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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 06.08.1998
Aktenzeichen: V R 26/98
Rechtsgebiete: UStG, FGO


Vorschriften:

UStG § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a
UStG § 4 Nr. 12 Satz 2
FGO § 118 Abs. 2
FGO § 126 Abs. 3 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führt ein Wohnheim, in dem sie Bürgerkriegsflüchtlingen und Asylbewerbern Wohn- und Schlafplätze überläßt. Die aufgenommenen Personen verfügten im Streitjahr 1994 über sog. Kostenübernahmescheine der Sozialbehörden des betreffenden Bundeslandes X. In diesen Dokumenten bestätigte die zuständige Sozialbehörde, für die Kosten der Unterbringung von täglich 25 bis 35 DM aufzukommen. Gleichzeitig wies die Behörde darauf hin, daß durch diese Erklärung kein Vertragsverhältnis zwischen dem Land X und dem Wohnungsgeber begründet werde. Die Bescheinigungen wurden regelmäßig für ein oder zwei Monate, im Ausnahmefall aber auch "bis auf weiteres" erteilt.

Abweichend von der Umsatzsteuererklärung der Klägerin sah der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Beherbergung der Flüchtlinge und Asylbewerber als steuerpflichtige Umsätze mit der Begründung an, die Klägerin habe die vermieteten Wohn- und Bettplätze i.S. von § 4 Nr. 12 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (künftig: UStG) "zur kurzfristigen Beherbergung von Fremden" bereitgehalten.

Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Zur Begründung führte es u.a. aus: Die Voraussetzungen der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG seien nicht erfüllt, weil bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern lediglich Schlafplätze überlassen würden und keine Vermietung eines Grundstücks oder Grundstücksteils vorliege. Es fehle an der Überlassung einer bestimmten Fläche innerhalb eines Gebäudes zur ausschließlichen Nutzung durch einen bestimmten Mieter, weil jeder Raum in dem Wohnheim von den dort untergebrachten Personen gemeinsam genutzt werde.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts. Im Frühjahr des Streitjahres habe sie in ihrem bis dahin leerstehenden Wohnheim auf Ersuchen des Landes X eine etwa 20 Personen umfassende Familie aufgenommen, die wegen des Bürgerkriegs aus dem früheren Jugoslawien geflohen sei. Die Familie sollte bis zum Ende des Bürgerkriegs, welches damals noch nicht absehbar gewesen sei, "unter einem Dach" untergebracht werden. Der Gebrauch des Mieters an der Mietsache brauche entgegen der Auffassung des FG kein ausschließlicher zu sein, wenn nur die Gebrauchsberechtigungen --wie im Streitfall-- nicht miteinander unvereinbar seien (Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. Mai 1992 V R 68/88, BFHE 168, 198, BStBl II 1992, 758). Wegen des ungewissen Endes des Bürgerkriegs seien die Wohnheimplätze nicht nur zu einer bloß kurzfristigen Beherbergung an die Flüchtlinge vermietet worden. Nicht zuletzt im Hinblick auf das Wort "Fremde" sei § 4 Nr. 12 Satz 2 UStG nicht auf Personen anwendbar, die --wie im Streitfall-- in dem Wohnheim ihren neuen Lebensmittelpunkt gehabt und sich dort häuslich eingerichtet hätten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und den Umsatzsteuerbescheid des FA vom 4. April 1996 ersatzlos aufzuheben.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- ).

Die Vorentscheidung enthält in tatsächlicher Hinsicht keine ausreichenden Feststellungen i.S. des § 118 Abs. 2 FGO, die eine revisionsgerichtliche Überprüfung der Steuerpflicht der Leistungen der Klägerin im Zusammenhang mit dem Betrieb des Wohnheims ermöglichen. Das FG hat in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, die Überlassung der Wohn- und Schlafplätze durch die Klägerin stelle keine "Vermietung eines Grundstücks oder Grundstücksteils" i.S. des § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG dar, ohne die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen zu haben. Es hat auch die sich notwendigerweise anschließende Frage unbeantwortet gelassen, welche andere (steuerpflichtige) Leistung die Klägerin gegenüber wem erbracht haben könnte, und hat auch diesbezüglich keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies ist ein materiell-rechtlicher Fehler in der Urteilsfindung, der für sich genommen zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führen muß (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 1987 I R 85/80, BFHE 150, 120, BStBl II 1987, 616, unter II.B.1., m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 126 FGO Rz. 20).

Bei der erneuten Entscheidung des Rechtsstreits wird das FG folgendes zu beachten haben:

1. Entgegen der Auffassung des FG kommt eine Steuerfreiheit der von der Klägerin erbrachten Leistungen nach § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG in Betracht, weil nach dem für die Auslegung dieser Vorschrift maßgebenden Zivilrecht (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 8. Oktober 1991 V R 95/89, BFHE 166, 191, BStBl II 1992, 209) in der Überlassung eines Wohn- und Schlafplatzes die Vermietung eines Grundstücksteils (Gebäudeteils) gesehen werden kann. Einer Vermietung von Räumen steht nicht entgegen, daß diese von mehreren Personen bewohnt werden. Etwas anderes könnte nur angenommen werden, wenn mehreren Personen lediglich Schlafmöglichkeit in einem großen Raum (z.B. ohne Schlafstellen) bei täglich wechselnder örtlicher Nutzung gewährt würde (vgl. dazu BFH-Urteile vom 26. Oktober 1989 V R 88/86, BFH/NV 1990, 810, m.w.N., und vom 27. Oktober 1993 XI R 69/90, BFH/NV 1994, 744; s.a. FG Nürnberg, rechtskräftiges Urteil vom 24. Juli 1990 II 30/88, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1991, 157 zu Gemeinschaftsunterkünften).

