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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 26.07.2001
Aktenzeichen: VI R 100/00
Rechtsgebiete: SGB X, EStG, BKGG


Vorschriften:

SGB X § 104
EStG § 31
EStG § 32 Abs. 4
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
BKGG § 1 Abs. 2 Satz 3
BKGG § 2 Abs. 4 a.F.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Mit Schreiben vom 14. Juli 1999 meldete das Sozialamt einen Erstattungsanspruch nach § 104 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) auf Kindergeld für den im April 1966 geborenen Sohn (S) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) an. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Arbeitsamt --Familienkasse--) behandelte dieses Begehren als Antrag der Klägerin und ermittelte, dass S vom Versorgungsamt wegen chronischer Leberentzündung und seelischen Störungen gemäß Bescheid vom 4. Mai 1999 einen Grad der Behinderung von 20 v.H. zugebilligt erhalten hatte, der mit Bescheid vom 27. Oktober 1999 auf 50 v.H. erhöht worden war. Nach Angaben der Klägerin liegt die Behinderung seit 26. Januar 1999 vor. Mit Bescheid vom 24. September 1999 lehnte die Familienkasse eine Kindergeldfestsetzung ab, weil die Behinderung des S erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten und somit eine Berücksichtigung gemäß § 32 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht möglich sei. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1257 veröffentlichten Gründen ab. Der gesonderte Beschluss des FG zur Zulassung der Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) wurde am 20. April 2000 zugestellt. Die Revision wurde von der Klägerin am 13. Juni 2000 eingelegt.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durch die Vorinstanz. Der Wortlaut der Bestimmung sei einer restriktiven Auslegung nicht zugänglich, da hierdurch eine im Gesetzeswortlaut nicht vorhandene Grenze eingeführt würde. Zwar werde diese Altersbegrenzung nunmehr im Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 festgeschrieben, allerdings könne dieses Gesetz im vorliegenden Fall keine Wirkung entfalten, da es erst ab 1. Januar 2000 in Kraft getreten sei. Eine Altersbegrenzung auf das 27. Lebensjahr sei vorher nicht im Gesetz vorgesehen gewesen. Darüber hinaus sei eine restriktive Auslegung des Wortlauts der Bestimmung auch unter dem Hinweis auf § 1 Abs. 2 Satz 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) weder zulässig noch erforderlich. Für behinderte Kinder gelte keine Höchstaltersgrenze. Aus diesem Grunde stehe die Regelung in § 1 Abs. 2 Satz 3 BKGG, wonach bei behinderten Kindern Kindergeld längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährt werde, mit der Regelung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht in Einklang. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei im Übrigen zum alten BKGG ergangen. Demgegenüber werde nunmehr das Kindergeld ab 1. Januar 1996 im Rahmen des Familienleistungsausgleichs gemäß § 31 EStG als Steuervergütung monatlich gezahlt. Es müssten daher die Mittel, die für den Unterhalt von Kindern unerlässlich seien, bei der Besteuerung des Einkommens unberücksichtigt bleiben. Das FG habe in seinem Urteil nicht dargelegt, aufgrund welcher Erwägungen eine Auslegung entgegen dem eindeutigen Wortlaut von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG im Zeitraum vor der zum 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Ergänzung der Bestimmung im Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 zulässig bzw. erforderlich sein solle. Darüber hinaus lägen auch sämtliche übrigen Voraussetzungen für eine Kindergeldgewährung für S vor.

Die Klägerin beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Familienkasse antragsgemäß zu verpflichten, der Klägerin ab 1. Februar 1999 Kindergeld für S zu gewähren.

