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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 29.10.2002
Aktenzeichen: VII R 52/01
Rechtsgebiete: UStG


Vorschriften:

UStG § 21 Abs. 2 Satz 1
UStG § 21 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), die eine Spedition betreibt, wurde im Mai 1995 Sammelgut von einer Zollabfertigungsstelle des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt --HZA--) in die vorübergehende Verwahrung gegeben. Am ... Juni 1995 übergab die Klägerin die Ware und die von ihr erstellte Versandanmeldung T1 der Firma B zum Weitertransport nach A (Finnland). Der beauftragte Fahrer quittierte den Erhalt der "Sendung und T-1" und verpflichtete sich schriftlich zur Gestellung und Einhaltung der Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren unter dem gleichen Datum. Gleichwohl beförderte er die Ware, ohne sie bei der Abfertigungsstelle zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren anzumelden und abfertigen zu lassen, direkt nach Finnland. In A wurde die Ware im Auftrag des Empfängers in dessen Freilager verbracht. Der Rückschein der Versandanmeldung wurde von den finnischen Zollbehörden an das HZA übersandt.

Mit dem angefochtenen Steuerbescheid vom 7. August 1995 nahm das HZA die Klägerin gestützt auf Art. 204 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (VO Nr. 2913/92) des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 302/1) und § 21 Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) auf Zahlung von ... DM Einfuhrumsatzsteuer in Anspruch. Der Einspruch war erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 3. November 1995).

Das Finanzgericht (FG) hielt dagegen die Klage für begründet, weil das HZA sein Ermessen hinsichtlich der Auswahl mehrerer nebeneinander als Gesamtschuldner in Betracht kommender Abgabenschuldner nicht ausgeübt habe. Die Steuerschuld sei nicht wie vom HZA angenommen, nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 2913/92 i.V.m. Art. 859 Nr. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 (VO Nr. 2454/93) der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABlEG Nr. L 253/1), und auch nicht --wie von der Klägerin zunächst vertreten-- nach Art. 204 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 2913/92 i.V.m. Art. 859 Nr. 6 VO Nr. 2454/93, sondern gemäß Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 entstanden. Entsprechendes gelte nach § 21 Abs. 2 Satz 1 UStG für die Einfuhrumsatzsteuer. Sei die Steuerschuld aber nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 entstanden, habe das zur Folge, dass neben der Klägerin als aus der Überlassung der Waren zur vorübergehenden Verwahrung Verpflichtete (Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 VO Nr. 2913/92) auf jeden Fall auch der Fahrer als Entzieher der Ware aus der zollamtlichen Überwachung gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 1 VO Nr. 2913/92 Zollschuldner geworden sei. Dahingestellt bleiben könne, ob außerdem als weitere Zollschuldnerin nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 2 und/oder Anstrich 3 VO Nr. 2913/92 die Firma B und/oder nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 3 VO Nr. 2913/92 der Empfänger der Waren in Betracht komme. Denn auf keinen Fall könne auf die Ausübung des Ermessens bei Inanspruchnahme eines der grundsätzlich gleichrangigen Gesamtschuldner verzichtet werden, die zu begründen sei. Deshalb hätte jedenfalls geprüft werden müssen, ob der jeweilige Fahrer, der durch sein Handeln unmittelbar die Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung bewirkt habe, ggf. auch neben der Klägerin und anderen als Zollschuldner herangezogen werden könne.

Mit seiner Revision macht das HZA geltend, dass die dem angefochtenen Urteil zu Grunde liegende Rechtsauffassung des FG unzutreffend sei. Der nicht genehmigte Ortswechsel der Ware sei kein Entziehen i.S. des Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92, sondern eine schlichte Pflichtverletzung i.S. von Art. 204 VO Nr. 2913/92. Als Zollschuldnerin komme im Streitfall nur eine Person, nämlich die Klägerin in Betracht (Art. 204 Abs. 3 VO Nr. 2913/92). Mangels einer Gesamtschuldnerschaft bedürfe es keiner Betätigung eines Auswahlermessens; der Steuerbescheid bestehe zu Recht.

Das HZA beantragt, die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, gemäß der zutreffenden Rechtsauffassung des FG sei Art. 204 VO Nr. 2913/92 auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden, weil es sich im Streitfall um eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung handele und diese Vorschrift nach dem eindeutigen Wortlaut gegenüber Art. 204 VO Nr. 2913/92 vorrangig sei.

