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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 16.05.2002
Aktenzeichen: VII B 29/01
Rechtsgebiete: FGO


Vorschriften:

FGO § 65
FGO § 68
FGO § 74
FGO § 65 Abs. 1
FGO § 115 Abs. 2
FGO § 115 Abs. 3
FGO § 116 Abs. 6
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Mit Haftungsbescheid vom 22. März 1996 nahm der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) als Geschäftsführer einer GmbH für deren rückständige Umsatzsteuer in Höhe von 2 964,11 DM in Haftung. Der gegen diesen Haftungsbescheid eingelegte Einspruch führte unter Zurückweisung im Übrigen zu einer Reduzierung der Haftungssumme in der Einspruchsentscheidung.

Während des sich anschließenden Klageverfahrens erließ das FA am 23. Juni 1998 unter Hinweis auf § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) einen geänderten Haftungsbescheid, den der Kläger mit Einspruch angefochten hat. Das Klageverfahren gegen den ursprünglichen Haftungsbescheid hat das Finanzgericht (FG) gemäß § 74 FGO ausgesetzt. In der den geänderten Haftungsbescheid betreffenden Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 1999 setzte das FA die Haftungssumme auf 4 113,29 DM herauf und wies den Einspruch im Übrigen als unbegründet ab. Mit Schriftsatz vom 22. November 1999 beantragte der anwaltlich vertretene Kläger unter dem Az. ... "den geänderten Umsatzsteuerhaftungsbescheid vom 23. Juni 1998 in der Fassung vom 26. Oktober 1999 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen". Gleichzeitig beantragte er, "den geänderten Umsatzsteuerhaftungsbescheid vom 23. Juni 1998 in der Fassung des Einspruchsbescheides vom 26. Oktober 1999 aufzuheben". Auf gerichtlichen Hinweis vom 5. Januar 2000 begehrte der Kläger, den Schriftsatz vom 22. November 1999 im Wege der Auslegung als neue Klage zu behandeln, "sofern das Gericht seine Rechtsauffassung, dass der Antrag vom 22. November 1999 nach § 68 FGO zulässig und begründet sei, nicht teile". In einem späteren Schriftsatz vom 17. Juli 2000 vertrat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Auffassung, der Schriftsatz vom 22. November 1999 sei als Klage gegen den geänderten Haftungsbescheid anzusehen, weil für einen Antrag nach § 68 FGO im Streitfall kein Raum mehr gewesen sei.

Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil der nach Auffassung des FG als Klage zu wertende Schriftsatz erst am 7. Januar 2000 --mithin verspätet-- bei dem Gericht eingegangen sei. Der Schriftsatz vom 22. November 1999 sei wegen seines eindeutigen Inhalts nicht auslegungsbedürftig und könne damit auch nicht im Wege der Auslegung als Klage gewertet werden. Der Kläger habe vielmehr ausdrücklich beantragt, den geänderten Haftungsbescheid zum Gegenstand des unter dem Az. ... anhängigen Klageverfahrens zu machen. Einer Umdeutung des Antrags stehe ebenso wie einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegen, dass der Antrag von einem Rechtsanwalt gestellt worden sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und einen Verfahrensfehler gestützte Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision.

II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 116 Abs. 6 FGO).

Da das Urteil des FG vor dem 31. Dezember 2000 zugestellt worden ist, richtet sich die Zulässigkeit der Beschwerde nach § 115 Abs. 2 und Abs. 3 FGO in der bis zum 31. Dezember 2000 gültigen Fassung (FGO a.F., s. Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze --2.FGOÄndG-- vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757, BStBl I 2000, 1567).

Der Senat entnimmt dem Vorbringen des Klägers ungeachtet gewisser Mängel in der Darlegung (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO a.F.) die schlüssige Rüge eines Verfahrensmangels i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, nämlich dass das FG die Erhebung der Klage verkannt und den Rechtsstreit zu Unrecht durch Erlass eines Prozessurteils abgewiesen hat anstatt zur Sache zu entscheiden.

