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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.09.2007
Aktenzeichen: VII R 39/05
Rechtsgebiete: AO, EStG, GmbHG, InsO, FGO, BGB, RAO, StGB


Vorschriften:

AO § 34
AO § 34 Abs. 1
AO § 35
AO § 69
EStG § 38 Abs. 2 Satz 2
GmbHG § 64 Abs. 1
GmbHG § 64 Abs. 2
GmbHG § 64 Abs. 2 Satz 1
InsO § 17
InsO § 26 Abs. 1
InsO §§ 129 ff.
InsO § 129 Abs. 1
InsO §§ 130 ff.
InsO § 130 Abs. 1
InsO § 130 Abs. 1 Nr. 1
InsO § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
InsO § 133 Abs. 1
InsO § 142
FGO § 76
FGO § 76 Abs. 1
BGB § 254
BGB § 823
BGB § 823 Abs. 2
BGB § 826
RAO § 109
StGB § 266a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) sowie Herr E waren gesamtvertretungsberechtigte Geschäftsführer einer GmbH. Am 10. Januar 2002 reichte der Kläger die Lohnsteueranmeldung für den Monat November 2001 ein. Für den Monat Dezember 2001 gab weder E noch der Kläger eine Lohnsteueranmeldung ab. Für die beiden Monate wurden keine Abgabenbeträge an den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) entrichtet. Auf Antrag des Klägers vom 16. Januar 2002 wurde am 30. Januar 2002 über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet. Nach seiner Bestellung reichte der Insolvenzverwalter am 16. Oktober 2002 für den Monat November 2001 eine berichtigte Lohnsteueranmeldung sowie eine weitere Lohnsteueranmeldung für den Monat Dezember 2001 ein. Im Mai 2003 berichtigte der Insolvenzverwalter die für den Monat Dezember 2001 abgegebene Lohnsteueranmeldung.

Mit Haftungsbescheid vom 20. Januar 2003 nahm das FA den Kläger sowie E gemäß §§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO) wegen in den Monaten November und Dezember 2001 nicht abgeführter Lohnsteuer als Haftungsschuldner in Anspruch. Der Einspruch führte zu einer Herabsetzung der Haftungssumme sowie der Säumniszuschläge. Die Klage blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass der Kläger durch die Nichtabführung der geschuldeten Lohnsteuerbeträge den Haftungstatbestand des § 69 AO verwirklicht habe. Die Lohnsteuer entstehe nach § 38 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Zeitpunkt des Zuflusses des Arbeitslohns, deshalb spiele es keine Rolle, ob die GmbH im November und Dezember 2001 Lohnzahlungen für diese Monate oder für Vormonate geleistet habe. Aufgrund der vom Kläger vorgelegten Kontoübersichten bestehe kein Zweifel an der Richtigkeit der vom Insolvenzverwalter erklärten Steuerabzugsbeträge. Da der Kläger trotz seines Wissens um die bestehenden Zahlungsschwierigkeiten die Löhne ungekürzt ausgezahlt und keine Mittel zur Begleichung der Lohnsteuerschulden bereitgehalten habe, werde die schuldhafte Pflichtverletzung nicht dadurch ausgeschlossen, dass die GmbH möglicherweise an den Fälligkeitstagen nicht mehr über die entsprechenden Mittel zur Erfüllung der Steueransprüche habe verfügen können. Eine Kontenpfändung sei erst am 14. Januar 2002 erfolgt, so dass die GmbH im Zeitpunkt der Fälligkeit der Lohnsteueransprüche auf das Konto noch habe zugreifen können. Da der Kläger von vornherein keine Gelder abgesondert und zur Abführung an das FA bereitgehalten habe, könne er sich nicht auf eine mögliche Ersatzpflicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) und eine dadurch entstandene Pflichtenkollision berufen. Schließlich ändere an der Kausalität der Pflichtverletzung für den eingetretenen Steuerausfall auch der Umstand nichts, dass der Vermögensschaden möglicherweise auch bei einem pflichtgemäßen Verhalten des Klägers durch Anfechtung der Zahlungen durch den Insolvenzverwalter eingetreten wäre. Da § 69 AO Schadensersatzcharakter habe, könne ein hypothetischer Kausalverlauf keine Berücksichtigung finden. Aufgrund der dem Kläger vorzuwerfenden Pflichtverletzung sei ein Schaden entstanden, und es sei kein Grund ersichtlich, warum ein Haftungsanspruch nicht entstehen solle.

