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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 13.01.2005
Aktenzeichen: V R 35/03
Rechtsgebiete: AO 1977, UStG 1980/1991, Richtlinie 77/388/EWG


Vorschriften:

AO 1977 § 227
UStG 1980/1991 § 4 Nr. 14 Satz 1
Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c
1. Eine bestandskräftige Steuerfestsetzung kann im Billigkeitsverfahren nach § 227 AO 1977 nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung --beurteilt nach der Rechtslage bei der Festsetzung der Steuer-- offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren.

2. Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer in Widerspruch zu einer später entwickelten Rechtsprechung steht, rechtfertigt noch nicht den Erlass der Steuer.

3. Das FG darf Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.

4. Ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht (Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG) liegt nicht vor, wenn das FA die Umsätze einer Massagepraxis in der Rechtsform einer GmbH in den Jahren 1989 bis 1991 als steuerpflichtig behandelt hat.


Gründe:

I.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb in den Streitjahren (1989 bis 1991) eine Massagepraxis in der Rechtsform einer GmbH. Sie gab für 1989 keine Umsatzsteuererklärung ab und erklärte in der Umsatzsteuererklärung für 1990 keine steuerpflichtigen Umsätze, weil sie der Auffassung war, ihre Umsätze seien nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1980 (UStG 1980) steuerfrei.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) meinte dagegen, eine Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 UStG 1980 sei nicht gegeben, weil diese Vorschrift nicht für eine GmbH gelte. Dementsprechend setzte das FA in den Umsatzsteuerbescheiden für 1989 und 1990 vom 26. Juni 1992 Umsatzsteuer gegen die Klägerin fest, wobei es die Umsätze anhand der in den Bilanzen der Klägerin ausgewiesenen Erlöse schätzte.

Nach Zurückweisung ihrer Einsprüche gegen diese Bescheide erhob die Klägerin beim Finanzgericht (FG) Klage (9 K 272/92). Sie nahm die Klage am 30. März 1993 zurück, nachdem der Berichterstatter des FG ihrem damaligen Prozessbevollmächtigten Folgendes mitgeteilt hatte:

"Da nicht erkennbar ist, mit welcher Begründung die Klage Erfolg haben könnte, wird zur Vermeidung (weiterer unnötiger) Kosten die Rücknahme der Klage zu bedenken gegeben."

Nach Klagerücknahme beantragte die Klägerin im Mai 1993, ihr die Umsatzsteuer für 1989 und für 1990 zu erlassen. Dies lehnte das FA durch Bescheid vom 29. Juni 1993 ab. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde der Oberfinanzdirektion (OFD) zur Entscheidung vorgelegt. Nachdem die OFD der Klägerin mitgeteilt hatte, sie teile die Rechtsauffassung des FA, verzichtete die Klägerin auf eine förmliche Beschwerdeentscheidung.

In der im Dezember 1993 beim FA eingereichten Umsatzsteuererklärung für 1991 erklärte die Klägerin steuerpflichtige Umsätze in Höhe von 338 326 DM. Der entsprechende Umsatzsteuerbescheid für 1991 erging am 7. Januar 1994.

Mit Schreiben vom 17. Dezember 1998 beantragte die Klägerin den Erlass der Umsatzsteuern für 1989 bis 1991 nebst Nebenleistungen wegen sachlicher Unbilligkeit. Sie führte zur Begründung u.a. aus, ihre Umsätze seien gemäß § 4 Nr. 14 UStG 1980/1991 steuerfrei gewesen. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe durch Urteil vom 4. März 1998 XI R 53/96 (BFHE 185, 305, BStBl II 2000, 13) klargestellt, dass auch eine GmbH steuerfreie Umsätze nach § 4 Nr. 14 UStG 1991 erzielen könne, solange das Unternehmen unter direkter Weisung oder Einflussnahme einer spezifischen, fachlichen oder handlungsbezogenen Leitung tätig sei. Diese Voraussetzungen seien im Streitfall gegeben.

