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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 20.02.2001
Aktenzeichen: IX R 48/98
Rechtsgebiete: FGO, BGB, AO 1977


Vorschriften:

FGO § 56 Abs. 5
FGO § 118 Abs. 2
BGB § 188 Abs. 2
AO 1977 § 110 Abs. 1
AO 1977 § 122 Abs. 2
AO 1977 § 355 Abs. 1
AO 1977 § 356 Abs. 1
AO 1977 § 356 Abs. 2
AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Mitglieder einer Grundstücksgemeinschaft; Zustellungsbevollmächtigter ist der Kläger zu 1. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) gab für die Grundstücksgemeinschaft einen das Streitjahr (1993) betreffenden Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung am 25. Juli 1995 mit einfachem Brief zur Post. Der Kläger zu 1 legte gegen den Bescheid am 30. August 1995 Einspruch ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Beim Einlegen des Rechtsbehelfs am 30. August 1995 sei die Einspruchsfrist bereits abgelaufen gewesen. Hinreichende Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) habe der Kläger zu 1 nicht vorgetragen. Der hiergegen gerichteten Klage gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 1232 veröffentlichten Urteil statt. Der nicht durch einen fachkundigen Berater vertretene Kläger zu 1 habe wegen eines entschuldbaren Rechtsirrtums den Bekanntgabe-Begriff des § 122 Abs. 2 AO 1977 verkannt und dadurch die Einspruchsfrist versäumt.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung abgabenrechtlicher Vorschriften (§ 110 Abs. 1, § 122 Abs. 2 AO 1977).

Das FA beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

II. 1. Die Revision ist zulässig. Das FA war berechtigt, die Entscheidung des FG über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzufechten; die Anfechtungsmöglichkeit wird nicht durch § 56 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgeschlossen (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24. August 1990 VI R 178/85, BFH/NV 1991, 140, unter 1., m.w.N.).

2. Die Revision ist aber unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Die Entscheidung des FG, den Klägern sei wegen eines durch die besonderen Umstände des Einzelfalles entschuldbaren Rechtsirrtums des Klägers zu 1 gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Geltungsbereich der Abgabenordnung übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Unter Zugang i.S. des § 122 Abs. 2 AO 1977 ist nicht allein die tatsächliche Kenntnisnahme des Schriftstücks zu verstehen. Zugegangen ist eine Sendung regelmäßig dann, wenn sie entsprechend den postalischen Vorschriften zugestellt oder innerhalb der Drei-Tages-Frist bei der Post aufgrund einer vereinbarten Lagerung zur Abholung bereitgehalten worden ist (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteile vom 26. Juni 1996 X R 97/95, BFH/NV 1997, 90, und vom 9. Dezember 1999 III R 37/97, BFHE 190, 292, BStBl II 2000, 175). Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) wurde der Feststellungsbescheid am 25. Juli 1995 mit einfachem Brief zur Post gegeben. Er gilt damit gemäß § 122 Abs. 2 AO 1977 am 28. Juli 1995 als bekannt gegeben. Die einen Monat betragende Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 AO 1977) lief damit am 28. August 1995 ab (§ 108 Abs. 1 AO 1977 i.V.m. § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches --BGB--). Der Einspruch der Kläger ist erst am 30. August 1995 beim FA zur Niederschrift erklärt worden.

b) Die dem Feststellungsbescheid vom 25. Juli 1995 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung hat die Rechtsbehelfsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 (von einem Monat) in Lauf gesetzt. Nach § 356 Abs. 1 AO 1977 beginnt die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen schriftliche Verwaltungsakte zwar nur, wenn der Beteiligte insbesondere über die "einzuhaltende Frist" schriftlich belehrt worden ist; andernfalls kann der Rechtsbehelf noch binnen eines Jahres seit Bekanntgabe angebracht werden (§ 356 Abs. 2 AO 1977). Die Belehrung über die einzuhaltende Frist bedingt auch eine verständliche Erläuterung zum Fristbeginn. Diese muss jedoch nicht den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen; es genügt --wie im Streitfall geschehen-- eine abstrakte Belehrung über die vorgeschriebene Anfechtungsfrist anhand des Gesetzestextes (z.B. BFH-Urteile vom 18. Juli 1986 III R 216/81, BFH/NV 1987, 12, und vom 29. März 1990 V R 19/85, BFH/NV 1992, 783, jeweils zu § 122 Abs. 2 AO 1977).

c) Nach § 110 Abs. 1 AO 1977 ist allerdings einem Steuerpflichtigen, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine Fristversäumnis ist nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (z.B. BFH-Urteil vom 13. Juli 1995 V R 51/94, BFH/NV 1996, 193, m.w.N.). Auch ein Rechtsirrtum über Verfahrensfragen kann bei einem rechtsunkundigen Steuerpflichtigen zur Wiedereinsetzung führen; Voraussetzung ist allerdings, dass er Zweifel, die bei ihm hätten aufkommen müssen, rechtzeitig klärt (z.B. BFH-Beschluss vom 23. Juli 1992 VIII R 73/91, BFH/NV 1993, 40).

3. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Vorentscheidung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG hat festgestellt, aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks gehe es davon aus, dass der Kläger zu 1 durch eine --nach der sprachlichen Fassung des § 122 Abs. 2 AO 1977-- nicht abwegige Norminterpretation die tatsächliche Kenntnisnahme als für den Fristbeginn maßgebend angesehen habe. Die darauf beruhende Schlussfolgerung des FG, der Kläger zu 1 habe es wegen seines Rechtsirrtums unterlassen, sich zu dieser Frage rechtskundigen Rat einzuholen, und damit i.S. von § 110 Abs. 1 AO 1977 ohne Verschulden gehandelt, ist verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und nicht durch Denkfehler oder die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst; sie bindet damit den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO).



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