Die Klägerin beantragt darüber hinaus, gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie geht davon aus, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei. Die Klägerin habe für S aber keinen Anspruch auf Kindergeld, da dessen Behinderung erst nach dem 27. Lebensjahr eingetreten sei. Der Gesetzgeber habe anlässlich der Kindergeldreform zum 1. Januar 1996 keineswegs beabsichtigt, den von der seinerzeit geltenden Kindergeldregelung begünstigten Personenkreis zu erweitern, sondern eher in Randbereichen einzuschränken. Angesichts der historischen Entwicklung des Kindergeldrechts und aufgrund der Übernahme der Berücksichtigungstatbestände aus dem Sozialrecht in das Steuerrecht müssten die maßgeblichen Vorschriften des EStG vor dem Hintergrund der Auslegungsergebnisse des BSG zum BKGG a.F. gesehen werden. Wie das BSG in seinem Grundsatzurteil vom 23. Juni 1977 8/12 RKg 7/77 (SozR 5870 § 2 Nr. 5) ausführlich dargelegt habe, sei dem Wortlaut des ursprünglichen § 2 Abs. 4 BKGG a.F. eindeutig zu entnehmen, dass Kindergeld für behinderte Kinder nur dann zustehe, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten gewesen sei. Der Behindertentatbestand sei als Auffangtatbestand konzipiert, der Platz greifen solle, wenn einem Kind sowohl der Ausbildungsmarkt als auch der Arbeitsmarkt wegen seines bedauerlichen Schicksals verschlossen sei und die Abhängigkeit von den Eltern deshalb fortdauere. Dem Begriff "Kind" sollten im Übrigen nur solche Personen zugeordnet werden, die ihren Lebensmittelpunkt in der Familie ihrer Eltern oder Erziehungsberechtigten hätten, oder nach Heirat und haushaltsmäßiger Abspaltung ihre Ausbildung noch nicht beendet hätten, so dass die Eltern weiterhin mit Unterhaltszahlungen belastet blieben. Unter dieser Zielsetzung des Gesetzgebers sei ein Kindergeldanspruch für behinderte Kinder nur als gerechtfertigt anzusehen, wenn die Behinderung vor Erreichen der Höchstgrenze des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Zur wirtschaftlichen Entlastung von Eltern, die "spätbehinderte" Kinder zu betreuen und zu versorgen hätten, seien Leistungen nach dem Unfallversicherungsrecht, Rentenrecht oder ersatzweise Sozialhilferecht für ausreichend erachtet worden. Der damals geltende Rechtszustand sei auch in das ab 1. Januar 1982 geltende Kindergeldrecht transferiert worden. Da sich an der personellen Abgrenzung des Familienleistungsausgleichs auch nach der Kindergeldreform 1996 insoweit nichts geändert habe, müsse § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ebenfalls unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze interpretiert werden. Ein Indiz dafür, dass der Gesetzgeber bei der Einführung des steuerrechtlichen Kindergeldes auch hinsichtlich der behinderten Kinder an dem für das sozialrechtliche Kindergeld maßgeblichen Rechtszustand habe festhalten wollen, sei die ab dem 1. Januar 2000 geltende Änderung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dadurch sei klargestellt, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sein müsse.

Die Revision ist zulässig.

Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist zu gewähren (§ 56 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Sie hat glaubhaft dargelegt, dass die falsche Fristeintragung durch ein Versehen der mit der Eintragung der Frist beauftragten Angestellten erfolgt ist (Büroversehen, dazu Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 56 Rz. 20). Die Klägerin hat ferner glaubhaft vorgetragen, dass ihr Prozessvertreter handschriftlich die Revisionsfrist zum 20. Mai notiert hat und die mit der Eintragung und Kontrolle der Fristen beauftragte Angestellte diese Frist versehentlich als 20. Juni 2000 gelesen und dementsprechend sowohl in der Handakte wie auch in dem gesonderten Fristenkalender zum 20. Juni 2000 mit einer Vorfrist zum 13. Juni 2000 eingetragen hat.

Die Revision ist aber nicht begründet.

Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Wie der Senat mit Urteil vom gleichen Tage entschieden hat, ist Voraussetzung des Kindergeldanspruchs für ein behindertes Kind, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf das Senatsurteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98 verwiesen. Da im Streitfall eine Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres des S eingetreten ist, lagen die Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung nicht vor.

Ende der Entscheidung

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