II. Der Senat setzt das bei ihm anhängige Revisionsverfahren aus (§ 74 der Finanzgerichtsordnung) und legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) die unter IV. 6. genannten Fragen zur Vorabentscheidung vor.

III. Nach Auffassung des Senats sind für die Lösung des Streitfalles die folgenden Vorschriften maßgebend.

a) Gemeinschaftsrecht

aa) VO Nr. 2913/92

Art. 37

(1) Waren, die in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht werden, unterliegen vom Zeitpunkt des Verbringens an der zollamtlichen Überwachung. Sie können nach dem geltenden Recht zollamtlich geprüft werden.

(2) Sie bleiben so lange unter zollamtlicher Überwachung, wie es für die Ermittlung ihres zollrechtlichen Status erforderlich ist, und, im Fall von Nichtgemeinschaftswaren unbeschadet des Artikels 82 Absatz 1, bis sie ihren zollrechtlichen Status wechseln, in eine Freizone oder ein Freilager verbracht, wiederausgeführt oder nach Artikel 182 vernichtet oder zerstört werden.

Art. 47

Die Waren dürfen nicht ohne Zustimmung der Zollbehörden von dem Ort entfernt werden, an den sie ursprünglich verbracht worden sind.

Art. 48

Die gestellten Nichtgemeinschaftswaren müssen eine der für Nichtgemeinschaftswaren zulässigen zollrechtlichen Bestimmungen erhalten.

Art. 50

Bis zum Erhalt einer zollrechtlichen Bestimmung haben die gestellten Waren die Rechtsstellung von Waren in vorübergehender Verwahrung. Diese Waren werden nachstehend als "vorübergehend verwahrte Waren" bezeichnet.

Art. 51

(1) Die vorübergehend verwahrten Waren dürfen ausschließlich an den von den Zollbehörden zugelassenen Orten unter den von diesen Behörden festgelegten Bedingungen gelagert werden.

(2) ...

Art. 91

(1) Im externen Versandverfahren können folgende Waren zwischen zwei innerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft gelegenen Orten befördert werden:

a) Nichtgemeinschaftswaren, ....

...

(2) Die Beförderung nach Absatz 1 erfolgt

a) im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren;

...

Art. 203

(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

(2) ...

(3) Zollschuldner sind:

- die Person, welche die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hat;

- die Personen, die an dieser Entziehung beteiligt waren, obwohl sie wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass sie die Ware der zollamtlichen Überwachung entziehen;

- die Personen, welche die betreffende Ware erworben oder im Besitz gehabt haben, obwohl sie im Zeitpunkt des Erwerbs oder Erhalts der Ware wussten oder billigerweise hätten wissen müssen, dass diese der zollamtlichen Überwachung entzogen worden war;

- gegebenenfalls die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der vorübergehenden Verwahrung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben.

Art. 204

(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn in anderen als den in Artikel 203 genannten Fällen

a) eine der Pflichten nicht erfüllt wird, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens, in das sie übergeführt worden ist, ergeben, oder

b) ...,

es sei denn, dass sich diese Verfehlungen nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben.

(2) ...

(3) Zollschuldner ist die Person, welche die Pflichten zu erfüllen hat, die sich bei einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware aus deren vorübergehender Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben, oder welche die Voraussetzungen für die Überführung der Ware in dieses Zollverfahren zu erfüllen hat.

bb) VO Nr. 2454/93

Art. 201

(1) Die Zollanmeldung ist bei der Zollstelle abzugeben, der die Waren gestellt worden sind. ...

Art. 859

Folgende Verfehlungen gelten im Sinne des Art. 204 Abs. 1 des Zollkodex als Verfehlungen, die sich auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung oder des betreffenden Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt haben, sofern

- es sich nicht um den Versuch handelt, die Waren der zollamtlichen Überwachung zu entziehen;

- keine grobe Fahrlässigkeit der Beteiligten vorliegt;

- alle notwendigen Förmlichkeiten erfüllt werden, um die Situation der Waren zu bereinigen:

...