Durch Bescheid vom 6. Februar 2001 lehnte das FA den begehrten Erlass ab. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2001 führte das FA u.a. aus: Bestandskräftige Steuerfestsetzungen könnten im Billigkeitsverfahren nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch sei und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Beide Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Die Umsatzsteuerbescheide für 1989 bis 1991 seien nicht offensichtlich und eindeutig falsch gewesen, sondern hätten der damaligen Rechtslage entsprochen. Die nachfolgende Änderung der BFH-Rechtsprechung durch das Urteil in BFHE 185, 305, BStBl II 2000, 13 rechtfertige es nicht, diese neue Rechtsprechung im Billigkeitswege auch bereits bei bestandskräftigen Veranlagungen anzuwenden.

Es sei der Klägerin auch weder unmöglich noch unzumutbar gewesen, sich gegen die Umsatzsteuerfestsetzung zu wenden. Das Klageverfahren wegen Umsatzsteuer 1989 und 1990 sei offenbar nur deshalb nicht weiter verfolgt worden, weil die rechtliche Würdigung durch das FA als zutreffend anerkannt worden sei. Aus diesem Grunde sei auch gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für 1991 kein Einspruch eingelegt worden.

Die Klage der Klägerin hatte Erfolg. Das FG hob den Bescheid vom 6. Februar 2001 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 22. März 2001 auf und verpflichtete das FA, über den Erlassantrag der Klägerin unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des FG neu zu befinden. Das FG führte zur Begründung aus, es liege ein Ermessensfehler vor, weil das FA bei seiner Ermessensentscheidung nicht alle den Sachverhalt betreffenden Umstände berücksichtigt habe.

Zum einen habe das FA übersehen, dass seinerzeit der Klägerin in dem Klageverfahren 9 K 272/92 nach dem Hinweis des damaligen Berichterstatters praktisch kein anderer Weg als die Klagerücknahme geblieben sei; sie habe sich in einer Zwangslage befunden, in der ihr die weitere Rechtsverfolgung nicht mehr zumutbar gewesen sei.

Zum anderen habe das Bundesministerium der Finanzen (BMF) durch Schreiben vom 28. Februar 2000 (BStBl I 2000, 433) angeordnet, dass die Grundsätze des BFH-Urteils in BFHE 185, 305, BStBl II 2000, 13 "in allen noch offenen Fällen anzuwenden" seien. Das FA habe verkannt, dass ein "offener Fall" im Sinne dieses BMF-Schreibens nicht nur dann vorliege, wenn das Festsetzungsverfahren noch offen sei, sondern auch dann, wenn die festgesetzten Steuern --aus welchen Gründen auch immer-- noch nicht beglichen worden seien.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts. Es beruft sich zur Begründung auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und macht ferner geltend, das FG sei vom BFH-Urteil vom 11. August 1987 VII R 121/84 (BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512) abgewichen.

Das FA beantragt, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils als unbegründet zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FG hat das FA zu Unrecht verpflichtet, den Erlassantrag der Klägerin erneut zu bescheiden. Die Ablehnung des begehrten Erlasses durch das FA ist nicht ermessensfehlerhaft. Die Einziehung der streitigen Umsatzsteuern ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO 1977. Sachliche Billigkeitsgründe, die hier allein in Betracht kommen, sind nicht gegeben.

1. Steuern, die --wie hier die Umsatzsteuer für die Streitjahre-- bestandskräftig festgesetzt worden sind, können nach ständiger Rechtsprechung des BFH nur dann im Billigkeitsverfahren sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen deren Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. BFH-Urteile in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom 4. Mai 1995 V R 83/93, BFH/NV 1996, 190, unter 1. b aa; vom 5. Februar 2003 II R 84/00, BFH/NV 2004, 340, unter II. 2. a; vom 9. Juli 2003 V R 57/02, BFHE 203, 8, BStBl II 2003, 901, unter II. 1. b aa).

Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom 17. Dezember 1997 III R 8/94, BFH/NV 1998, 936, unter 2.).

2. Im Streitfall fehlt es an der ersten Voraussetzung. Die (bestandskräftigen) Umsatzsteuerfestsetzungen für 1989 bis 1991 waren nicht offensichtlich und eindeutig unrichtig.

a) Die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre ergingen in den Jahren 1992 und 1994. Sie entsprachen der damals herrschenden Rechtsansicht.

aa) Der BFH hat erst später, nämlich erstmals im Jahr 1998 durch das BFH-Urteil in BFHE 185, 305, BStBl II 2000, 13 entschieden, dass § 4 Nr. 14 UStG 1991 auch dann anwendbar ist, wenn der Unternehmer eine GmbH ist, deren Gesellschafter und Geschäftsführer die nach dieser Vorschrift erforderliche Qualifikation aufweisen.

Ob dieses Urteil eine Änderung der bisherigen BFH-Rechtsprechung darstellt, wie das FA in der Einspruchsentscheidung ausgeführt hat, oder ob es sich lediglich um eine Fortentwicklung der bis dahin vorliegenden Rechtsprechung zur Umsatzsteuer handelt, mag offen bleiben. Jedenfalls war --mit den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre-- bis zu diesem Urteil davon auszugehen, dass die Umsätze einer GmbH nicht nach § 4 Nr. 14 UStG 1980/1991 steuerfrei waren.

bb) Es war im Zeitpunkt der Festsetzung der Umsatzsteuer (1992 und 1994) auch nicht offensichtlich und eindeutig, dass eine GmbH Steuerfreiheit nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) beanspruchen konnte.

Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften unter den Bedingungen, die sie zur Gewährung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufe erbracht werden.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hat erstmals im Jahr 2002 entschieden, dass die Mehrwertsteuerbefreiung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG für Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden, von der Rechtsform des Steuerpflichtigen, der die dort genannten ärztlichen oder arztähnlichen Leistungen erbringt, unabhängig ist (vgl. EuGH-Urteil vom 10. September 2002 Rs. C-141/00, Ambulanter Pflegedienst Kügler, Slg. 2002, I-6833, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2002, 513).

Diese Frage hatte der erkennende Senat im Jahr 2000 in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH (noch) als zweifelhaft angesehen (vgl. BFH-Beschluss vom 3. Februar 2000 V R 1/98, BFHE 191, 76, UR 2000, 250).

cc) Die Umsatzsteuerfestsetzungen gegen die Klägerin waren auch nicht deshalb offensichtlich und eindeutig unrichtig, weil etwa ein (zur Entschädigung verpflichtender) qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorlag.

Das Gemeinschaftsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch an, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. EuGH-Urteile vom 18. Januar 2001 Rs. C-150/99, Stockholm Lindöpark, Slg. 2001, I-493, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht --UVR-- 2001, 108, Rdnr. 37, und vom 30. September 2003 Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Der Betrieb --DB-- 2003, 2331, m.w.N.).

Bei der Frage, ob ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums; ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des EuGH offenkundig verkennt (vgl. EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331 Rdnrn. 54 bis 56).

Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die Vorgaben in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG waren jedenfalls im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung --wie dargelegt-- nicht eindeutig.

b) Unerheblich ist, ob die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre zu dem Zeitpunkt offensichtlich und eindeutig unrichtig waren, als über den Erlassantrag der Klägerin vom 17. Dezember 1998 entschieden wurde, nämlich im Jahr 2001 (Ablehnungsbescheid vom 6. Februar 2001, Einspruchsentscheidung vom 22. März 2001).

aa) Für die Frage, ob eine Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist --und deshalb ein Erlass in Betracht kommt-- ist maßgeblich, ob das FA bei der Steuerfestsetzung (damals) die Rechtslage richtig beurteilt hat (vgl. BFH-Urteil vom 17. September 1986 II R 56/83, BFH/NV 1988, 217, m.w.N.).

