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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 26.01.2006
Aktenzeichen: VI B 89/05
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977, EStG


Vorschriften:

FGO § 69 Abs. 2 Satz 2
FGO § 69 Abs. 3 Satz 1
FGO § 102
FGO § 126 Abs. 3 Nr. 2
AO 1977 § 171 Abs. 4
AO 1977 §§ 193 ff.
AO 1977 § 194 Abs. 1 Satz 2
AO 1977 § 196
AO 1977 § 367 Abs. 2
EStG § 42f Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) erließ am 22. Dezember 2004 gegenüber der Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) eine Prüfungsanordnung über eine Lohnsteuer-Außenprüfung für den Zeitraum 1. Januar 2000 bis 30. November 2004. Die Prüfung sollte am 23. Dezember 2004 um 8.00 Uhr beginnen.

Die Antragstellerin legte gegen die Prüfungsanordnung Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung (AdV). Den Einspruch und den Antrag auf AdV schränkte sie später auf den Prüfungszeitraum Januar bis November 2000 ein. Zur Begründung trug die Antragstellerin vor, hinsichtlich des vorgenannten Prüfungszeitraums sei mit Ablauf des Jahres 2004 Festsetzungsverjährung eingetreten. Die Prüfer hätten im Jahr 2004 keine verjährungsunterbrechenden Prüfungshandlungen mehr vorgenommen. Über den Einspruch der Antragstellerin entschied das FA bisher nicht. Den Antrag auf AdV lehnte es ab.

Der daraufhin beim Finanzgericht (FG) gestellte AdV-Antrag hatte ebenfalls keinen Erfolg. Die gerichtliche Überprüfung der Prüfungsanordnung sei gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf das Vorliegen von Ermessensfehlern beschränkt. Dabei sei auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier also auf den Erlass der Prüfungsanordnung, abzustellen. Zu diesem Zeitpunkt sei noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung seien auch dann maßgeblich, wenn das Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei, weil noch keine Einspruchsentscheidung ergangen sei. Zwar unterliege auch das im Rahmen der Einspruchsentscheidung erneut auszuübende Ermessen einer gerichtlichen Überprüfung. Diese Überprüfung könne jedoch nicht vor Ausübung des Ermessens erfolgen. Das Gericht sei nicht befugt, sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde zu setzen.

Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde trägt die Antragstellerin vor, die nach Erlass der Prüfungsanordnung eingetretenen Umstände seien bis zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen, an dem die Finanzbehörde die das Verwaltungsverfahren abschließende Einspruchsentscheidung treffe. Anderenfalls könne die Behörde durch das Hinauszögern der Einspruchsentscheidung einen rechtswidrigen Zustand aufrechterhalten.

Die Antragstellerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Vollziehung der Prüfungsanordnung vom 22. Dezember 2004 insoweit auszusetzen, als sie die Prüfung für den Zeitraum 1. Januar bis 30. November 2000 anordnet.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes aussetzen, soweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen oder seine Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn und soweit bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, des unstreitigen Sachverhalts und der gerichtsbekannten Tatsachen erkennbar wird, dass aus gewichtigen Gründen Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen oder Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen kann (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. Juni 2004 I B 44/04, BFHE 206, 284, BStBl II 2004, 882).

Der BFH kann, wenn eine Beschwerde begründet ist, auch im AdV-Verfahren nach seinem Ermessen entweder durch eigene Sachentscheidung das Verfahren beenden oder die Sache an das FG zurückverweisen (BFH-Beschlüsse vom 11. Juni 2003 IV B 47/03, BFHE 202, 346, BStBl II 2003, 661; vom 9. November 1999 V B 16/99, BFH/NV 2000, 611, und vom 17. Dezember 1997 I B 96/97, BFHE 185, 24, BStBl II 1998, 321; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 132 Rz. 10, jeweils m.w.N.).