5. im Falle einer Ware in vorübergehender Verwahrung oder in einem Zollverfahren deren nicht bewilligter Ortswechsel, sofern die Ware den Zollbehörden auf Verlangen vorgeführt werden kann;

6. im Fall einer Ware in vorübergehender Verwahrung oder in einem Zollverfahren das Verbringen dieser Ware aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft oder in eine Freizone oder ein Freilager ohne Erfüllung der vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten;

...

b) Nationales Recht

§ 21 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 des Umsatzsteuergesetzes vom 27. April 1993 (BGBl I S. 566, berichtigt S. 1160, in der Fassung von Art. 20 Nr. 20 des Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetzes vom 21. Dezember 1993, BGBl I, 2310)

Für die Einfuhrumsatzsteuer gelten die Vorschriften für Zölle sinngemäß; ...

IV.

1. Bei der rechtlichen Würdigung des Streitfalles stellen sich Zweifelsfragen nach der Auslegung des maßgebenden Gemeinschaftsrechts.

a) Die Entscheidung über die Revision hängt davon ab, ob eine Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 durch Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung dadurch entstanden ist, dass die Ware ohne Bewilligung des HZA von dem Ort der vorübergehenden Verwahrung entfernt worden ist oder ob darin nur eine Pflichtverletzung i.S. des Art. 204 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 2913/92 zu sehen ist. Würde die Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 entstanden sein, so wäre nach nationalem Recht zu beurteilen, ob die Inanspruchnahme der Klägerin durch die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen schon deswegen rechtswidrig ist, weil das HZA nicht von seinem Auswahlermessen zwischen mehreren nach Art. 203 Abs. 3 i.V.m. Art. 213 VO Nr. 2913/92 in Betracht kommenden Gesamtschuldnern Gebrauch gemacht und/oder die Ausübung desselben jedenfalls nicht begründet hat. Würde in dem nicht bewilligten Entfernen der Ware vom Ort der vorübergehenden Verwahrung nur eine schlichte Pflichtverletzung i.S. von Art. 204 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 zu sehen sein, so stellt sich die Frage der Ermessensausübung nicht, weil nur die Inanspruchnahme des Pflichtigen als Zollschuldner in Betracht kommt. Es wäre aber zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 859 Nr. 6 bzw. des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 vorliegen und deswegen keine Zollschuld entstanden ist.

b) Die Fragen stellen sich in gleicher Weise im Zusammenhang mit der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer, weil dafür nach § 21 Abs. 2 Satz 1 UStG in o.g. Fassung die Vorschriften für Zölle sinngemäß gelten.

2. Mit dem HZA geht der Senat davon aus, dass im Streitfall die Klägerin verpflichtet war, die Ware nicht ohne zollamtliche Zustimmung vom zugelassenen Lagerort zu entfernen oder entfernen zu lassen (Art. 47 und Art. 51 Abs. 1 VO Nr. 2913/92). Die Klägerin ist daher sowohl Pflichtige i.S. von Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 als auch i.S. von Art. 204 Abs. 3 VO Nr. 2913/92 hinsichtlich dieser sich aus der vorübergehenden Verwahrung der Ware ergebenden Obliegenheit.

3. Unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH könnte es im Streitfall nahe liegen, mit dem FG von einem Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung auszugehen, mit der Folge, dass eine Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 entstanden ist. Denn der von der Klägerin mit der Beförderung der Ware nach Finnland beauftragte Fahrer hat die Nichtgemeinschaftsware, die sich in der vorübergehenden Verwahrung nach Art. 50 VO Nr. 2913/92 befand, von dem Ort, an dem sie nach Art. 51 VO Nr. 2913/92 zu verwahren war, ohne vorherige Zustimmung des HZA entfernt, indem er sie (entgegen der Weisung der Klägerin) nicht zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren hat abfertigen lassen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 1. Februar 2001 Rs. C-66/99, EuGHE 2001, I-873 Rdnr. 50, und vom 11. Juli 2002 Rs. C-371/99 Rdnr. 54, Internationales Steuerrecht --IStR-- 2002, 593; s. dazu auch Senatsbeschluss vom 17. Juli 2001 VII R 99/00, BFHE 195, 481) ist nämlich der Begriff des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung dahin zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 vorgesehenen Prüfungen gehindert ist. Dabei kommt es allein auf die objektive Verwirklichung des Tatbestandes an; nicht erforderlich ist, dass ein subjektives Element vorliegt. Entscheidend ist allein, dass die Ware ohne Zustimmung des HZA von dem zugelassenen Verwahrungsort entfernt worden ist (vgl. EuGH in EuGHE 2001, I-873, Rdnr. 48, 50). Mit ihrer Entfernung von dem für die vorübergehende Verwahrung zugelassenen Ort bis zu ihrer Gestellung bei der Zollstelle in A stand die Ware mangels Abfertigung zu dem für ihre Beförderung vorgeschriebenen gemeinschaftlichen Versandverfahren (Art. 91 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 2913/92) nicht unter zollamtlicher Überwachung; sie ist damit in Anwendung dieser Rechtsprechung jedenfalls zeitweise der zollamtlichen Überwachung entzogen worden.

