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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 10.11.2004
Aktenzeichen: II R 24/03
Rechtsgebiete: AO 1977, ErbStG bis Ende 1995, ErbStG ab 1996


Vorschriften:

AO 1977 § 165 Abs. 1 Satz 1
AO 1977 § 165 Abs. 2 Satz 2
AO 1977 § 171 Abs. 8 Satz 1
AO 1977 § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
ErbStG bis Ende 1995 § 13 Abs. 2a Satz 1 Nr. 2
ErbStG ab 1996 § 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
Eine nach Eintritt der formellen Bestandskraft des Schenkungsteuerbescheids abgegebene Erklärung des Schenkers, den Freibetrag für die Übertragung von Betriebsvermögen nach § 13 Abs. 2a Satz 1 Nr. 2 ErbStG bis Ende 1995 (§ 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ErbStG in der seit 1996 geltenden Fassung) in Anspruch zu nehmen, ist als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 anzusehen, solange es hinsichtlich der Wertansätze des übertragenen Betriebsvermögens noch an einer endgültigen Schenkungsteuerfestsetzung fehlt und insoweit eine Änderung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 unter Berücksichtigung der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977 noch möglich ist (entgegen Tz. 3.2 der Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 29. November 1994, BStBl I 1994, 905 sowie R 58 Abs. 1 Satz 2 ErbStR 2003). § 175 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 ist nicht anwendbar.
Gründe:

I.

Mit notariellem Vertrag vom 7. Dezember 1994 übertrug der Onkel (O) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) diesem sowie dessen beiden Geschwistern jeweils ein Drittel seines Kommanditanteils an einer GmbH & Co. KG (KG) sowie seiner Geschäftsanteile an der Komplementär-GmbH. Eine Gegenleistung wurde nicht vereinbart. Zusätzlich übertrug O dem Kläger und dessen Geschwistern jeweils ein Drittel seines Anteils an einer Grundstücks-GbR ohne Vereinbarung einer Gegenleistung. Der Kläger und seine Geschwister waren in einem zwischen O und dessen Ehefrau abgeschlossenen notariellen Erbvertrag vom 19. Februar 1991 als Erben des Längstlebenden eingesetzt worden.

Seiner Schenkungsteuererklärung legte der Kläger die vermögensteuerlichen Werte der übertragenen Wirtschaftsgüter auf den 1. Januar 1994 zugrunde, weil zeitnähere Werte noch nicht vorlagen. In diesem Zusammenhang hieß es in einer Anlage zur Schenkungsteuererklärung: "Es wird beantragt, die Schenkungsteuer hinsichtlich dieser Vermögensgegenstände vorläufig festzusetzen. Die auf den Stichtag entfallenden Beträge werden bei Vorliegen nachgereicht."

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte die Schenkungssteuer am 1. September 1995 auf 29 526 DM fest. Der Bescheid erging vorläufig "bezüglich der noch nicht auf den 01.01.1995 endgültig festgestellten Werte

- EWBV der ...-KG

- EWBV der ...-Grundstücks-GbR".

Am 24. September 1996 teilte der Kläger dem FA die Werte der Beteiligungen zum 1. Januar 1995 mit und beantragte insoweit die Änderung des Schenkungsteuerbescheids nach § 165 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Ferner beantragte er, das Betriebsvermögen außer Ansatz zu lassen. Dazu legte er eine Erklärung des Betreuers des O vor, wonach der Freibetrag für die Anteilsübertragung in Anspruch genommen und zu gleichen Teilen auf die drei Bedachten aufgeteilt werden solle.

Das FA lehnte die Änderung ab und wies den dagegen eingelegten Einspruch des Klägers zurück. Der begehrte Freibetrag könne nicht gewährt werden, weil der Antrag erst nach Eintritt der Bestandskraft des Schenkungsteuerbescheids gestellt worden sei und der Vorläufigkeitsvermerk diesen Punkt nicht umfasst habe. Wegen der geänderten Wertansätze erhöhte das FA die Steuerfestsetzung in der Einspruchsentscheidung unter Berufung auf § 165 Abs. 2 AO 1977 auf 30 525 DM, erfasste dabei aber die mit der GbR in Zusammenhang stehenden Ansätze versehentlich doppelt.

Während des Klageverfahrens wurde die Schenkungsteuer in Korrektur der Doppelerfassung auf 24 650 DM herabgesetzt; der entsprechende Änderungsbescheid vom 20. November 1998 wurde vom Kläger zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2003, 1025). Es sah die nachträgliche Abgabe der Erklärung durch O als rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 an.

Mit seiner Revision vertritt das FA die Auffassung, eine Änderung der Steuerfestsetzung könne nicht auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 gestützt werden, weil Wahlrechte nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ohne eine ausdrückliche gegenteilige Regelung bis zur Bestandskraft der Festsetzung ausgeübt werden müssten. Die Änderung der rechtlichen Beurteilung eines feststehenden Sachverhalts oder die Ziehung weiter gehender Schlussfolgerungen aus einem unveränderten Sachverhalt stelle kein rückwirkendes Ereignis dar.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

Im Ergebnis zu Recht hat das FG die Pflicht des FA zur Änderung der Erbschaftsteuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 bejaht. Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Bei der nach Eintritt der formellen Bestandskraft der ursprünglichen Steuerfestsetzung abgegebenen Erklärung, den Freibetrag in Anspruch nehmen zu wollen, handelt es sich um ein nachträglich eingetretenes Ereignis (vgl. zu diesem Begriff BFH-Beschluss vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C. II. 1. a). Der Erklärung kommt bei einem Sachverhalt, wie er dem Streitfall zugrunde liegt, auch die erforderliche steuerliche Wirkung für die Vergangenheit zu.