1. Das FG hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Prüfungsanordnung zu Unrecht mit der Begründung verneint, die Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse nach Ergehen der Prüfungsanordnung bis zum Erlass der das Verwaltungsverfahren abschließenden Einspruchsentscheidung sei im AdV-Verfahren nicht zu berücksichtigen.

a) Die Lohnsteuer-Außenprüfung (§ 42f des Einkommensteuergesetzes --EStG--) stellt eine besonders qualifizierte Maßnahme der Finanzbehörde zur Überprüfung des betreffenden Steuerfalles und damit eine Außenprüfung i.S. der §§ 193 ff. der Abgabenordnung (AO 1977) dar (BFH-Urteil vom 15. Dezember 1989 VI R 151/86, BFHE 159, 296, BStBl II 1990, 526; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 24. Aufl., § 42f Rz. 1). Sie erstreckt sich gemäß § 42f Abs. 1 EStG auf die zutreffende Einbehaltung oder Übernahme und die richtige Abführung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber. Die Lohnsteuer-Außenprüfung kann nach § 194 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 einen oder mehrere Besteuerungszeiträume umfassen. Den Umfang der Außenprüfung hat gemäß § 196 AO 1977 die zuständige Finanzbehörde in einer schriftlich zu erteilenden Prüfungsanordnung zu bestimmen. Die Bestimmung des zeitlichen Umfangs einer Außenprüfung steht --ebenso wie ihre Anordnung-- im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde (BFH-Urteile vom 10. Juni 1992 I R 142/90, BFHE 168, 226, BStBl II 1992, 784, und vom 18. Oktober 1994 IX R 128/92, BFHE 176, 298, BStBl II 1995, 291). Auch diese Ermessensentscheidung unterliegt nur der gerichtlichen Prüfung auf fehlerfreie Ermessensausübung gemäß § 102 FGO (BFH-Urteile in BFHE 176, 298, BStBl II 1995, 291; vom 10. April 1990 VIII R 415/83, BFHE 160, 409, BStBl II 1990, 721, und vom 28. Juni 2000 I R 20/99, BFH/NV 2000, 1447).

Dem Erlass einer Prüfungsanordnung steht nach ständiger Rechtsprechung des BFH regelmäßig nicht entgegen, dass Steueransprüche, die überprüft werden sollen, möglicherweise verjährt sind (BFH-Urteile vom 23. Juli 1985 VIII R 48/85, BFHE 145, 3, BStBl II 1986, 433; vom 3. Juli 1986 IV R 258/84, BFH/NV 1987, 685, und vom 25. Januar 1989 X R 158/87, BFHE 156, 18, BStBl II 1989, 483; BFH-Beschluss vom 29. Mai 2001 VIII B 1/01, BFH/NV 2001, 1569). Denn die Frage der Verjährung wird sich vielfach erst nach Klärung des Sachverhalts durch die Außenprüfung zuverlässig beantworten lassen. Anders verhält es sich jedoch, wenn der Eintritt der Festsetzungsverjährung auf der Hand liegt, weil es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Festsetzungsfrist ausnahmsweise noch nicht abgelaufen sein könnte. Maßgeblich ist, ob die Außenprüfung etwas zur Klärung des Verjährungseintritts beitragen könnte (BFH-Urteil vom 10. April 2003 IV R 30/01, BFHE 202, 206, BStBl II 2003, 827).

Wie der BFH in dem Urteil in BFHE 202, 206, BStBl II 2003, 827 hervorgehoben hat, kommt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Prüfungsanordnung nicht nur darauf an, ob sie im Zeitpunkt ihres Ergehens rechtmäßig war. Das FA hat vielmehr auch alle während des Einspruchsverfahrens eingetretenen, wesentlichen Änderungen der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu beachten. Hierzu gehört insbesondere der Ablauf der Festsetzungsfrist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 202, 206, BStBl II 2003, 827).