4. Zweifel, ob dieses Ergebnis den Besonderheiten des Streitfalles gerecht wird, ergeben sich aber aus dem Umstand, dass die Ware nach ihrer Beförderung in Finnland der Zollstelle in A gestellt und anschließend in ein Freilager verbracht wurde. Insoweit liegt der Sachverhalt ähnlich wie der dem Vorabentscheidungsersuchen des Senats in BFHE 195, 481 zu Grunde liegende.

Beide Fälle unterscheiden sich von den bereits durch den EuGH entschiedenen Fällen dadurch, dass hier die Ware zwar der überwachenden Zollstelle nicht wieder gestellt bzw. vorgeführt wurde, sie aber später ohne eine besondere Aufforderung einer anderen Zollstelle gestellt bzw. vorgeführt wurde, wo sie eine (neue) zollrechtliche Bestimmung erhielt. Dagegen wurde die Ware in den entschiedenen Fällen keiner Zollstelle mehr zur Verfügung gestellt. Der EuGH hat zwar gemeint, dass ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung schon dann vorliege, wenn die Zollstelle nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und an der Durchführung der vom gemeinschaftlichen Zollrecht vorgesehenen Prüfungen gehindert wäre (EuGH in EuGHE 2001, I-873, Rdnr. 47, und in IStR 2002, 593, Rdnr. 57). Diese Voraussetzung wäre auch im Streitfall dadurch erfüllt, dass die Ware ohne Zustimmung des HZA vom zugelassenen Verwahrungsort entfernt und mangels Abfertigung zu dem für ihre Beförderung erforderlichen externen gemeinschaftlichen Versandverfahren ohne zollamtliche Überwachung befördert wurde.

Allerdings könnte darin auch das Verbringen der in der vorübergehenden Verwahrung befindlichen Ware in ein Freilager (Fall des Art. 859 Nr. 6 VO Nr. 2454/93) oder deren nicht bewilligter Ortswechsel (Fall des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93) gesehen werden, was darauf schließen ließe, dass die Pflichtverletzung im Streitfall noch nicht als ein Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung i.S. des Art. 203 Abs. 1 VO Nr. 2913/92, sondern als eine schlichte Pflichtverletzung i.S. des Art. 204 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 zu werten wäre. Für die Annahme einer schlichten Verletzung der sich aus der vorübergehenden Verwahrung ergebenden Pflicht der Klägerin (s. dazu oben unter IV. 2.) spricht, dass die Ware den Zollbehörden ohne ihr Zutun freiwillig wieder zur Verfügung gestellt und anschließend in ein Freilager verbracht wurde, so dass wirtschaftlich betrachtet keine Notwendigkeit für eine Zollerhebung durch das HZA bestehen würde, sondern es bei der späteren Abfertigung der Ware durch die Zollstelle in A sein Bewenden haben könnte, wenn die übrigen Voraussetzungen des Art. 204 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 i.V.m. Art. 859 Nr. 6 oder Nr. 5 VO Nr. 2454/93 erfüllt wären.

