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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 20.07.2006
Aktenzeichen: III R 44/05
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1
EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2
EStG § 63 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 118 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte am 24. Oktober 2000 Kindergeld für den im Juni 1980 geborenen A mit der Begründung, A sei ihr Pflegekind gewesen.

Nach einer Meldebescheinigung der Stadt Z wohnte A bis zum 30. Juli 1997 bei seinen leiblichen Eltern, die damals noch in Z lebten.

Ab diesem Zeitpunkt war A unter den jeweiligen Anschriften der Klägerin in Z mit seinem Hauptwohnsitz gemeldet, und zwar vom 30. Juli 1997 bis zum 26. April 1998 in der ...straße und vom 26. April 1998 bis zum 30. Juli 2000 im ... Weg.

Seit dem 30. Juli 2000 wohnte A wieder bei seinen leiblichen Eltern, die zwischenzeitlich in ein eigenes Familienheim nach T umgezogen waren.

Die Beklagte (Familienkasse) setzte mit Verwaltungsakt vom 8. Dezember 2000 das Kindergeld für A auf 0 DM fest. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, mit einem familienfremden Kind, das kurz vor oder nach Eintritt der Volljährigkeit in den Haushalt aufgenommen werde, könne kein Pflegekindschaftsverhältnis begründet werden. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) lud den leiblichen Vater von A, den Revisionskläger (Beigeladenen), zum Verfahren bei. Es setzte unter Änderung der angefochten Bescheide dem Antrag der Klägerin entsprechend Kindergeld für A für den Zeitraum August 1997 bis einschließlich Juli 1998 fest.

Das FG führte im Wesentlichen aus, ein Pflegekindschaftsverhältnis könne auch mit fast volljährigen Personen begründet werden, wenn eine Betreuung wie zwischen Eltern und Kind angestrebt werde und eine Betreuung auch erforderlich sei. Wie § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu entnehmen sei, sei die Vorstellung des Gesetzgebers von einem Eltern-Kind-Verhältnis wesentlich durch das Obhuts- und Betreuungsverhältnis geprägt. Bestehe ein solches zu den leiblichen Eltern nicht mehr und werde das Kind von einer anderen Person aufgenommen, die vom Alter und von der Reife her Vater oder Mutter sein könne, bedürfe es --entgegen der Auffassung der Familienkasse-- für die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses auch bei (fast) Volljährigen keiner besonderen Umstände.

Da A in die Wohnung der Klägerin und ihres Ehemannes gezogen sei, um dort wie deren eigenes Kind betreut, versorgt und unterhalten zu werden, sei ein Pflegekindschaftsverhältnis begründet worden. Dem stehe nicht entgegen, dass A seit Beginn seiner Ausbildung eine Ausbildungsvergütung von monatlich 1 030 DM bezogen habe. Denn der Klägerin seien Aufwendungen entstanden für Kleidung, Nahrung und den zur Verfügung gestellten Wohnraum. Solche Aufwendungen sollten nach der gesetzgeberischen Absicht mit dem Kindergeld abgegolten werden.

Mit seiner Revision trägt der Beigeladene im Wesentlichen vor, ein Pflegekindschaftsverhältnis könne bei einer fast volljährigen Person nur bei Vorliegen besonderer Umstände angenommen werden, die hier nicht gegeben seien. Das FG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt, weil es entscheidungserhebliches Vorbringen des Beigeladenen übergangen habe, ohne den erforderlichen Beweis zu erheben. Er, der Beigeladene, habe das FG mehrfach darauf hingewiesen, dass die Klägerin ihre damals 15-jährige Tochter über einen längeren Zeitraum hinweg mit dem fast volljährigen A in einem Zimmer habe schlafen lassen, weshalb ihr das Bestehen einer Liebesbeziehung zwischen ihnen nicht habe verborgen bleiben können. Das FG habe gleichwohl ihrem Vortrag, sie habe davon nichts geahnt, Glauben geschenkt.

Der Beigeladene beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Familienkasse beantragt, dem Revisionsbegehren des Beigeladenen stattzugeben.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision des Beigeladenen ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FG hat zu Unrecht für die Zeit von August 1997 bis Juli 1998 ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen der Klägerin und A angenommen.

1. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für alle Kinder i.S. von § 32 Abs. 1 EStG, mithin auch für Pflegekinder i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG.

Gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften (StÄndG 2003) vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) sind Pflegekinder Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

Die Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG ist dem Streitfall zugrunde zu legen (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs vom 21. April 2005 III R 53/02, BFH/NV 2005, 1547, m.w.N.).

2. Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG für ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen der Klägerin und A nicht vor.

a) Die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses scheitert bereits daran, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen A und seinen Eltern trotz der Haushaltsaufnahme bei der Klägerin nach wie vor bestanden hat.

aa) Ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern ist nach der Rechtsprechung des Senats nicht mehr anzunehmen, wenn das Kind im Wesentlichen nur noch von den Pflegeeltern betreut wird. Wann dieser Zustand erreicht ist, hängt von den Umständen des einzelnen Falls ab. Hinzukommen muss, dass zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern über einen längeren Zeitraum kein für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichender Kontakt mehr bestanden hat. Bei noch nicht schulpflichtigen Kindern hat der Senat in der Regel einen Zeitraum von einem Jahr (Urteil vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582), bei schulpflichtigen Kindern einen Zeitraum von zwei Jahren als maßgebend angesehen (Urteil vom 7. September 1995 III R 95/93, BFHE 179, 54, BStBl II 1996, 63).

Welche Kontakte das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern zu wahren geeignet sind, bestimmt sich ebenfalls nach den Umständen des Einzelfalls. Je jünger das Kind ist, desto wichtiger ist die persönliche Anwesenheit der leiblichen Eltern. Bei fast volljährigen Kindern reicht es dagegen aus, dass sie noch in Verbindung mit den leiblichen Eltern stehen. Die räumliche Trennung allein genügt nicht. Vielmehr muss das Band zwischen dem Kind und seinen leiblichen Eltern auf längere Dauer (in der Regel zwei Jahre) zerrissen sein (vgl. Felix, Kindergeldrecht, § 63 EStG, Rdnr. 31).

bb) Nach den den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen bestand in der Zeit von August bis Dezember 1997 "praktisch kein Kontakt" zwischen A und seinen leiblichen Eltern. Im Laufe des Jahres 1998 hat sich das Verhältnis aber gebessert. Der Beigeladene hat A ca. alle 2 Monate auf dessen Ausbildungsstelle getroffen und ihm bei dieser Gelegenheit kleinere Geldbeträge (20 bis 30 DM) zugesteckt.

Aus diesen Umständen ist ersichtlich, dass der Kontakt zwischen A und seinen leiblichen Eltern allenfalls ein paar Monate unterbrochen war, was nach der zitierten Senatsrechtsprechung für die Annahme eines Abbruchs des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen A und seinen Eltern jedenfalls nicht genügt.

Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des FG auch nicht daraus, dass die Geldzuwendungen des Beigeladenen an seinen Sohn bei gelegentlichen Treffen im Jahr 1998 verhältnismäßig geringfügig waren.

Abgesehen davon, dass A durch seine monatliche Ausbildungsvergütung von 1 030 DM über ausreichende eigene Geldmittel verfügte, so dass ein Unterhaltsbedarf insoweit nicht bestand, sind derartige Zuwendungen regelmäßig Ausdruck einer typischen Eltern-Kindbeziehung und somit abweichend von der Auffassung des FG als Indiz dafür zu werten, dass zwischen dem fast volljährigen A und seinen leiblichen Eltern noch ein Obhuts- und Pflegeverhältnis i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG bestand.

A lebte zwar gegen den Willen seiner leiblichen Eltern bei der Klägerin. Gleichwohl war der Kontakt zu seinen leiblichen Eltern nicht dauerhaft abgerissen. Da A finanziell unabhängig war und aufgrund seines Alters (fast volljährig) nicht mehr wie jüngere Kinder beaufsichtigt, versorgt und betreut werden musste, führte die räumliche Trennung nicht zur Auflösung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu seinen leiblichen Eltern. Die gelegentlichen Treffen zwischen dem Beigeladenen und A im Jahr 1998 entsprechen vielmehr nach der Lebenserfahrung den Kontakten, die --wegen eines Generationenkonflikts vorübergehend räumlich getrennt lebende-- heranwachsende Auszubildende mit ihren Eltern haben. Unstimmigkeiten der Heranwachsenden mit ihren Eltern und der Auszug aus der elterlichen Wohnung genügen nicht für die Annahme, das Obhuts- und Pflegeverhältnis i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu den Eltern bestehe nicht mehr.

Auch der Umstand, dass A zum 30. Juli 2000 wieder zu seinen leiblichen Eltern gezogen ist, bestätigt, dass der Kontakt zwischen ihm und seinen leiblichen Eltern zu keiner Zeit ernsthaft abgebrochen war.

b) Da schon wegen des fortbestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern kein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen A und der Klägerin gegeben war, kann im Streitfall unerörtert bleiben, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einem fast volljährigen Kind nur begründet werden kann bei Hilflosigkeit, Behinderung oder sonstigen besonderen Umständen und ob derartige besondere Umstände im Streitfall vorgelegen haben (zu Pflegekindschaftsverhältnissen mit Volljährigen vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2005, 1547, m.w.N.).

3. Das FG ist zu den entscheidungserheblichen Rechtsfragen von abweichenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen.

4. Da die Revision des Beigeladenen Erfolg hat, erübrigt sich eine Entscheidung über die Verfahrensrüge des Beigeladenen, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt.

Ende der Entscheidung

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