Gegen das erstinstanzliche Urteil richtet sich die Revision des Klägers, zu deren Begründung er vorträgt, dass er sich aufgrund der in § 64 Abs. 2 GmbHG normierten Schadensersatzpflicht in einer Pflichtenkollision befunden habe. Denn nach dieser Vorschrift habe er nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, die bereits Mitte Oktober 2001 eingetreten sei, keine Zahlungen mehr vornehmen dürfen. Darüber hinaus hätte der Insolvenzverwalter die Lohnsteuerzahlungen, selbst wenn diese fristgerecht vorgenommen worden wären, nach § 129 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) anfechten können. Die GmbH sei zu den Fälligkeitszeitpunkten bereits zahlungsunfähig gewesen. Aus den Vollstreckungs- und Stundungsakten habe das FA Umstände erkennen können, die zwingend auf eine Zahlungsunfähigkeit hätten schließen lassen. Denn die mit dem FA getroffenen Stundungsvereinbarungen habe die GmbH nicht einhalten können. Für die Monate August bis November 2001 seien keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben und die geschuldeten Abgaben auch nicht entrichtet worden. Somit seien die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO im Streitfall erfüllt gewesen. Da nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) Lohnsteuerzahlungen kein Bargeschäft darstellten, sei die Anfechtung auch nicht nach § 142 InsO ausgeschlossen.

Schließlich hätte das FG den Sachverhalt --insbesondere hinsichtlich des Zeitpunktes des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit und in Bezug auf die seinerzeit gebotene Kürzung der Bruttogehälter-- nach § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) näher aufklären müssen. Denn in dem Umfang, in dem Lohnkürzungen hätten vorgenommen werden müssen, sei die Haftungssumme herabzusetzen. Auch sei das FG unzutreffend von der Richtigkeit der vom Insolvenzverwalter eingereichten Lohnsteueranmeldungen ausgegangen, obwohl er, der Kläger, schriftsätzlich vorgetragen habe, dass in der Lohnsteueranmeldung für Dezember 2001 Gehälter enthalten gewesen seien, für die bereits in den Vormonaten Lohnsteuern angemeldet und abgeführt worden seien.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG sowie den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Es schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen des FG an. Im Übrigen habe es von der Zahlungsunfähigkeit der GmbH bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Kenntnis gehabt, weshalb die Voraussetzungen für eine Anfechtbarkeit gedachter Lohnsteuerzahlungen nicht vorlägen. Eine Herabsetzung des Haftungsbetrages um eine fiktive Lohnkürzung komme nicht in Betracht. Eine genaue Prüfung der Lohnsteueranmeldungen habe nicht vorgenommen werden können, denn dem FA sei die Anzahl der von der GmbH beschäftigten Arbeitnehmer nicht bekannt gewesen. Unzutreffend sei die Behauptung des Klägers, die Lohnsteueranmeldung für Dezember 2001 hätte sich zum Teil auf Löhne und Gehälter bezogen, für die in Vormonaten bereits Lohnsteuer entrichtet worden sei.

II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass hypothetische Kausalverläufe im Haftungsverfahren keine Berücksichtigung finden können und dass die Inanspruchnahme des Klägers nach § 69 AO zu Recht erfolgt ist. Der gerügte Verfahrensmangel mangelnder Sachverhaltsaufklärung liegt nicht vor.