5. Sollte der EuGH zu dem Ergebnis kommen, dass im Streitfall nur eine schlichte Pflichtverletzung i.S. von Art. 204 Abs. 1 VO Nr. 2913/92 vorliegt, stellt sich die Frage, ob die Zollschuld deswegen nicht entstanden ist, weil die Voraussetzungen entweder des Art. 859 Nr. 6 oder des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 vorliegen. Unterstellt ein grob fahrlässiges Handeln läge nicht vor, was der Tatrichter ggf. noch zu prüfen hätte, bliebe zu klären, ob die sonst für ein Nichtentstehen der Zollschuld nach Art. 859 Nrn. 6 oder 5 VO Nr. 2454/93 erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

a) Zweifel bestehen bereits insoweit, ob im Streitfall Art. 859 Nr. 6 oder Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 einschlägig wäre. Dem Wortlaut nach spräche einiges dafür, Art. 859 Nr. 6 VO Nr. 2454/93 für anwendbar zu halten. Denn die in der vorübergehenden Verwahrung befindliche Ware ist in A in ein Freilager verbracht worden. Allerdings ist nicht eindeutig, worauf sich das Tatbestandsmerkmal "ohne Erfüllung der vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten" bezieht. Bezöge es sich auch auf die Einhaltung der Bestimmungen über die vorübergehende Verwahrung, so wäre die Vorschrift zweifellos auch im Streitfall anwendbar, falls in der nicht bewilligten Entfernung der Ware von ihrem zugelassenen Verwahrungsort nur eine schlichte Pflichtverletzung zu sehen wäre. Wäre das Tatbestandsmerkmal dagegen nur in Bezug auf die Förmlichkeiten beim Verbringen der Ware in ein Freilager zu sehen, so wäre die Vorschrift nicht einschlägig, weil die Pflichtverletzung nicht im Zusammenhang mit den für die Überführung der Ware in das Freilager stehenden Förmlichkeiten, sondern bereits zuvor durch die nicht bewilligte Entfernung der Ware von ihrem Verwahrungsort begangen worden ist.

b) Käme Art. 859 Nr. 6 VO Nr. 2454/93 nicht in Betracht, so wäre zu entscheiden, ob Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 einschlägig ist. Im Streitfall liegt zwar ein nicht bewilligter Ortswechsel der in der vorübergehenden Verwahrung befindlichen Ware von C nach A vor. Zweifelhaft ist aber, ob unter dem in Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 verwendeten Begriff des Ortswechsels jeder Ortswechsel zu verstehen ist oder ob damit nur ein Ortswechsel gemeint ist, der zwar nicht bewilligt ist, aber im Rahmen der vorübergehenden Verwahrung hätte bewilligt werden können. Für letztere Auslegung spricht der Sinn der Vorschrift, nach dem eine Zollschuld dann nicht entsteht, wenn sich die Pflichtverletzung auf die ordnungsgemäße Abwicklung der vorübergehenden Verwahrung nicht wirklich ausgewirkt hat (Art. 204 Abs. 1 VO Nr. 2913/92). Diesem Sinn wird man nur dann gerecht, wenn Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 auf den Fall eines zwar nicht bewilligten aber bewilligungsfähigen Ortswechsels beschränkt bleibt. Nur dann ließe sich auch der in Art. 859 Anstrich 3 VO Nr. 2454/93 festgelegten Voraussetzung der Erfüllung aller notwendigen Förmlichkeiten zur Bereinigung der Situation der Waren gerecht werden, indem die nachträgliche Bewilligung des Ortswechsels beantragt wird.

Würde die Anwendung des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 auf den bewilligungsfähigen Ortswechsel beschränkt, so würde diese Bestimmung im Streitfall nicht zum Zuge kommen, weil die Beförderung der Ware zwischen den in verschiedenen Mitgliedstaaten liegenden Orten nicht bewilligt worden wäre. Man könnte aber auch der Auffassung sein, dass infolge der Abfertigung durch die Zollstelle in A, die (wohl) ohne Beanstandung durchgeführt worden ist, der nicht genehmigte Ortswechsel geheilt worden ist.

Sollte Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 dahin auszulegen sein, dass seinem Wortlaut entsprechend jeder nicht bewilligte Ortswechsel einer in der vorübergehenden Verwahrung befindlichen Ware unter diese Bestimmung fällt, so stellt sich die weitere Frage, ob die Voraussetzung, dass die Ware den Zollbehörden auf Verlangen vorgeführt werden kann, auch dadurch erfüllt wird, dass die Ware nach ihrer Beförderung außerhalb des dafür vorgesehenen gemeinschaftlichen Versandverfahrens einer anderen als der ursprünglichen Zollstelle wieder gestellt worden ist. Dafür spricht, dass Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 keine bestimmte Zollstelle anspricht, der die Ware wieder vorzuführen ist, sondern ganz allgemein von "den Zollbehörden" spricht. Darunter könnte jede Zollbehörde verstanden werden, der die Ware (unverändert und unbeschädigt) wieder gestellt wird und unter deren Überwachung sie damit gestellt wird. Wäre die genannte Vorschrift dahin zu verstehen, so wäre der Verpflichtung, die Ware den Zollbehörden auf Verlangen vorzuführen, dadurch Genüge getan, dass die Ware ohne Aufforderung der Zollbehörden der Zollstelle in A gestellt und sie damit wieder unter zollamtliche Überwachung gestellt worden ist.