b) Ausgehend hiervon durfte das FG die Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Prüfungsanordnung bestehen, nicht nur unter Berücksichtigung der bis zum Zeitpunkt des Ergehens der Prüfungsanordnung bestehenden Sach- und Rechtslage beantworten.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind für die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen zwar die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Denn aus dem Wesen einer Ermessensvorschrift, einen Spielraum dafür zu geben, unter einer Mehrzahl rechtlich zulässiger Verhaltensweisen wählen zu lassen, folgt, dass die durch § 102 FGO dem Umfang nach umschriebene gerichtliche Rechtskontrolle der Ermessensentscheidung nur auf den Zeitpunkt der Wahl durch die Verwaltungsbehörde selbst bezogen sein kann (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 24. November 1987 VII R 138/84, BFHE 152, 289, BStBl II 1988, 364; vom 26. März 1991 VII R 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545; vom 8. September 1994 IV R 20/93, BFH/NV 1995, 520, und vom 6. März 1996 II R 102/93, BFHE 180, 178, BStBl II 1996, 396; Gräber/von Groll, a.a.O., § 102 Rz. 13, m.w.N.).

Besonderheiten gelten allerdings, wenn --wie im Streitfall-- über den Einspruch gegen den angefochtenen Ermessensbescheid noch nicht entschieden worden ist. Hat die Behörde die das Einspruchsverfahren abschließende Verwaltungsentscheidung noch nicht getroffen, hat das FG auch bei Ermessensverwaltungsakten die im AdV-Verfahren erforderliche Prognose des voraussichtlichen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens vorzunehmen, in dem vom FA noch über den Einspruch zu entscheiden und damit Ermessen auszuüben ist (vgl. BFH-Beschluss vom 5. März 1998 VII B 36/97, BFH/NV 1998, 1325). Dabei geht es nicht darum, dass das FG sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde setzt, wozu die Gerichte nur in den Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null befugt sind (vgl. BFH-Urteil vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201; Kruse in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 102 FGO Tz. 9, m.w.N.). Dem FG wird im AdV-Verfahren damit keine weiter reichende Prüfungsbefugnis als im Verfahren der Hauptsache eingeräumt. Vielmehr hat das FG auch in diesem Verfahrensstadium (lediglich) zu untersuchen, ob die Rechtmäßigkeit des Ermessensbescheids ernstlich zweifelhaft ist. Solange die Finanzbehörde die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung über den Einspruch noch nicht getroffen hat, muss sie gemäß § 367 Abs. 2 AO 1977 auch bei Ermessensbescheiden eine schon getroffene Ermessensentscheidung überprüfen und ggf. korrigieren, wobei alle während des Einspruchsverfahrens eingetretenen wesentlichen Änderungen zu berücksichtigen sind (BFH-Urteile vom 22. Mai 2001 VII R 79/00, BFH/NV 2001, 1369, und in BFHE 202, 206, BStBl II 2003, 827; FG Bremen, Urteil vom 29. August 2000 200249K2, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2000, 1224; Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 367 Rz. 10). In einer solchen Verfahrenssituation darf folglich auch das FG bei seiner im AdV-Verfahren vorzunehmenden Prognose über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs wesentliche Änderungen, die während des Einspruchsverfahrens eingetreten und die für die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde von Bedeutung sind, nicht unberücksichtigt lassen.

2. Der auf einem anderen rechtlichen Ausgangspunkt beruhende Beschluss des FG wird im angefochtenen Umfang aufgehoben. Der Senat entscheidet nicht selbst über den Aussetzungsantrag, sondern verweist die Sache an das FG zurück. Die Zurückverweisung ist zweckmäßig, um den Beteiligten keine Instanz zu nehmen. Denn das FG hat --von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht-- bisher nicht geprüft, ob mit Ablauf des Jahres 2004 hinsichtlich der Steueransprüche, die für den hier fraglichen Zeitraum mit der Lohnsteuer-Außenprüfung überprüft werden sollen, tatsächlich Festsetzungsverjährung eingetreten ist und dies auf der Hand lag. In diesem Zusammenhang wird das FG gegebenenfalls auch der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage nachzugehen haben, ob der Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß § 171 Abs. 4 AO 1977 gehemmt war.

Ende der Entscheidung

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