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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 13.09.2001
Aktenzeichen: IV R 79/99
Rechtsgebiete: AO 1977, BGB


Vorschriften:

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
AO 1977 § 367 Abs. 2
BGB § 242
Hebt das FA im Einspruchsverfahren einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Bescheid auf, kann es später einen erneuten Änderungsbescheid wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen erlassen. Hatte der Steuerpflichtige bei Erlass des aufgehobenen Änderungsbescheids seinen Mitwirkungspflichten genügt, stehen die Grundsätze von Treu und Glauben aber einer Berücksichtigung solcher Tatsachen entgegen, die das FA bei Erlass des ersten (aufgehobenen) Änderungsbescheids unter Verletzung seiner Ermittlungspflicht nicht berücksichtigt hatte.
Gründe:

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) zu 2 sind Ehegatten und betrieben ein Hotel mit Restaurant in der Rechtsform einer OHG. Die inzwischen aufgelöste OHG ist die Klägerin zu 1.

Im Jahr 1993 wurde festgestellt, dass der Kläger zu 2 für die OHG in erheblichem Umfang in der Buchführung nicht ausgewiesene Wareneinkäufe getätigt hatte. Die damit zusammenhängenden Umsätze waren ebenfalls nicht buchmäßig erfasst worden. Wegen dadurch begangener Steuerhinterziehung wurde der Kläger zu 2 im Jahr 1994 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 25. August 1993 war bei der OHG mit einer Fahndungsprüfung des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung (Steufa) begonnen worden, die sich auf Umsatzsteuer, Gewinnfeststellung und Gewerbesteuer für die Streitjahre 1989 bis 1991 bezog. Mit einem am folgenden Tag verfassten Aktenvermerk teilte die Steufa dem Beklagten und Revisionsbeklagten (dem Veranlagungsfinanzamt --FA--) die nach Ansicht der Prüfer vorläufig zugrunde zu legenden Besteuerungsgrundlagen (Umsatz, Gewinn) für 1989 bis 1992 mit. Die betreffenden Schätzungen beruhten auf Aussagen des Klägers zu 2 im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren betreffend die Jahre 1990 und 1991. Die Prüfer errechneten den Mehrumsatz aus den Schwarzeinkäufen und gingen dabei von einem Rohgewinnaufschlagsatz von 150 v.H. aus. In dem Aktenvermerk wiesen sie aber darauf hin, dass sich im Rahmen der Prüfung voraussichtlich ein noch höherer Aufschlagsatz ergeben dürfte.

Das FA nahm den Aktenvermerk zum Anlass, u.a. die sämtlich endgültig ergangenen Gewinnfeststellungsbescheide 1989 bis 1991 und Gewerbesteuermessbescheide 1989 und 1991 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern. Die Änderungsbescheide datierten vom 31. August und vom 22. September 1993. Sie enthielten mit Ausnahme des Hinweises auf § 173 AO 1977 keine weitere Begründung. Gegen diese Bescheide erhob die OHG Einspruch.

Im Januar 1994 übermittelte die Steufa einen Zwischenbericht, aus dem sich höhere Umsätze und Gewinne ergaben. Daraufhin teilte das FA der OHG unter Beifügung des Zwischenberichts mit Schreiben vom 21. Januar 1994 mit, die angefochtenen Änderungsbescheide würden wegen fehlender Begründung und Anhörung aus formellen Gründen aufgehoben. Erneute Änderungsbescheide würden nach Abschluss der Steufa-Prüfung erlassen.

Mit Schlussbericht vom 28. März 1994 endete die Prüfung der Steufa. Die Prüfer errechneten einen durchschnittlichen Aufschlagsatz von 217,59 v.H. Nach Abzug eines Unsicherheitsabschlags legten sie für die Berechnung der Mehrumsätze und -gewinne einen Aufschlagsatz von 203 v.H. zugrunde. Die Mehrgewinne betrugen danach 509 731 DM (1989), 483 611 DM (1990) und 484 454 DM (1991). Aufgrund des Berichts erließ das FA erneut nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geänderte Gewinnfeststellungsbescheide 1989 bis 1991 vom 18. Mai 1994 und geänderte Gewerbesteuermessbetragsbescheide 1989 und 1991 vom 16. Juni 1994.

Nach erfolglosem Einspruch wurde im Klageverfahren Einvernehmen darüber erzielt, dass von einem Rohgewinnaufschlagsatz von 180 v.H. auszugehen sei. Die Kläger begehrten aber die vollständige Aufhebung der angefochtenen Bescheide, weil die Voraussetzungen des § 173 AO 1977 nicht erfüllt seien.

