schulden zu befinden, ist es mit dem Ziel eines zutreffenden Vermögensausweises zulässig, die Gesamtheit dieser Wirtschaftsgüter oder Schulden zugrunde zu legen. Dies gilt nicht nur für die Bewertung eines Bestandes (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1997 I R 16/97, BFHE 184, 439, BStBl II 1998, 249, m.w.N.), sondern auch für die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme dem Grunde nach (vgl. BFH-Urteile vom 7. Mai 1998 IV R 24/97, BFH/NV 1998, 1471; vom 22. November 1988 VIII R 62/85, BFHE 155, 322, BStBl II 1989, 359; vom 12. Dezember 1990 I R 153/86, BFHE 163, 146, BStBl II 1991, 479; vom 27. März 1996 I R 3/95, BFHE 180, 155, BStBl II 1996, 470).

b) Die Verpflichtung der Klägerin zur Beihilfegewährung ist auch wirtschaftlich vor den jeweiligen Bilanzstichtagen der Streitjahre verursacht worden. Die Verursachung setzt nach ständiger Rechtsprechung des BFH voraus, dass die wirtschaftlich wesentlichen Tatbestandsmerkmale für das Entstehen der Verbindlichkeit bereits am Bilanzstichtag erfüllt sind und das rechtliche Entstehen der Verbindlichkeit nur noch von wirtschaftlich unwesentlichen Tatbestandsmerkmalen abhängt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44; vom 12. Dezember 1991 IV R 28/91, BFHE 167, 334, BStBl II 1992, 600; vom 18. Januar 1995 I R 44/94, BFHE 177, 61, BStBl II 1995, 742; vom 13. Mai 1998 VIII R 58/96, BFH/NV 1999, 27). Maßgeblich ist dabei die wirtschaftliche Wertung des Einzelfalles vor dem Hintergrund der rechtlichen Struktur des Tatbestands, mit dessen Erfüllung die Verbindlichkeit entsteht (BFH-Urteile vom 13. November 1991 I R 102/88, BFHE 166, 222, BStBl II 1992, 336; vom 19. Mai 1987 VIII R 327/83, BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848). Im Streitfall ist der Anspruch der jeweiligen Begünstigten auf Beihilfe im Einzelfall zwar abhängig von der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen (Krankheit, Geburts- oder Todesfall). Dennoch findet die dahingehende Verpflichtung, Beihilfe zu leisten, ihren wesentlichen wirtschaftlichen Bezugspunkt bereits im (erfüllten) Arbeitsverhältnis. Es bildet die wirtschaftliche Grundlage für die Ansprüche der Beschäftigten auf Beihilfeleistungen nach Eintritt in den Ruhestand. Der Eintritt des Beihilfefalles selbst bedeutet demgegenüber lediglich die Umsetzung der bestehenden Beihilfeverpflichtung in eine Zahllast.

Dieser Beurteilung stehen die vom FA bezeichneten BFH-Urteile vom 6. Dezember 1995 I R 14/95 (BFHE 180, 258, BStBl II 1996, 406) und vom 10. Dezember 1994 XI R 34/91 (BFHE 170, 149, BStBl II 1994, 158) nicht entgegen. Im ersteren Fall war über die Rückstellbarkeit von Prozesskosten vor Einlegung des jeweiligen Rechtsmittels zu entscheiden. Im letzteren Urteil hat der BFH die Besonderheit betont, dass es sich bei den dort in Rede stehenden Nachbetreuungsleistungen um Aufwand handele, der --ähnlich späteren Reparatur- oder Reinigungsleistungen und anders als Garantieleistungen-- auf benutzungsbedingte Mängel zurückzuführen sei. Damit fehle der wirtschaftliche Zusammenhang der Nachbetreuungsverpflichtung mit dem Grundgeschäft. An einem derartigen Zusammenhang fehlt es, wie ausgeführt wurde, vorliegend nicht.

3. Für die Verpflichtung der Klägerin, unter den gegebenen Voraussetzungen Beihilfen zu leisten, besteht handelsrechtlich auch kein Passivierungswahlrecht, das in den Steuerbilanzen zu einem Passivierungsverbot führen würde (vgl. BFH-Beschluss vom 3. Februar 1969 GrS 2/68, BFHE 95, 31, BStBl II 1969, 291). Es handelt sich insbesondere nicht um eine mittelbare Verpflichtung aus einer Zusage für eine laufende Pension oder eine Anwartschaft auf eine Pension oder eine ähnliche unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung i.S. von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuch (EGHGB), wobei im Streitfall nur eine "ähnliche unmittelbare" Verpflichtung in Frage käme. Der Begriff der "ähnlichen" Verpflichtung wird in der handelsrechtlichen Literatur restriktiv ausgelegt, um den Grundsatz der Passivierungspflicht aus § 249 Abs. 1 HGB nicht zu unterlaufen (vgl. Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., § 249 HGB Rn. 115, m.w.N.). Darüber hinaus wird das in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 EGHGB vorgesehene Passivierungswahlrecht für "ähnliche" Verpflichtungen, zumal es zeitlich nicht begrenzt ist, teilweise als Grundsatz "ordnungswidriger Buchführung" angesehen (vgl. z.B. Haupt/ Baumbach/Duden, Handelsgesetzbuch, vor § 238 Rn. 27, 58, § 249 Rn. 8). Eine restriktive Betrachtung, der auch der Senat folgt, führt im Streitfall dazu, die Verpflichtung zur Beihilfegewährung nicht als "ähnliche" Verpflichtung i.S. des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 EGHGB anzusehen. Wie die Klägerin mit Recht ausführt, kommt sie inhaltlich einer Krankenversicherung nahe. Eine inhaltliche Verknüpfung mit der Pensionszusage ergibt sich daraus nicht.