1. Zutreffend hat das FG geurteilt, dass der Kläger die ihm als GmbH-Geschäftsführer obliegenden steuerlichen Pflichten zumindest grob fahrlässig verletzt hat. Denn als Geschäftsführer und gesetzlicher Vertreter der GmbH i.S. von § 34 Abs. 1 AO war er damit betraut, die steuerlichen Interessen der GmbH wahrzunehmen und die daraus resultierenden Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Zu ihnen gehörte die fristgerechte Entrichtung der Lohnsteuer für die Monate November und Dezember 2001 (§ 38 Abs. 3 Satz 1 und § 41a EStG). Eine Entrichtung dieser Steuern ist indes nicht erfolgt. Die in der Nichtentrichtung liegende objektive Pflichtwidrigkeit indiziert den gegenüber dem Kläger zu erhebenden Schuldvorwurf (Senatsbeschluss vom 25. Juli 2003 VII B 240/02, BFH/NV 2003, 1540, m.w.N.).

2. Zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung des Klägers und dem Eintritt des durch die Nichtentrichtung der geschuldeten Abgabenbeträge entstandenen Vermögensschadens besteht auch ein adäquater Kausalzusammenhang, der nicht dadurch entfällt, dass der Insolvenzverwalter Zahlungen, wenn diese vom Kläger innerhalb von drei Monaten vor Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet worden wären, nach § 130 Abs. 1 InsO hätte anfechten können.

a) Den zivilrechtlichen Schadensersatznormen, vor allem § 823 und § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), ist § 69 AO zwar angenähert, dennoch bestehen zwischen den Schadensersatznormen des Zivilrechts und der steuerrechtlichen Haftungsvorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Unterschiede (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Januar 1972 VI R 187/68 zu § 109 der Reichsabgabenordnung --RAO--, BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364), die eine uneingeschränkte Übertragung der zum Schadensersatzrecht, insbesondere zur Berücksichtigung von hypothetischen Kausalverläufen und zur Schadenszurechnung, ergangenen BGH-Rechtsprechung nicht geboten erscheinen lassen.

aa) Gemeinsam ist den angesprochenen Vorschriften des Zivil- und Steuerrechts, dass eine Ausgleichspflicht nur dann in Betracht kommt, wenn zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung und dem dadurch herbeigeführten Schaden ein schadensersatz- bzw. haftungsbegründender Kausalzusammenhang besteht. Der nach der BFH-Rechtsprechung erforderliche adäquate Kausalzusammenhang ist nicht mehr gegeben, wenn der Steuerausfall als Vermögensschaden des Fiskus mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens des Steuerpflichtigen unabhängig davon eingetreten ist, ob Steueranmeldungen fristgerecht eingereicht und die geschuldeten Steuerbeträge innerhalb der gesetzlich hierfür bestimmten Fristen entrichtet worden sind (Senatsurteil vom 6. März 2001 VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100, m.w.N.).

bb) Von den Fällen des tatsächlichen Unvermögens zur fristgerechten Entrichtung der geschuldeten Steuerbeträge zu unterscheiden sind die Fälle der sonstigen Reserveursachen. Bei der sog. hypothetischen Kausalität handelt es sich um die Frage, ob eine Ausgleichspflicht des Schädigers bzw. Haftenden allein deshalb entfällt, weil der verursachte Schaden aufgrund eines anderen Ereignisses ohnehin eingetreten bzw. nicht zu vermeiden gewesen wäre. Die überwiegende Literatur und die Rechtsprechung gehen davon aus, dass es sich dabei nicht um ein Problem der Kausalität, sondern um eine Frage der Schadenszurechnung handelt (Schiemann in Staudinger/Eckpfeiler (2005), BGB, § 249 Rz 93; MünchKommBGB/Oetker, 5. Aufl., § 249 Rz 201 f.; Palandt/Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 66. Aufl., Vorbem. zu § 249 Rz 96; BGH-Urteil vom 7. Juni 1988 IX ZR 144/87, BGHZ 104, 355). Denn ein nur gedachter Geschehensablauf kann die Kausalität einer realen Ursache nicht beseitigen. Nach der BGH-Rechtsprechung ist es daher eine für verschiedene Fallgruppen durchaus unterschiedlich zu beantwortende Wertungsfrage, inwieweit hypothetische Kausalverläufe geeignet sind, eine an sich gegebene Haftung zu beeinflussen (BGH-Urteil in BGHZ 104, 355, 360). Auszugehen ist vom Schutzzweck der jeweils verletzten Norm (Schiemann in Staudinger/ Eckpfeiler, a.a.O., § 249 Rz 94; im Ergebnis auch MünchKommBGB/Oetker, a.a.O., § 249 Rz 214).

