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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.10.2006
Aktenzeichen: III R 41/06
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO, EStG, BVerfGG


Vorschriften:

AO 1977 §§ 172 ff.
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2
FGO § 47 Abs. 1 Satz 1
FGO § 126 Abs. 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70 Abs. 2
EStG § 70 Abs. 3
EStG § 70 Abs. 4
BVerfGG § 78
BVerfGG § 79 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG § 95 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hat eine im Jahr 1980 geborene Tochter, für die sie in den Jahren 2001 und 2002 Kindergeld erhielt. Die Tochter befand sich zu dieser Zeit in Berufsausbildung.

Im Januar 2003 legte die Klägerin der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) eine "Bescheinigung über die Fortdauer bzw. das Ende der Berufsausbildung" vor, aus der sich ergab, dass die Tochter im Jahr 2001 einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 8 618,10 € und im Jahr 2002 in Höhe von 9 291,95 € bezogen hatte. Der Arbeitnehmeranteil der Tochter am Gesamtsozialversicherungsbeitrag betrug im Jahr 2001 3 463,88 DM und im Jahr 2002 1 959,27 €.

Mit Bescheid vom 3. Juni 2003 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter ab Januar 2001 auf, da die Tochter im Jahr 2001 Einkünfte von mehr als 7 178,54 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2001 geltenden Fassung) und im Jahr 2002 von mehr als 7 188 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der für das Jahr 2002 geltenden Fassung) erzielt habe; Werbungskosten berücksichtigte die Familienkasse jeweils in Höhe des Arbeitnehmer-Pauschbetrags. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse durch Einspruchsentscheidung vom 11. November 2003 zurück. Die Klägerin erhob dagegen keine Klage.

Mit Schreiben vom 15. August 2005 beantragte die Klägerin die Änderung der Einspruchsentscheidung. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien die Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften der Tochter abzuziehen, so dass die Jahresgrenzbeträge in den Jahren 2001 und 2002 unterschritten seien. Mit Bescheid vom 25. August 2005 lehnte die Familienkasse den Antrag ab, da die Einspruchsentscheidung bestandskräftig sei und die Voraussetzungen für eine Änderung nicht vorlägen. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb gleichfalls ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 23. September 2005).

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, die Familienkasse habe eine Änderung des Aufhebungsbescheids vom 3. Juni 2003 zu Recht abgelehnt, da die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 11. November 2003 bestandskräftig geworden sei und keine Änderungsnormen zu Gunsten der Klägerin eingreifen würden.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977).

Sie beantragt, das Urteil des FG, den Ablehnungsbescheid der Familienkasse vom 25. August 2005 sowie die Einspruchsentscheidung vom 23. September 2005 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, den Aufhebungsbescheid vom 3. Juni 2003 sowie die Einspruchsentscheidung vom 11. November 2003 aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

Nach zutreffender Entscheidung des FG steht der Klägerin für die Jahre 2001 und 2002 kein Kindergeld zu, weil der Aufhebungsbescheid vom 3. Juni 2003 bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Aufhebung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 2 bis 4 EStG oder nach §§ 172 ff. AO 1977 nicht vorliegen.

1. Mit dem Bescheid vom 3. Juni 2003 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Januar 2001 wurde der Kindergeldanspruch der Klägerin für die Jahre 2001 bis 2002 bestandskräftig abgelehnt; die Klägerin hat gegen diesen Bescheid nicht innerhalb der Monatsfrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO Anfechtungsklage erhoben. Dem Bescheid kommt bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe Bindungswirkung zu (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88). Der Bescheid ist auch wirksam. Dass die Familienkasse entgegen dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 die Einkünfte der Tochter nicht um die von dieser gezahlten Sozialversicherungsbeiträge gemindert hat, macht den Bescheid zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204).

2. Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 berührt weder die Bestandskraft des Bescheids vom 3. Juni 2003 noch ist der Bescheid deswegen aufzuheben bzw. zu ändern.

Wie der Senat in seinem Urteil in BFH/NV 2006, 2204 entschieden hat, bleibt die Bestandskraft eines Bescheids, mit welchem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrags nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgelehnt hat, durch eine spätere Entscheidung des BVerfG unberührt, nach der im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG die Einkünfte des Kindes um die von ihm gezahlten Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu mindern sind. Diese Entscheidung ist ohne weiteres auf Bescheide, mit welchen die Familienkasse --wie im Streitfall-- die Kindergeldfestsetzung für ein abgelaufenes Kalenderjahr rückwirkend aufgehoben hat, übertragbar. Für die Frage der Bestandskraft ist unerheblich, ob die Familienkasse das Bestehen eines Kindergeldanspruchs für ein abgelaufenes Kalenderjahr durch Ablehnung einer (rückwirkenden) Kindergeldfestsetzung oder durch (rückwirkende) Aufhebung einer vorhandenen Kindergeldfestsetzung verneint hat.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bzw. § 70 Abs. 4 EStG im Streitfall nicht analog anwendbar. Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (Senatsurteil vom 2. Juni 2005 III R 15/04, BFHE 210, 141, BStBl II 2005, 828). Die Annahme einer Regelungslücke ist im Streitfall schon aufgrund der Wertung des § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ausgeschlossen. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben --vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung-- die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Die Vorschrift ist analog anzuwenden, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (vgl. Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 1 BvR 1905/02, Deutsches Steuerrecht 2006, 108).

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