Ob im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge ehemaligen Arbeitnehmern erteilte Zusagen zusätzlicher Leistungen bei schwerer Erkrankung und wegen Pflegebedürftigkeit "ähnliche" Verpflichtungen i.S. von § 28 Abs. 1 Satz 2 EGHGB begründen (so die Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 9. September 1996 IV B 2 -S 2176- 68/96, Der Betrieb --DB-- 1996, 2102; vom 25. Januar 1996 IV B 2 -S 2176- 4/96, Betriebs-Berater --BB-- 1996, 529), kann im Streitfall dahingestellt bleiben.

4. a) Schließlich stehen der Bildung von Rückstellungen für die Verpflichtung der Klägerin zur Beihilfegewährung an Pensionäre nicht die Grundsätze der Bilanzierung schwebender Geschäfte entgegen. Ansprüche und Verbindlichkeiten aus fortbestehenden schwebenden Geschäften werden zwar nicht bilanziert, solange und soweit sie einander ausgleichend gegenüberstehen. Eine Passivierung erfolgt lediglich im Falle drohender Verluste oder bei Vorliegen sogenannter Erfüllungsrückstände (ständige Rechtsprechung, vgl. dazu BFH-Urteile vom 26. Mai 1976 I R 80/74, BFHE 119, 261, BStBl II 1976, 622; vom 8. Dezember 1982 I R 142/81, BFHE 137, 448, BStBl II 1983, 369; vom 20. Januar 1983 IV R 158/80, BFHE 138, 53, BStBl II 1983, 413; vom 2. Oktober 1997 IV R 82/96, BFHE 184, 422, BStBl II 1998, 205). Da dieses Passivierungsverbot jedoch nur eingreift, "solange und soweit" sich Ansprüche und Verbindlichkeiten ausgleichend gegenüberstehen, endet es mit der Beendigung des Schwebezustandes des gegenseitigen Geschäfts. Dessen Saldierungsbereich ist somit zeitlich und sachlich eingegrenzt. Ein schwebendes Geschäft ist beendet, wenn einer der gegenseitig zur Leistung Verpflichteten (im Regelfall der zur Sach- oder Dienstleistung verpflichtete Vertragspartner) seine Leistung in vollem Umfange erbracht hat. Dies ist vorliegend mit dem Eintritt der Beihilfebegünstigten in den Ruhestand der Fall. Eine danach zu erfüllende Verpflichtung der Klägerin ist auszuweisen.

b) Diese Passivierungspflicht besteht bereits an Bilanzstichtagen vor der Beendigung des jeweiligen schwebenden Geschäfts. Denn es besteht bereits eine ungewisse Verbindlichkeit zur späteren Beihilfegewährung nach Ende des Schwebezustandes. Entsprechend dem Gebot, alle am Abschlussstichtag entstandenen und vorhersehbaren künftigen Risiken zu berücksichtigen (§ 246 Abs. 1, § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), ist sie auszuweisen. Es handelt sich dabei um einen aus der Sicht des jeweiligen Bilanzstichtages eintretenden einseitigen "Verpflichtungsüberhang" (vgl. dazu auch BFH-Urteil in BFHE 184, 422, BStBl II 1998, 205 a.E.) aus dem schwebenden Geschäft, der nach dessen Beendigung und daher zu einem Zeitpunkt zu erfüllen sein wird, in dem ein Anspruch auf eine Gegenleistung nicht mehr besteht, der dieser Verpflichtung ausgleichend gegenüberstehen könnte. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Verpflichtung auszuweisen; für deren "Vorstadium" als ungewisse Verbindlichkeit kann nichts Anderes gelten. Entsprechend sind auch für künftige Pensionszahlungen bereits vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses Rückstellungen zu bilden.

Vorliegend hat die Klägerin an den Bilanzstichtagen der Streitjahre daher Rückstellungen auch für solche Beihilfeleistungen zu bilden, die sie am Bilanzstichtag noch im aktiven Dienst befindlichen Beschäftigten nach deren Eintritt in den Ruhestand zugesagt hat.

5. Die der Vorentscheidung zugrunde liegende Bewertung der Rückstellungen ist unter den Beteiligten unstreitig.

Ende der Entscheidung

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