Das Finanzgericht (FG) erhob Beweis durch Vernehmung eines Fahndungsprüfers und der Veranlagungssachbearbeiterin. Es gab der Klage nur insoweit statt, als es Gewinne und Gewerbesteuermessbeträge auf der Grundlage einer Kalkulation mit einem Rohgewinnaufschlagsatz von 180 v.H. herabsetzte. Zur Begründung seiner Entscheidung führte es aus, das FA habe erneut auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützte Änderungsbescheide erlassen dürfen. Frühestens aus dem Zwischenbericht der Steufa habe das FA den Umfang der nicht erklärten Betriebseinnahmen erkennen können. Die Aufhebung der zunächst ergangenen Änderungsbescheide bewirke keine Sperre für erneute Änderungsbescheide.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Das FA habe sich für den Erlass der erneuten Änderungsbescheide nicht auf diese Vorschrift stützen dürfen.

Die Revision ist nicht begründet und war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Das FA hat die angefochtenen Bescheide zu Recht auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt.

a) Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Kein Streit besteht darüber, dass die Erzielung höherer Erlöse in den Streitjahren durch Verkauf "schwarz" eingekaufter Ware eine Tatsache i.S. des § 173 AO 1977 ist, die zu höheren Einkünften bzw. Gewerbesteuermessbeträgen in der mit den angefochtenen Bescheiden festgestellten Höhe führt. Von den Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ist allein zweifelhaft, ob diese Tatsache nachträglich bekannt geworden ist bzw. ob das FA sich auf ein nachträgliches Bekanntwerden berufen darf.

b) Eine Tatsache ist nachträglich bekannt geworden, wenn sie das FA bei Erlass des geänderten Steuerbescheids noch nicht kannte (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. März 1987 II R 226/84, BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416; vom 29. November 1988 VIII R 226/83, BFHE 155, 259, BStBl II 1989, 259, und vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, BFHE 161, 11, BStBl II 1990, 1047). Soweit der geänderte Bescheid Gegenstand eines Einspruchsverfahrens war, ist auf den Kenntnisstand bei dessen Abschluss abzustellen (BFH-Urteil vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548). Betrachtet man im Streitfall als maßgeblichen Zeitpunkt den Erlass der ursprünglichen Gewinnfeststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre, war dem FA von den zusätzlichen Erlösen noch nichts bekannt. Kenntnis erhielt das FA frühestens durch den ersten Aktenvermerk des Prüfers vom 26. August 1993. Aber auch bei Erlass der ersten Änderungsbescheide vom 31. August und 22. September 1993 kannte das FA noch nicht den vollen Umfang der steuerlich nicht erfassten Erlöse. Diese Kenntnis erhielt das FA frühestens durch den Zwischenbericht vom 13. Januar 1994.

c) Nach Meinung der Kläger durfte das FA jedoch die zweiten Änderungsbescheide vom 18. Mai und 16. Juni 1994 nicht mehr erlassen, weil es durch den Erlass des Aufhebungsbescheids vom 21. Januar 1994 in Kenntnis des Zwischenberichts vom 13. Januar 1994 eine Sachentscheidung über die Höhe der festzustellenden Einkünfte bzw. der Gewerbesteuermessbeträge getroffen habe. Der erkennende Senat teilt --ebenso wie das FG-- diese Auffassung nicht. Zwar ist auch ein Änderungsbescheid ein Verwaltungsakt, bei dessen Erlass das FA alle ihm bekannten Tatsachen berücksichtigen muss, die zu einer höheren Steuer führen und verfahrensrechtlich in die geänderte Festsetzung einbezogen werden können. Der Änderungsbescheid tritt insoweit verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen Bescheids (BFH-Urteile vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, BFHE 156, 4, BStBl II 1989, 438, und vom 19. August 1983 VI R 177/82, BFHE 139, 343, BStBl II 1984, 48).

Indessen ist der im Streitfall ergangene Aufhebungsbescheid kein solcher Änderungsbescheid. Er beseitigte vielmehr die zuvor ergangenen erstmaligen Änderungsbescheide vollständig. Der Regelungsinhalt eines Bescheids, mit dem ein geänderter Steuer- oder Feststellungsbescheid aufgehoben wird, ist entgegen der Auffassung der Kläger nicht die eigenständige Festsetzung einer Steuer bzw. gesonderte Feststellung einer Besteuerungsgrundlage. Vielmehr handelt es sich um einen bloßen actus contrarius, dessen Regelungswirkung sich allein auf die Beseitigung der Rechtswirkung des aufgehobenen Änderungsbescheids beschränkt (BFH-Beschluss vom 23. Mai 2000 XI B 92/99, BFH/NV 2000, 1075). Eine weiter gehende Regelung etwa in dem Sinn, dass der ursprüngliche Verwaltungsakt inhaltlich bestätigt würde, beinhaltet der Aufhebungsbescheid nicht. Das Wiederaufleben des ursprünglichen Bescheids ist lediglich notwendige Folge der Aufhebung eines Änderungsbescheids (BFH-Beschluss vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Insofern ist der Aufhebungsbescheid vergleichbar mit einem Ablehnungsbescheid, dessen Regelungswirkung sich nicht auf die Steuerfestsetzung erstreckt und der deshalb ebenfalls nicht als ein Änderungsbescheid beurteilt wird, bei dessen Erlass das FA alle ihm bezüglich der Festsetzung bekannten Tatsachen berücksichtigen muss (BFH-Urteil vom 18. Dezember 1996 XI R 36/96, BFHE 181, 566, BStBl II 1997, 264).