cc) Durch die pflichtwidrige Nichtabführung fällig gewordener Steuerbeträge wird eine reale Ursache für den Eintritt eines Vermögensschadens in Form eines Steuerausfalls gesetzt, so dass die Kausalität dieser Ursache für den Schadenseintritt durch eine gedachte Anfechtung des Insolvenzverwalters nicht rückwirkend beseitigt werden kann. Es bleibt dabei, dass durch die Pflichtverletzung des Haftungsschuldners dem Fiskus ein diesem geschuldeter Abgabenbetrag vorenthalten worden ist.

Der vom Gesetzgeber § 69 AO beigemessene Schutzzweck und die vom BGH geforderte wertende Beurteilung lassen es nicht geboten erscheinen, den hypothetischen Kausalverlauf im Falle einer gedachten Anfechtung nach §§ 129 ff. InsO im Rahmen der Schadenszurechnung zu berücksichtigen und infolgedessen die Haftung des von § 69 AO erfassten Personenkreises (vgl. § 34 und § 35 AO) entfallen zu lassen (im Ergebnis ebenso Urteile des FG Köln vom 12. September 2005 8 K 5677/01, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2006, 86 und 8 K 5395/01, EFG 2006, 241, und des Schleswig-Holsteinischen FG vom 1. Dezember 2005 2 K 174/04, EFG 2006, 321; a.A. Entscheidungen des FG Baden-Württemberg vom 28. Juli 2004 1 V 30/04, EFG 2004, 1425, und vom 30. August 2004 1 V 49/03, EFG 2005, 2; des FG des Saarlandes vom 20. Dezember 2004 2 V 385/04, EFG 2005, 680; des FG Münster vom 23. Juni 2004 7 K 5031/00, EFG 2006, 13; des FG Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 2005 6 K 2803/04, EFG 2006, 83, und des FG Düsseldorf vom 10. Januar 2006 10 K 4216/02 H (L), EFG 2006, 618).

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH besitzt § 69 AO Schadensersatzcharakter (Senatsentscheidungen vom 1. August 2000 VII R 110/99, BFHE 192, 249, BStBl II 2001, 271; vom 5. März 1991 VII R 93/88, BFHE 164, 203, BStBl II 1991, 678; vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859; vgl. auch Begründung des Entwurfs für eine Reichsabgabenordnung zu § 83 Abs. 2 bis § 86, in Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 338 Nr. 759). Ziel der Haftung ist es, Steuerausfälle auszugleichen, die durch grob fahrlässige oder vorsätzliche Pflichtverletzungen der in § 34 und § 35 AO bezeichneten Personen verursacht worden sind. Die auf § 69 AO gestützte Haftung begründet eine Sonderverbindlichkeit gegenüber dem Fiskus, die den Individualansprüchen aus rechtsgeschäftlicher Haftung, Vertrauenshaftung und unerlaubter Handlung vergleichbar ist (Senatsbeschluss vom 2. November 2001 VII B 155/01, BFHE 197, 1, BStBl II 2002, 73).

