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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 22.05.2006
Aktenzeichen: VI R 15/05
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG


Vorschriften:

AO 1977 § 162
EStG § 25
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 1
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
Für die Durchführung des Veranlagungsverfahrens bedarf es keines Antrags des Steuerpflichtigen gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG (mehr), wenn das FA das Veranlagungsverfahren von sich aus bereits durchgeführt und die Einkommensteuer festgesetzt hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn bei Erlass des Steuerbescheids aus der insoweit maßgeblichen Sicht des FA die Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen vorlagen.
Gründe:

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Ehegatten und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte im Streitjahr 2000 als Steuerreferent bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Darüber hinaus erzielte er Einkünfte aus selbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen sowie aus Vermietung und Verpachtung.

Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Kläger erfolglos zur Abgabe der Einkommensteuererklärung aufgefordert hatte, erließ er für das Streitjahr einen Einkommensteuerbescheid vom 28. November 2002, wobei er die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO 1977) schätzte. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Zugleich setzte das FA wegen der Nichtabgabe der Steuererklärung einen Verspätungszuschlag fest. Die Kläger legten gegen den Schätzungsbescheid Einspruch ein. Ihre Einkommensteuererklärung ging beim FA am 3. Januar 2003 ein. Bei der Auswertung der Steuererklärung gelangte das FA zu der Auffassung, dass die Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, negativ sei.

Daraufhin hob das FA nach Anhörung der Kläger den Schätzungsbescheid auf und verfügte, dass eine Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer für das Streitjahr nicht durchgeführt werde. Die im vorliegenden Fall allein in Betracht kommende Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht durchzuführen, weil der Antrag auf Veranlagung nicht fristgerecht gestellt worden sei.

Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage ab. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Durchführung einer Veranlagung, da sie einen entsprechenden Antrag nicht innerhalb der dafür nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG vorgesehenen Zweijahresfrist gestellt hätten. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Der Kläger müsse als ein auf dem Gebiet des Steuerrechts tätiger, berufsmäßiger Vertreter die steuerlichen Vorschriften des materiellen und formellen Rechts kennen. Auch das Verhalten des FA sei nicht geeignet, eine Wiedereinsetzung zu rechtfertigen. Die Kläger hätten trotz des Schätzungsbescheids nicht auf die Durchführung einer Veranlagung vertrauen dürfen.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Mit Erlass des Schätzungsbescheids habe das FA das Veranlagungsverfahren selbst in Gang gesetzt. In einem solchen Fall sei ein Antrag nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht erforderlich, weil das Veranlagungsverfahren bereits laufe.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil, die Nichtveranlagungsverfügung sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, sie für den Veranlagungszeitraum 2000 zur Einkommensteuer zu veranlagen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz war das FA nicht berechtigt, den Einkommensteuerbescheid ersatzlos aufzuheben. Das FA ist vielmehr verpflichtet, die Einkommensteuer für das Streitjahr unter Berücksichtigung der Einkommensteuererklärung festzusetzen.

1. Gemäß § 25 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer nach Ablauf des Kalenderjahres (Veranlagungszeitraum) nach dem Einkommen veranlagt, das der Steuerpflichtige in diesem Veranlagungszeitraum bezogen hat, soweit nicht nach § 46 EStG eine Veranlagung unterbleibt.

Im Streitfall hat das FA eine Veranlagung rechtmäßig durchgeführt. Da die Kläger trotz Aufforderung (§ 149 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) keine Einkommensteuererklärungen abgegeben hatten, musste das FA gemäß § 162 AO 1977 die Besteuerungsgrundlagen schätzen. Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergab, dass die Voraussetzungen für eine Veranlagung der Kläger nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG vorlagen, weil die Summe der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen waren, mehr als 800 DM betrug. Folglich war das FA gemäß § 25 Abs. 1 EStG verpflichtet, die Kläger zur Einkommensteuer zu veranlagen und durch Erlass des (angefochtenen) Steuerbescheids die Einkommensteuer festzusetzen. Die Veranlagung konnte nicht nach § 46 EStG unterbleiben.

2. Bei dieser Sachlage kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht darauf an, dass für die Durchführung der Veranlagung nicht auch die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG erfüllt waren, weil die Kläger innerhalb der Antragsfrist keinen wirksamen Antrag auf Veranlagung gestellt hatten.

a) Die Auffassung der Vorinstanz, der Einspruch der Kläger gegen den Schätzungsbescheid sei nicht als Antrag auf Durchführung einer Veranlagung zu werten, begegnet revisionsrechtlich allerdings keinen Bedenken. Der Antrag ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen. Bei dem Einspruchsschreiben der Kläger handelte es sich nicht um eine Einkommensteuererklärung.

