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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 21.06.2007
Aktenzeichen: III R 94/06
Rechtsgebiete: EStG, BVerfGG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70 Abs. 4
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG § 78
BVerfGG § 79 Abs. 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat u.a. einen im Jahr 1981 geborenen Sohn, der sich im Jahr 2002 in Ausbildung zum Automobilmechaniker befand.

Mit Bescheid vom 9. September 2002 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab Januar 2002 auf, da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes voraussichtlich den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag im Jahr 2002 in Höhe von 7 188 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2002 geltenden Fassung) überschritten. Die Familienkasse ging dabei von einer Ausbildungsvergütung in Höhe von 8 847 € (brutto) und Werbungskosten in Höhe von 1 069 € aus. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt der Bescheid folgenden "wichtigen Hinweis": "Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den jährlichen Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen." Seinen hiergegen gerichteten Einspruch nahm der Kläger am 11. Dezember 2002 zurück.

Mit Schreiben vom 21. November 2005 legte der Kläger gegen den Bescheid unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) erneut Einspruch ein und beantragte Kindergeld für die Jahre 2002 und 2003. Das BVerfG hatte dort entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Nach der Lohnsteuerkarte 2002 hatte der Sohn einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 8 894,01 € sowie eine Fahrtkostenerstattung in Höhe von 262,68 € bezogen; der Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag betrug 1 786,15 €.

Die Familienkasse wertete dieses Schreiben als Einspruch und als erneuten Antrag auf Kindergeld. Den Einspruch verwarf die Familienkasse als unzulässig, da der Bescheid vom 9. September 2002 durch die Rücknahme des Einspruchs am 11. Dezember 2002 bestandskräftig geworden sei. Mit Bescheid vom 11. Januar 2006 setzte sie Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2002 fest. Für die Monate Januar bis September 2002 lehnte sie die Festsetzung von Kindergeld ab, da der Bescheid vom 9. September 2002 insoweit Bindungswirkung entfalte und nicht geändert werden könne. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) hob unter Änderung des Bescheids vom 11. Januar 2006 in der Fassung der Einspruchsentscheidung den Bescheid vom 9. September 2002 auf und verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger für die Monate Januar bis September 2002 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 425 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge des Sohnes im Jahr 2002 überschritten nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht den Jahresgrenzbetrag. Die Bestandskraft des Bescheids vom 9. September 2002 stehe der Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis September 2002 nicht entgegen, da der Bescheid nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben sei. Es könne daher offen bleiben, ob bereits der "wichtige Hinweis" eine Änderung des Bescheids ermögliche.

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Entgegen der Auffassung des FG kann für die Monate Januar bis September 2002 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum aufgehoben hat, bestandskräftig geworden ist und weder aufgrund einer Zusage der Familienkasse noch nach einer Korrekturvorschrift des EStG oder der Abgabenordnung (AO) zu ändern ist.

1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 188 € im Kalenderjahr 2002 hat.

2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 9. September 2002 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2002 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2002 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Der Bescheid ist durch die Rücknahme des Einspruchs am 11. Dezember 2002 bestandskräftig geworden (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 15. November 1991 VI R 81/89, BFHE 165, 566, BStBl II 1992, 224). Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, hier also bis Ende September 2002 (vgl. BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 9. September 2002 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

3. Der Bescheid vom 9. September 2002 ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag --wie im Streitfall-- allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur dann die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).

4. Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Bescheid vom 9. September 2002 auch nicht aufgrund des darin enthaltenen "wichtigen Hinweises" aufgehoben werden. Ein solcher Hinweis ist weder als verbindliche Zusage, der Bescheid könne vor einer abschließenden Beurteilung der Einkünfte und Bezüge des Kindes jederzeit geändert werden, noch als Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) oder als vorläufige Festsetzung hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 165 Abs. 1 AO) zu werten (Senatsurteil vom 15. März 2007 III R 39/06, BFH/NV 2007, 1459).

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