Die Regelung der steuerlichen Haftung geht auf § 109 RAO zurück, mit dem das zivilrechtliche Vertretungsrecht in der RAO berücksichtigt und den steuerlichen Bedürfnissen angepasst werden sollte (Beermann, Haftungsbescheid nach der AO und Entschließungsermessen, in Festschrift für Franz Klein, S. 953, 961). Der haftungsrechtliche Zugriff auf gesetzliche Vertreter und Verfügungsberechtigte kann damit legitimiert werden, dass ihnen die Erfüllung steuerlicher Pflichten obliegt, die der Steuerpflichtige mangels eigener Handlungs- und Geschäftsfähigkeit nicht selbst erfüllen kann. Andererseits kommt in der Haftungsvorschrift auch das Bemühen des Gesetzgebers zum Ausdruck, der steuerrechtlichen Stellvertretung Schranken zu setzen und der Gefahr entgegenzuwirken, dass der Steuerpflichtige durch die Stellvertretung das Steueraufkommen gefährdende Vorteile erlangt (Tipke in Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 109 Rz 1, m.w.N.). Durch den in § 69 AO normierten Haftungsanspruch soll der Vertreter zur ordnungsgemäßen Erfüllung der ihm obliegenden steuerlichen Pflichten angehalten und das Steueraufkommen durch Schaffung einer Rückgriffsmöglichkeit gesichert werden.

Das Erreichen dieser Ziele würde durch die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe gefährdet. Denn ein gesetzlicher Vertreter könnte innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Erfüllung der ihm als Vertreter obliegenden steuerlichen Pflichten mit dem Hinweis vernachlässigen, dass, wenn er Steuerzahlungen vornähme, diese ohnehin der Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO ausgesetzt seien und er infolgedessen auch nicht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden könne. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Zeitpunkt der pflichtwidrigen Nichtzahlung des geschuldeten Abgabenbetrages keine zuverlässige Feststellung darüber getroffen werden kann, ob es tatsächlich zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommen wird und ob im Falle der Eröffnung eines solchen Verfahrens eine Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO überhaupt erfolgen und auch erfolgreich sein würde. Denn zum einen ist es nicht auszuschließen, dass ein Insolvenzverwalter auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von bestehenden Anfechtungsmöglichkeiten keinen Gebrauch macht; zum anderen kann eine Anfechtung daran scheitern, dass das FA die Umstände nicht kannte, die zwingend auf eine Zahlungsunfähigkeit des Schuldners hätten schließen lassen (§ 130 Abs. 2 InsO).

Bei einer Berücksichtigung von insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbeständen wäre die Durchsetzung des Haftungsanspruchs mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Denn das FA müsste beim Erlass des Haftungsbescheides und der Ausübung des ihm zustehenden Ermessens eine Prognoseentscheidung treffen und die Möglichkeit und die Erfolgsaussichten einer Ausübung von Anfechtungsrechten nach §§ 130 ff. InsO prüfen. Eine solche Überprüfung wäre nur dann entbehrlich, wenn es zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens überhaupt nicht kommt. Denn wie der Senat bereits entschieden hat (Senatsbeschluss vom 23. April 2007 VII B 92/06, BFH/NV 2007, 1736), kommt die Berücksichtigung von hypothetischen Kausalverläufen ohnehin nicht in Betracht, wenn das Insolvenzgericht den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 26 Abs. 1 InsO mangels Masse ablehnt. Zwischen Antragstellung und Bescheidung des Antrags kann jedoch ein längerer Zeitraum verstreichen, wenn z.B. der vom Insolvenzgericht eingesetzte vorläufige Insolvenzverwalter mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt worden ist (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO). Die zur Durchsetzung des Haftungsanspruchs erforderliche Handlungsfähigkeit des FA wäre in unzumutbarer Weise eingeschränkt, wenn es verpflichtet wäre, die Beendigung des Eröffnungsverfahrens abzuwarten, bevor gegen den Vertreter ein Haftungsbescheid erlassen werden könnte. Aber auch das Erfordernis einer Prognoseentscheidung über das evtl. Vorliegen der in §§ 130 ff. InsO normierten Anfechtungsvoraussetzungen, insbesondere über das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners i.S. von § 17 InsO, würde die Durchführung des Haftungsverfahrens erheblich erschweren und die Funktion der Haftungsvorschrift für diesen Zeitraum in Frage stellen. Neben dem Sicherungszweck sprechen somit auch Effektivitätsgesichtspunkte und Praktikabilitätserwägungen dafür, bei der Anwendung von § 69 AO hypothetische Kausalverläufe im Rahmen der Schadenszurechnung unberücksichtigt zu lassen.