Die Vorschriften der FGO, die die Frage regeln, unter welchen Voraussetzungen das Gericht in einem anhängig gemachten Prozess zur Sache entscheidet, gehören zu den Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens, deren fehlerhafte Handhabung mit Verfahrensrügen geltend gemacht werden kann. Ob ein Verfahrensmangel vorliegt, richtet sich nach der objektiven Rechtslage im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. November 1993 VIII R 7/93, BFH/NV 1994, 891).

Es entspricht der überwiegenden Rechtsprechung (Näheres dazu s. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 78, m.w.N.), dass ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegt, wenn das FG objektiv fehlerhaft durch Prozess- statt durch Sachurteil entscheidet (vgl. BFH, Urteile vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; in BFH/NV 1994, 891; vom 11. Dezember 1992 VI R 162/88, BFHE 169, 507, BStBl II 1993, 306; BFH-Beschlüsse vom 6. Juli 1988 II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897, und vom 1. Februar 2000 VII B 202/99, BFH/NV 2000, 960). Im Zeitpunkt des Ergehens des Prozessurteils lag nach Auffassung des Senats eine ordnungsgemäß erhobene Klage gegen den geänderten Haftungsbescheid vom 23. Juni 1998 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 26. Oktober 1999 vor, so dass das FG hätte zur Sache entscheiden müssen.

Gemäß § 65 Abs. 1 FGO muss die Klage den Kläger, den Beklagten und den Streitgegenstand, bei Anfechtungsklagen auch den angefochtenen Verwaltungsakt bezeichnen und soll einen bestimmten Antrag enthalten. Diesen Erfordernissen wird der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers erstellte Schriftsatz vom 22. November 1999 gerecht, auch wenn er gleichzeitig den Antrag enthält, den geänderten Haftungsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Letzteres Begehren schadet unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Besonderheit des zulässigen Angriffs gegen einen während des Klageverfahrens geänderten Haftungsbescheid dann nicht, wenn dieser geänderte Haftungsbescheid nicht nach § 68 FGO in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung zum Gegenstand des anhängigen Verfahrens gegen den ursprünglichen Haftungsbescheid gemacht, sondern --wie im Streitfall-- mit zulässigem Einspruch angefochten worden ist, so dass nach Ergehen der Einspruchsentscheidung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes i.S. des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes nurmehr die Klageerhebung in Betracht kam. Denn es ist nach der Rechtsprechung des BFH davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige den Rechtsbehelf hat einlegen wollen, der seinen Belangen entspricht und der zu dem von ihm angestrebten Erfolg führen kann (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1985 I R 30/85, BFH/NV 1986, 675).

Da der Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 22. November 1999 die Prozessbeteiligten und den Streitgegenstand enthielt und es aufgrund aller erkennbaren Umstände für das Gericht ersichtlich war, dass der geänderte Haftungsbescheid, dessen Überprüfung und Aufhebung begehrt wurde, angefochten werden sollte, hat es zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden, die Erfordernisse einer Klageschrift i.S. des § 65 FGO seien bei Ablauf der Klagefrist nicht erfüllt gewesen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 169, 507, BStBl II 1993, 306).

Nachdem das Urteil des FG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht, kann der BFH das angefochtene Urteil nach § 116 Abs. 6 FGO bereits im Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen. Diese Regelung gilt nach Art. 6 2.FGOÄndG für alle zum 1. Januar 2001 noch offenen Verfahren und ist auch dann anzuwenden, wenn die Nichtzulassungsbeschwerde nicht nur auf einen Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, sondern auch auf grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO gestützt ist (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 116 FGO Rz. 285, 286; Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz. 65; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Oktober 1997 1 B 164.97, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1998, 170).

Da der Senat die Streitsache bereits wegen des Verfahrensmangels zurückverweisen musste, erübrigt sich eine weitere Begründung dazu, ob der von der Beschwerde außerdem geltend gemachte Revisionszulassungsgrund einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Ende der Entscheidung

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