2. Wenn das FG die Eingehung eines oder mehrerer Mietverhältnisse durch die Klägerin feststellen sollte, bedarf es zur Entscheidung des Rechtsstreits außerdem einer Abgrenzung des Anwendungsbereichs des § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG von demjenigen des Satzes 2 dieser Vorschrift.

a) Entscheidend für die Frage, ob eine kurzfristige oder eine auf Dauer angelegte Überlassung von Räumen vorliegt, ist nicht die tatsächliche Dauer der Vermietung, sondern die aus den gesamten äußeren Umständen ableitbare diesbezügliche Absicht des Vermieters (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 21. September 1989 V R 170/84, BFH/NV 1990, 532, unter 1.b und c; vom 25. Januar 1996 V R 6/95, BFH/NV 1996, 583, unter 2.b). Für die Frage, welche Absicht der Vermieter wirklich hatte, sind die Gesamtumstände maßgeblich (vgl. BFH-Beschluß vom 11. Januar 1990 V B 109/89, BFH/NV 1990, 607, unter 4.; BFH-Urteil in BFH/NV 1994, 744). Das FG müßte daher zunächst feststellen, gegenüber wem die Klägerin im Streitjahr Vermietungsleistungen erbracht hat. Sodann sind die diesen Leistungen zugrundeliegenden vertraglichen Abmachungen einschließlich des maßgeblichen Abrechnungsmodus für das Entgelt unter dem Gesichtspunkt der Abgrenzungsfrage zu würdigen. Schließlich sind auch außervertragliche Umstände in die Gesamtabwägung einzubeziehen (BFH in BFH/NV 1994, 744, unter 2.; s. im einzelnen dazu Lange, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1995, 425 ff., 428, m.w.N.).

b) Die Gewichtung der jeweiligen Sachverhaltselemente (Abgrenzungskriterien) ist Teil der Tatsachenwürdigung durch das FG, die vom Revisionsgericht nur in eingeschränktem Umfang überprüft werden kann (vgl. BFH in BFH/NV 1996, 583, unter 2.b.). Die Tatsachenwürdigung wird durch die sog. Sechs-Monats-Grenze erleichtert: Wenn das FG zu der Überzeugung gelangt, daß das konkrete Mietverhältnis nach den Vorstellungen des Vermieters nicht länger als sechs Monate dauern sollte, kann von einer nur kurzfristigen Beherbergung ausgegangen werden (vgl. BFH in BFH/NV 1994, 744, unter 1.).

c) Die dargelegte BFH-Rechtsprechung einschließlich der Sechs-Monats-Grenze steht in Einklang mit Art. 13 Teil B Buchst. b Nr. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG --Richtlinie 77/388/EWG-- (vgl. Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften --EuGH-- vom 12. Februar 1998 Rs. C-346/95 --Elisabeth Blasi--, Slg. 1998, I-481, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht --UVR-- 1998, 113, UR 1998, 189). Nach Ansicht des EuGH (a.a.O., Tz. 25 und 26) können z.B. sogar über sechs Monate hinaus praktizierte Tagesmietverhältnisse aufgrund der Gesamtumstände des Falles zur Annahme einer nicht mehr kurzfristigen Vermietung führen.

3. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist schließlich das Wort "Fremde" in § 4 Nr. 12 Satz 2 UStG weit auszulegen. Der Begriff dient nur der Abgrenzung von Logierbesuchen von Verwandten und Freunden. Da solche Besuche schon mangels Entgeltlichkeit nicht steuerbar sein dürften, hat das Wort "Fremde" kaum Bedeutung. Fremde sind z.B. auch Vereinsangehörige und Arbeitnehmer des Vermieters, die sich in der Unterkunft --ebenso wie Asylbewerber und Flüchtlinge-- häuslich einrichten und (vorübergehend) dort ihren Lebensmittelpunkt begründen (vgl. dazu Klenk in Sölch/Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 12 Rz. 35; Köhler in Plückebaum/Malitzky, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 12 Rz. 108; Wenzel in Rau/Dürrwächter/Flick/Geist, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 12 Rz. 84; Birkenfeld, Umsatzsteuer-Handbuch, II Rz. 407; Hünnekens in Peter/Burhoff/Stöcker, Umsatzsteuer, § 4 Nr. 12 UStG Rz. 67; Lange, UR 1995, 425 ff., 428; a.A. FG München, rechtskräftiges Urteil vom 9. Dezember 1991 3 K 1023/90, EFG 1992, 370; Kraeusel in Reiß/Kraeusel/Langer, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 12 Rz. 87).



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