Ob ein Ereignis ausnahmsweise steuerlich in die Vergangenheit zurückwirkt, richtet sich allein nach den Normen des jeweils einschlägigen materiellen Steuerrechts (BFH-Beschluss in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C. II. 1. c). Es muss ein Bedürfnis bestehen, eine schon bestandskräftig getroffene Regelung an die nachträgliche Sachverhaltsänderung anzupassen (BFH-Urteil vom 12. Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, unter 1. a). Ein solches Bedürfnis besteht nicht mehr, wenn bereits eine hinsichtlich der Wertansätze endgültige Steuerfestsetzung vorliegt und diese bestandskräftig geworden ist.

Dagegen ist in Fällen wie dem vorliegenden ein derartiges Bedürfnis gegeben, und zwar so lange, wie hinsichtlich der Wertansätze des Betriebsvermögens noch keine endgültige Schenkungsteuerfestsetzung vorgenommen worden und insoweit eine Änderung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 unter Berücksichtigung der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 Satz 1 AO 1977 noch möglich ist. Denn vor dem Zeitpunkt einer solchen endgültigen Festsetzung fehlt es dem Schenker noch an einer hinreichend sicheren Grundlage für seine Entscheidung, den Freibetrag entweder für die bereits vollzogene Übertragung in Anspruch zu nehmen --und damit für alle weiteren innerhalb der nächsten zehn Jahre stattfindenden Übertragungsvorgänge unwiderruflich an einer Inanspruchnahme des Freibetrags gehindert zu sein-- oder aber sich die Inanspruchnahme des Freibetrags für spätere Übertragungen von Betriebsvermögen, sei es im Wege des Erbfalls oder im Wege vorweggenommener Erbfolge, vorzubehalten. Der Schenker, der den Freibetrag mit der größtmöglichen steuerlichen Wirkung in Anspruch nehmen will, muss die endgültigen Werte des bereits übertragenen begünstigten Vermögens kennen.

Für die verfahrensrechtliche Eröffnung der Möglichkeit einer nachträglichen Abgabe der Inanspruchnahmeerklärung innerhalb des oben abgesteckten zeitlichen Rahmens spricht auch, dass dem Gesetzgeber die dargestellte Entscheidungssituation des Schenkers --sofortige Abgabe der Inanspruchnahmeerklärung bereits für die gegenwärtige Schenkung oder Vorhalten für einen etwaigen weiteren Übergang von Betriebsvermögen-- bei Schaffung des § 13 Abs. 2a des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) in der für die Jahre 1994 und 1995 geltenden Fassung bekannt war (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf des Standortsicherungsgesetzes vom 25. Mai 1993, BTDrucks 12/5016, S. 107).

Der Steuerpflichtige kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, beim FA eine Erstreckung des wegen der ungewissen Werte aufgenommenen Vorläufigkeitsvermerks auf das "ungewisse Sachverhaltsmerkmal" der künftigen Abgabe einer Inanspruchnahmeerklärung durch den Schenker anzuregen (ablehnend zu einem Verweis auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 165 AO 1977 in Fällen rückwirkender Ereignisse auch BFH-Urteil in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, unter 1. b ee). Denn die bloße Möglichkeit des Schenkers, künftig eine Erklärung nach § 13 Abs. 2a ErbStG abgeben zu können, führt nicht zu der von § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 vorausgesetzten --gegenwärtigen-- Ungewissheit über die Entstehung der Schenkungsteuer.

Ohne die Einordnung als rückwirkendes Ereignis hätte der Steuerpflichtige im Falle der nachträglichen Erhöhung der zunächst vorläufigen Steuerfestsetzung nur noch die Möglichkeit, den Betriebsvermögensfreibetrag im Umfang der durch das FA vorgenommenen Werterhöhung in Anspruch zu nehmen (vgl. für den Erlass des Änderungsbescheids § 177 Abs. 1 AO 1977, für ein anschließendes Einspruchsverfahren § 351 Abs. 1 AO 1977). Hingegen würde sich der Freibetrag nicht mehr in Höhe des bereits im ursprünglichen --formell bestandskräftigen-- Steuerbescheid enthaltenen Wertansatzes des Betriebsvermögens auswirken.

Da einer Inanspruchnahmeerklärung nur dann steuerliche Rückwirkung zukommt, wenn sie innerhalb des durch die § 165 Abs. 2, § 171 Abs. 8 AO 1977 abgesteckten zeitlichen Rahmens erfolgt, ist für eine Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 kein Raum. Infolgedessen hat der Schenker nicht die Möglichkeit, das FA noch zu einem beliebig späten Zeitpunkt zu einer Änderung der Steuerfestsetzung zwingen zu können.

Soweit die Finanzverwaltung --ohne Vornahme weiterer Differenzierungen hinsichtlich der Endgültigkeit der Festsetzung-- die Möglichkeit zur Abgabe der Inanspruchnahmeerklärung auf den Zeitraum vor Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung beschränken will (für die im Streitfall maßgebliche Gesetzesfassung gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 29. November 1994, BStBl I 1994, 905 Tz. 3.2; für die seit 1996 geltende Vorschrift des § 13a ErbStG R 58 Abs. 1 Satz 2 der Erbschaftsteuer-Richtlinien 2003), liegt darin keine zutreffende Auslegung des Gesetzes.

Ende der Entscheidung

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