b) Mit diesem Ergebnis setzt sich der erkennende Senat nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH. Die zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen getroffenen Entscheidungen (Urteile vom 18. April 2005 II ZR 61/03, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --ZIP-- 2005, 1026, und vom 14. November 2000 VI ZR 149/99, ZIP 2001, 80) betreffen eine mögliche Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a des Strafgesetzbuchs und damit einen deliktischen Schadensersatzanspruch. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich um einen solchen bei § 69 AO jedoch nicht. Vielmehr normiert § 69 AO einen öffentlich-rechtlichen --und zivilrechtlich nicht abdingbaren-- Haftungsanspruch, der eine Sonderverbindlichkeit gegenüber dem Fiskus begründet. Der Haftung kommt eine Ausgleichsfunktion und lediglich der Charakter eines Schadensersatzanspruchs zu (Jatzke in Beermann/Gosch, AO § 69 Rz 3, m.w.N.). Daneben verfolgt § 69 AO den Zweck, das bei steuerrechtlich nicht geschäfts- und handlungsfähigen Steuerpflichtigen auftretende Erfordernis der Stellvertretung an die besonderen Bedürfnisse des Steuerrechts anzupassen und damit zur Aufkommenssicherung beizutragen. Aus diesen Gründen kann die zum Deliktsrecht entwickelte Rechtsprechung des BGH nicht ohne weiteres auf die Haftung nach den Vorschriften der AO übertragen werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass bei einem mitwirkenden Verschulden der Finanzbehörde eine unmittelbare Anwendung der Regelung in § 254 BGB ebenfalls nicht in Betracht kommt. Nach der Rechtsprechung des Senats ist ein solches Mitverschulden allenfalls bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (BFH-Entscheidungen vom 2. November 2001 VII B 75/01, BFH/NV 2002, 310, und vom 11. Mai 2000 VII B 217/99, BFH/NV 2000, 1442, m.w.N.). Dies unterstützt den Befund, dass es sich bei § 69 AO nicht um eine Schadensersatznorm handelt, auf die sich Schadensersatzregelungen des BGB und die hierzu ergangene Rechtsprechung des BGH ohne weiteres übertragen lassen.

3. Da die Berücksichtigung einer hypothetischen Anfechtungsmöglichkeit nach § 130 Abs. 1 InsO im Rahmen einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme nach § 69 AO nicht in Betracht kommt, kann es der Senat dahingestellt sein lassen, ob die Abführung von Lohnsteuern in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine anfechtbare Rechtshandlung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO darstellt, oder ob ein Bargeschäft nach § 142 InsO vorliegt, so dass eine Anfechtung nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO möglich wäre (vgl. zur Problemstellung Senatsbeschluss vom 11. August 2005 VII B 244/04, BFHE 210, 410, BStBl II 2006, 201, und Kayser, Insolvenzrechtliche Bargeschäfte (§ 142 InsO) bei der Erfüllung gesetzlicher Ansprüche?, ZIP 2007, 49).

4. Eine Berücksichtigung fiktiver Lohnkürzungen im Rahmen der Bemessung der Haftungssumme kommt aus den dargelegten Gründen ebenfalls nicht in Betracht. Entscheidend ist, dass die Löhne im Streitfall ungekürzt ausbezahlt worden sind, und dass der Kläger die darauf entfallende Lohnsteuer nicht an das FA abgeführt hat. Die Entstehung der Lohnsteuer im Zeitpunkt des Lohnzuflusses (§ 38 Abs. 2 Satz 2 EStG) und die in der unterlassenen Lohnkürzung liegende Pflichtwidrigkeit können durch die bloße Annahme einer an sich gebotenen Lohnkürzung nicht wieder rückgängig gemacht werden.