b) Ein Antrag nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG war im Streitfall für die (weitere) Durchführung des Veranlagungsverfahrens indessen auch gar nicht (mehr) erforderlich. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. Die Antragsveranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist gegenüber den Veranlagungstatbeständen aus § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG subsidiär. Der Steuerpflichtige kann die Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nur beantragen, wenn er nicht bereits nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG von Amts wegen zu veranlagen ist (Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. A 5; Blümich/Heuermann, § 46 EStG Rz. 4). Der Antrag nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist verfahrensrechtlicher Natur. Er leitet nur das Veranlagungsverfahren ein, mittels dessen die materiell gemäß § 36 Abs. 1 EStG entstandene Einkommensteuer ermittelt und festgesetzt wird (Blümich/Heuermann, § 46 EStG Rz. 113; Eisgruber in Kirchhof, EStG, 5. Aufl., § 46 Rn. 46). Nach der Konzeption der §§ 25, 46 EStG soll der Antrag auf Durchführung der Veranlagung die Finanzbehörde zu einem Handeln veranlassen, wenn sie nicht von sich aus tätig werden muss. Der Veranlagungsantrag soll das Veranlagungsverfahren in Gang setzen. Er macht den Erlass des Einkommensteuerbescheids aber nicht antragsabhängig (Trzaskalik, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 46 Rdnr. A 50).

Ausgehend hiervon bedarf es für die Durchführung des Veranlagungsverfahrens keines Antrags des Steuerpflichtigen nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG mehr, wenn das FA das Veranlagungsverfahren von sich aus bereits durchgeführt und Einkommensteuer durch Erlass eines Steuerbescheids (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) festgesetzt hat (a.A. Schmidt/Glanegger, EStG, 25. Aufl., § 46 Rz. 87; FG Köln, Urteil vom 10. Juni 1999 1 K 448/96, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1999, 1020, m.w.N.). Dies gilt jedenfalls dann, wenn --wie im Streitfall-- bei Erlass des Steuerbescheids die Voraussetzungen für eine Veranlagung von Amts wegen aus der insoweit maßgeblichen Sicht des FA vorlagen. In einem solchen Fall kann der Antrag auf Durchführung der Veranlagung seinen Zweck, ein Veranlagungsverfahren in Gang zu setzen, nicht mehr erreichen. Dabei ist die Frage der Durchführung der Veranlagung grundsätzlich losgelöst von der --erst später erkennbar gewordenen-- inhaltlichen Unrichtigkeit des Steuerbescheids zu beurteilen.

§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG steht der vom Steuerpflichtigen begehrten Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer nicht entgegen, wenn sich später nach Erlass des Einkommensteuerbescheids herausstellt, dass die Finanzbehörde zu Unrecht angenommen hat, sie müsse von Amts wegen tätig werden und die Veranlagung durchführen. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG verdrängt nicht die Amtsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 EStG. Aufgabe sowohl der Antrags- als auch der Amtsveranlagung nach § 46 EStG ist es, Unvollkommenheiten des ausschließlich auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezogenen Lohnsteuerabzugsverfahrens auszugleichen und über die Veranlagung die Gleichheit zwischen allen Steuerpflichtigen herzustellen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, BStBl II 1968, 70; Nolde in Herrmann/Heuer/Raupach, § 46 EStG Anm. 7). Dieser Gesetzeszweck gebietet eine Auslegung der Vorschrift, die die Festsetzung der materiell richtigen Einkommensteuer ermöglicht und sie nicht verhindert.

Die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8. Mai 1979 VIII R 78/77 (BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676) und vom 14. März 1989 I R 77/85 (BFH/NV 1991, 311) stehen dem nicht entgegen. Zwar führt nach der Rechtsprechung des BFH weder die Übersendung von Erklärungsvordrucken noch die Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen oder die Festsetzung eines Zwangsgelds zur Erzwingung der Einkommensteuererklärung zu einer Verlängerung der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG (vgl. BFH-Urteile in BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676, und in BFH/NV 1991, 311). Darum geht es im Streitfall indessen nicht. Denn im vorliegenden Fall hat das FA durch Erlass des von den Klägern angefochtenen Einkommensteuerbescheids die Veranlagung von Amts wegen bereits durchgeführt (§ 25 Abs. 1 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG).

Nichts anderes ergibt sich für den Streitfall auch aus den BFH-Urteilen vom 8. April 1986 IX R 212/84 (BFHE 147, 122, BStBl II 1986, 790) und vom 29. September 1988 IV R 217/85 (BFHE 155, 94, BStBl II 1989, 196). Der BFH hat dort ebenso wie in dem Urteil in BFH/NV 1991, 311 entschieden, dass der Erlass eines Feststellungsbescheids gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht zu einer Veranlagung von Amts wegen führen soll und die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheids keine Ausweitung der in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG spezialgesetzlich geregelten Veranlagungstatbestände des EStG zur Folge haben soll. Im vorliegenden Fall ist indessen das Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid nicht berührt. Das FA hat vielmehr im Verfahren über die Veranlagung der Einkommensteuer entschieden und die Veranlagung nach § 25 Abs. 3 i.V.m. § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG durchgeführt.

3. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, ist sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Das FA hat die Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr durchzuführen.

Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt es nach alledem nicht an.

Ende der Entscheidung

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