2. Weitere Voraussetzung für den Erlass eines Änderungsbescheids ist allerdings, dass sich das FA auf ein nachträgliches Bekanntwerden berufen darf. An dem Erlass der zweiten Änderungsbescheide war das FA nicht deshalb --nach Treu und Glauben-- gehindert, weil ihm die gewinnerhöhenden Tatsachen infolge eines eigenen Ermittlungsfehlers erst nachträglich bekannt geworden wären.

a) In ständiger Rechtsprechung hält der BFH die Änderung eines Bescheides gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nach Treu und Glauben für ausgeschlossen, wenn dem FA die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht gemäß § 88 AO 1977 bis zum Erlass des Ursprungsbescheids bekannt geworden wäre und der Steuerpflichtige seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt hatte (vgl. z.B. Senatsurteil vom 15. Oktober 1998 IV R 18/98, BFHE 187, 250, BStBl II 1999, 286, Abschn. II. Nr. 3. b der Entscheidungsgründe; auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 173 AO 1977 Tz. 62 ff., m.w.N.).

b) Im Streitfall muss sich das FA keine Verletzung seiner Ermittlungspflicht entgegenhalten lassen. Abzustellen ist teils auf den Kenntnisstand des FA bei Erlass der ursprünglichen Bescheide, teils aber auch auf den Kenntnisstand bei Erlass der ersten Änderungsbescheide. Ergeht ein Änderungsbescheid i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 und wird dieser später wieder aufgehoben und durch einen erneuten Änderungsbescheid abgelöst, der zu einer noch höheren Steuer führt, kann nicht insgesamt auf den Kenntnisstand des FA bei dem Erlass des ursprünglichen Bescheids abgestellt werden. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen den bereits im ersten Bescheid verwerteten Tatsachen und den erstmals im erneuten (zweiten) Bescheid berücksichtigten Tatsachen. Hätte das FA die im zweiten Bescheid ausgewerteten Tatsachen schon bei Erlass des ersten Änderungsbescheids kennen und berücksichtigen müssen, wäre der zweite Änderungsbescheid insoweit rechtswidrig, als er auf der verspäteten Auswertung dieser Tatsachen beruht. Anderenfalls hätte es das FA in der Hand, eine Ermittlungspflichtverletzung bei Erlass des ersten Änderungsbescheids immer dann ungeschehen zu machen, wenn eine Aufhebung dieses Bescheids verfahrensrechtlich möglich ist, insbesondere im Rahmen des Einspruchsverfahrens. Letzteres stände auch im Widerspruch zu der Wertung des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977, der es dem Steuerpflichtigen gestattet, das FA an seine im angefochtenen Bescheid dokumentierte Handhabung durch Rücknahme des Rechtsbehelfs zu binden. Eine Bindung ergibt sich nur dann nicht, wenn das FA auch nach Rücknahme des Einspruchs noch eine Änderung des Bescheids gemäß §§ 172 ff. AO 1977 vornehmen kann (vgl. BFH-Urteil vom 11. März 1987 II R 206/83, BFHE 149, 136, BStBl II 1987, 417).

c) In Bezug auf die in den ersten Änderungsbescheiden verwerteten Tatsachen traf das FA keine Ermittlungspflichtverletzung. Gründe dafür, den Steuererklärungen der Kläger zu misstrauen und weitere Ermittlungen zur Höhe des Gewinns anzustellen, gab es bei Erlass der ursprünglichen Bescheide nicht.

Es kann unentschieden bleiben, ob das FA zeitlich danach, vor Erlass der ersten Änderungsbescheide, ausreichende Ermittlungen versäumt hat. Denn selbst wenn davon im Hinblick auf die Kenntnis von der noch nicht abgeschlossenen Fahndungsprüfung auszugehen sein sollte, könnten sich die Kläger auf einen solchen Verstoß gegen die Ermittlungspflicht nicht berufen, weil sie selbst ihren Mitwirkungspflichten nicht genügt haben. Sie hatten jedenfalls bis zum Erlass der ersten Änderungsbescheide weder gegenüber dem FA noch gegenüber den Prüfern ihre wirklichen Gewinne und Umsätze in den Streitjahren offen gelegt.

3. Der Senat kann in der Sache entscheiden. Die materielle Richtigkeit der vom FG angesetzten Einkünfte bzw. Gewerbesteuermessbeträge ist nach einer Verständigung über die anzuwendenden Rohgewinnaufschlagsätze zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig.

Ende der Entscheidung

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