5. Die Haftung des Klägers entfällt nicht dadurch, dass er sich aufgrund der in § 64 Abs. 2 GmbHG normierten Ersatzpflicht in einer entschuldbaren Pflichtenkollision befunden hätte. Das gilt auch für die Pflicht zur Abführung der Lohnsteuer für Dezember 2001, die am 10. Januar 2002 und damit innerhalb von drei Wochen vor dem Antrag des Klägers auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig geworden ist. Zwar kann sich nach der Rechtsprechung des Senats in einem Zeitraum von drei Wochen ab Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung der GmbH ein solcher --den Schuldvorwurf einschränkender-- Widerstreit zwischen der Steuerentrichtungspflicht einerseits und der Masseerhaltungspflicht andererseits ergeben (vgl. BFH-Urteil vom 27. Februar 2007 VII R 67/05, BFH/NV 2007, 1732), doch kann dies in den Fällen keine Geltung beanspruchen, in denen der gesetzliche Vertreter vor diesem Zeitraum die ihm im Hinblick auf die von ihm verwalteten Mittel obliegende Vorsorgepflicht zumindest grob fahrlässig verletzt hat. Denn gerade in der finanziellen Krise ist von einem GmbH-Geschäftsführer zu verlangen, dass er vorausschauend plant und entsprechende Mittel zur Entrichtung von Steuern bereithält, von denen er weiß, dass ihre Entstehung unmittelbar bevorsteht (BFH-Entscheidungen vom 11. März 2004 VII R 19/02, BFHE 205, 335, BStBl II 2004, 967; vom 16. Dezember 2003 VII R 77/00, BFHE 204, 391, BStBl II 2005, 249, und vom 9. Januar 1997 VII R 51/96, BFH/NV 1997, 324). Im Streitfall hat das FG festgestellt, dass der Kläger bereits vor Fälligkeit der für den Monat November 2001 geschuldeten Lohnsteuer wusste, dass die von ihm vertretene GmbH in Zahlungsschwierigkeiten steckte. Trotz dieser Kenntnis hat er keine Steuerbeträge zum Zwecke der fristgerechten Befriedigung des FA abgesondert und zur Abführung bereitgehalten. Substantiierte Einwände hat der Kläger gegen diese Feststellungen nicht erhoben, so dass sie für den Senat bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO). Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde am 16. Januar 2002 gestellt. Da die haftungsbegründende Pflichtverletzung dem in § 64 Abs. 1 GmbHG angesprochenen Zeitraum vorgelagert ist, kann sich der Kläger zum Ausschluss seiner steuerlichen Haftung nicht darauf berufen, dass während dieses Zeitraumes eine entschuldigende Pflichtenkollision bestanden habe.

6. Soweit der Kläger eine Verletzung der dem Gericht nach § 76 Abs. 1 FGO obliegenden Sachaufklärungspflicht rügt, liegt ein solcher Verfahrensmangel nicht vor. Denn ausweislich der Urteilsbegründung hat das FG die Richtigkeit der vom Insolvenzverwalter eingereichten Lohnsteueranmeldungen anhand der vom Kläger vorgelegten Kontoübersichten überprüft. Nach den Feststellungen des FG, gegen die der Kläger keine Einwendungen erhoben hat und die für den Senat daher bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), konnte die Höhe der Lohnzahlungen anhand dieser Unterlagen ohne weiteres nachvollzogen und mit den Angaben des Insolvenzverwalters abgeglichen werden. Eine weitere Sachaufklärung war aus der Sicht des FG nicht erforderlich.

Ende der Entscheidung

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