Der Umstand allein, dass eine durch bestandskräftigen Steuerbescheid oder durch rechtskräftiges Urteil festgesetzte Steuer in Widerspruch zu einer späteren Rechtsprechung steht, rechtfertigt noch nicht den Erlass der Steuer (vgl. BFH-Urteile vom 22. September 1976 I R 68/74, BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15; vom 30. Oktober 1990 VII R 106/87, BFH/NV 1991, 509, unter II. 2. a bb).

bb) Aus dem Urteil des VII. Senats des BFH in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512 ergibt sich nichts anderes. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat der VII. Senat des BFH dort nicht entschieden, für die Frage, ob eine Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei, müsse auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Billigkeitsantrag abgestellt werden. Er hat diese Frage in dem bezeichneten Urteil vielmehr (ausdrücklich) offen gelassen (vgl. BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512, 513 linke Spalte). Soweit der VII. Senat dort noch ausführt, eher für die Auffassung, dass es darauf ankomme, wie die Rechtslage objektiv im Zeitpunkt der Entscheidung über den Billigkeitsantrag zu werten ist, spreche das BFH-Urteil in BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15, handelt es sich nur um ein obiter dictum, so dass auf sich beruhen mag, ob der erkennende Senat sich dieser Beurteilung anschließen könnte.

cc) Gegen die Auffassung, nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über den Billigkeitsantrag beurteile sich, ob im Sinne der dargelegten Rechtsprechung eine bestandskräftige Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei, spricht entscheidend, dass ansonsten auf Kosten der Rechtssicherheit die Bestandskraft von Steuerbescheiden ausgehöhlt würde.

Denn käme es für die Frage, ob eine bestandskräftige Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist, auf den Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung über einen nach Bestandskraft gestellten Erlassantrag an, müsste z.B. jede nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen eingetretene Änderung der Rechtsprechung des BFH oder auch nur eine erstmalige Entscheidung des BFH zu dem einschlägigen Problemkreis im Erlasswege berücksichtigt werden.

Dies ist indes nicht Sinn des § 227 AO 1977. Es entspricht der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist bei der Auslegung des § 227 AO 1977 zu berücksichtigen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512, 513, rechte Spalte).

3. Das FG hat nicht geprüft, ob die (bestandskräftigen) Steuerfestsetzungen gegen die Klägerin offensichtlich und eindeutig unrichtig sind. Sollte es davon ausgegangen sein, diese Prüfung sei entbehrlich, weil nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2000, 433 die Grundsätze des BFH-Urteils in BFHE 185, 305, BStBl II 2000, 13 "in allen noch offenen Fällen anzuwenden" seien --was auch für das Erlassverfahren zu gelten habe--, so wäre dies (ebenfalls) rechtsfehlerhaft. Damit hätte das FG seinen Überprüfungsspielraum nach § 102 FGO und seinen Auslegungsspielraum überschritten.

Denn zum einen ist ein FG gemäß § 102 FGO bei der Prüfung einer Ermessensentscheidung nach § 227 AO 1977 auf die Feststellung von Ermessensfehlern beschränkt und darf nicht seine eigene Ermessensentscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung des FA setzen (vgl. Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 2/02, BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39).

Zum anderen ist für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie das FG eine solche Verwaltungsanweisung versteht, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das FG darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (vgl. BFH-Beschluss vom 4. Juni 2003 VII B 138/01, BFHE 202, 231, BStBl II 2003, 790, unter II. 2. c, m.w.N.). Die Auslegung des FA in der Einspruchsentscheidung, vorliegend sei kein "offener Fall" im Sinne des bezeichneten BMF-Schreibens gegeben, war möglich.

4. Das FG-Urteil kann mithin keinen Bestand haben. Die Klage ist vielmehr abzuweisen.

Ende der Entscheidung

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