Es bestehen jedoch auch insoweit bereits deswegen Zweifel, ob diese Auslegung des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 zutreffend ist, weil dadurch die eigentlich vorgeschriebene Anwendung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens für die Beförderung der Ware von Zollstelle zu Zollstelle unterlaufen würde. Außerhalb dieses Verfahrens ist schon allein die Nämlichkeitssicherung der betreffenden Ware nicht gewährleistet. Deshalb liegt es nahe, unter dem Begriff "Zollbehörden" i.S. des Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 allein die jeweils überwachende Zollstelle zu verstehen. Nur wenn dieser die Ware auf Verlangen vorgeführt werden kann, wäre die Voraussetzung für ein Nichtentstehen der Zollschuld durch die Pflichtverletzung insoweit erfüllt. Dass unter dem Begriff "Zollbehörden" nur die Zollstelle verstanden werden kann, der die Ware ursprünglich gestellt worden ist, ergibt sich auch daraus, dass gemäß Art. 201 Abs. 1 Satz 1 VO Nr. 2454/93 nur bei dieser die zur Beendigung der vorübergehenden Verwahrung und zur Erlangung einer zollrechtlichen Bestimmung der Ware erforderliche Zollanmeldung abgegeben werden kann. Würde Art. 859 Nr. 5 VO Nr. 2454/93 in dieser Weise verstanden, hätte im Streitfall die Vorführung der Ware bei der Zollstelle in A die Entstehung der Zollschuld nicht verhindert.

6. Wegen der bestehenden Zweifel an der zutreffenden Auslegung der Art. 203 Abs. 1 und Art. 204 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 2913/92 sowie des Art. 859 Nrn. 5 und 6 VO Nr. 2454/93 hält es der Senat daher für erforderlich, den EuGH um die Vorabentscheidung folgender Fragen zu ersuchen:

a) Entsteht eine Einfuhrzollschuld gemäß Art. 203 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92, wenn eine in der vorübergehenden Verwahrung befindliche Ware ohne Zustimmung der Zollbehörde, der die Ware gestellt wurde, von dem Verwahrungsort entfernt wird, aber einer anderen Zollstelle wieder gestellt wird, ohne jedoch zuvor zu dem für die Beförderung erforderlichen gemeinschaftlichen Versandverfahren abgefertigt worden zu sein?

b) Für den Fall, dass die vorstehende Frage verneint wird: Liegt in dem in Frage a) geschilderten Fall eine Pflichtverletzung vor, die gemäß Art. 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld führen kann?

c) Für den Fall, dass die Frage zu b) bejaht wird: Ist Art. 859 Nr. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 dahin auszulegen, dass er auch anzuwenden ist, wenn eine in der vorübergehenden Verwahrung befindliche Ware unter Verletzung der mit der vorübergehenden Verwahrung zusammenhängenden Förmlichkeiten in ein Freilager verbracht wird?

d) Für den Fall, dass die Frage zu c) verneint wird:

aa) Ist Art. 859 Nr. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 dahin auszulegen, dass er nur einen nicht bewilligten Ortswechsel meint, der von der Zollstelle hätte bewilligt werden können, oder ist darunter jeder beliebige Ortswechsel zu verstehen?

bb) Ist Art. 859 Nr. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 dahin auszulegen, dass die darin festgelegte Voraussetzung, dass die in der vorübergehenden Verwahrung befindliche Ware den Zollbehörden auf Verlangen vorgeführt werden kann, nur dann erfüllt ist, wenn die Ware der Zollstelle wieder vorgeführt wird, der sie ursprünglich gestellt worden ist, oder ist die Voraussetzung auch dann erfüllt, wenn die Ware einer beliebigen Zollstelle --auch in einem anderen Mitgliedstaat-- wieder gestellt wird?

Ende der Entscheidung

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