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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 28.05.2009
Aktenzeichen: III R 72/06
Rechtsgebiete: EStG, FGO


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 S. 2
FGO § 118 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Der am ... Dezember 1979 geborene Sohn (S) der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) leidet an dem sog. Borderline- Syndrom. S befand sich im August 1998 in einer berufsvorbereitenden Maßnahme der A-Akademie GmbH (Schulausbildung). Im September 1998 begann er bei demselben Maßnahmeträger eine Berufsausbildung zum Koch, die am 25. November 1998 wegen fristloser Kündigung des Berufsausbildungsvertrages endete. Anschließend meldete sich S bei der Berufsberatung, die von ihm vor einer Vermittlung verlangte, eine psychologische Behandlung nachzuweisen. Er begab sich in eine entsprechende fachärztliche Behandlung, mit deren Abschluss ihm der behandelnde Arzt eine psychologisch betreute Ausbildung in einem Berufsbildungswerk empfahl. Daraufhin wurde S vom psychologischen Dienst des Arbeitsamtes ... übernommen, wo er sich nach zweimaligem Nichterscheinen einer Untersuchung unterzog und anschließend an einigen Sitzungen teilnahm.

Im März 2001 wurde S eine Berufsfindungsmaßnahme beim Berufsbildungswerk des X vermittelt. Im Mai 2002 ordnete das Amtsgericht ... für S Betreuung für die Aufgabenkreise Gesundheits- und Vermögenssorge sowie Vertretung gegenüber Ämtern/Behörden, Institutionen, Versicherungen und Vermietern an sowie, dass der Abschluss von Verträgen über wiederkehrende Leistungen und über Leistungen für mehr als 15 EUR der Zustimmung der Betreuerin bedarf. Ab 5. November 2002 sollte sich S einer Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation (Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben) bei der Rehabilitationseinrichtung C-e.V. unterziehen, die er aber nur am 9. Januar 2003 und am 13. Januar 2003 antrat und am 28. Januar 2003 aus gesundheitlichen Gründen abbrach. Mit Bescheiden vom 19. Juli 2005 und 12. November 2005 stellte das Amt für Familie und Soziales bei S eine seit September 2001 bestehende Behinderung mit einem Grad von 50 in Form einer seelischen Verhaltensstörung fest.

Mit Bescheid vom 5. Dezember 2003 hob die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) gegenüber der Klägerin das Kindergeld für S ab Februar 2003 auf und forderte das für Februar 2003 bis Juni 2003 bereits ausgezahlte Kindergeld zurück. S habe die Rehamaßnahme abgebrochen und befinde sich deshalb nicht mehr in Ausbildung. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch Urteil vom 26. Juni 2006 1 K 1565/04 (Kg) (Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 50) statt. S sei vor Vollendung seines 27. Lebensjahres behindert gewesen. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der für den streitigen Zeitraum 2003 geltenden Fassung (EStG) setze keinen bestimmten Grad der Behinderung, insbesondere keine Schwerbehinderung, voraus. Der Grad der Behinderung sei kindergeldrechtlich erst bei der Prüfung ihrer Ursächlichkeit für eine Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt maßgeblich.

S sei im streitgegenständlichen Zeitraum außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten, denn seine Bezüge im Kalenderjahr 2003 würden schon den als Grundbedarf zu berücksichtigenden Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht erreichen. Entgegen der von der Familienkasse vertretenen Ansicht sei die Behinderung des Kindes auch ursächlich dafür, dass es nicht in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten. Ausreichend sei, dass eine Mitursächlichkeit der Behinderung festgestellt werden könne. Entgegen der Auffassung der Familienkasse sei die theoretische Möglichkeit einer Vermittelbarkeit des behinderten Kindes am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht geeignet, die Ursächlichkeit der Behinderung für die im Ergebnis gleichwohl erfolglose Vermittlung zu beseitigen.

Vor dem Hintergrund der Lage am Arbeitsmarkt von Februar bis Dezember 2003 sei die seelische Behinderung des Sohnes als Handicap jedenfalls mitursächlich dafür gewesen, dass er sich in diesem Zeitraum nicht selbst habe unterhalten können. Das gelte unabhängig davon, ob seine Behinderung mit dem Grad von 50 bereits aus medizinischer Sicht eine Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde.

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift müsse das Kind "wegen" seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Die Behinderung müsse also kausal für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sein. Da in der Praxis aber wohl selten feststellbar sein dürfte, dass die Behinderung die alleinige Ursache sei, weil praktisch immer mehrere Wirkungsursachen vorhanden seien, werde man fordern müssen, dass die Behinderung zumindest ganz überwiegend für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt verantwortlich sei.

Die Familienkasse beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

II.

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1.

Das FG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin für den Streitzeitraum ein Kindergeldanspruch für S zusteht.

Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

a)

Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemein ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2003 führt eine Behinderung aber nur dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit). Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (s. Senatsurteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).

b)

Nach zutreffender Auffassung des FG muss die Behinderung nicht die alleinige Ursache für die Unfähigkeit des Kindes sein, sich selbst zu unterhalten. Andererseits reicht eine einfache Mitursächlichkeit nicht aus; vielmehr folgt aus dem Tatbestandsmerkmal des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG "... wegen ... Behinderung außerstande ist", dass die Mitursächlichkeit der Behinderung erheblich sein muss (s. im Einzelnen Senatsurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638).

2.

Wie der Senat in seinem Grundsatzurteil in BFHE 223, 365, BFH/NV 2009, 638 ausgeführt hat, hat das FG die Frage, ob eine Behinderung für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in erheblichem Umfang mitursächlich ist, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Der Bundesfinanzhof (BFH) kann die Entscheidung des FG nur eingeschränkt überprüfen. Ist die tatsächliche Würdigung des FG verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen, und verstößt sie auch nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO bindend, selbst wenn die Wertung des FG nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist.

Der Senat hat in seinem vorgenannten Grundsatzurteil auch ausführlich zu den Indizien Stellung genommen, die für oder gegen eine Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sprechen können; hierauf nimmt der Senat Bezug.

3.

Das FG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat ausgeführt, die Behinderung des Sohnes sei aufgrund der Umstände des Einzelfalles ursächlich dafür, dass er sich nicht selbst unterhalten könne. Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das FG im Ergebnis eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung im Streitfall als gegeben angesehen hat und nicht wie die Familienkasse meint, jede irgendwie geartete Mitursächlichkeit. Nach den Feststellungen des FG leidet S an einem sog. Borderline-Syndrom mit einem Grad der Behinderung von 50; er hat mehrere berufsvorbereitende Maßnahmen nicht zu Ende geführt. Anfang 2003 hat er zuletzt an einer Maßnahme zur beruflichen Rehabilitation (Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben) bei der Rehabilitationseinrichtung C-e.V. teilgenommen, die er aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste. Das FG hat ferner festgestellt, dass die zuständigen Stellen der Agentur für Arbeit es unabhängig davon, ob S aus medizinischer Sicht erwerbsfähig war oder nicht, nie versucht hätten, ihm eine Stelle oder eine Ausbildung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Offensichtlich hätten die "sachnahen" Mitarbeiter der Berufsberatung eine solche Vermittlung aufgrund der Behinderung des Kindes für nicht möglich gehalten.

Die aus der Gesamtwürdigung des Falles gewonnene Überzeugung des FG, die seelische Behinderung des Sohnes sei mitursächlich dafür, dass er sich von Februar bis Dezember 2003 nicht selbst habe unterhalten können, ist vertretbar und daher revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Ende der Entscheidung

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