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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 22.10.2002
Aktenzeichen: VII R 53/02
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO, GG


Vorschriften:

AO 1977 § 110 Abs. 2 Satz 1
FGO § 118 Abs. 2
GG Art. 19 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) hat den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) mit einem diesem persönlich am 25. März 1995 zugestellten Haftungsbescheid für Steuerrückstände einer GmbH in Haftung genommen. Mit Schreiben vom 17. Juli 1995 --eingegangen beim FA am 19. Juli 1995-- legten die Bevollmächtigten des Klägers gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein und beantragten, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründeten sie damit, dass sie mit einem an das FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in X adressierten Schreiben vom 19. April 1995 gegen den Haftungsbescheid Einspruch eingelegt hätten. Die fehlerhafte Adressierung sei von dem Prozessbevollmächtigten erst am 14. Juli 1995 anlässlich eines Telefonats mit seinem Mandanten erkannt worden.

Die Sachbearbeiterin des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in X bestätigte den Eingang des Schreibens bei ihr am 21. April 1995. Sie habe dieses Schreiben jedoch in der Meinung, dass es sich lediglich um die Information über einen bei dem --zuständigen-- FA Z erhobenen Einspruch gehandelt habe, in den Akten abgelegt und nicht an das FA Z weitergeleitet. Das FA versagte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Das Finanzgericht (FG) hat der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage stattgegeben, die Einspruchsentscheidung des FA vom 22. September 1995 aufgehoben und die Revision zugelassen.

Die Revision des FA führte zur Klageabweisung (Senatsurteil vom 19. Dezember 2000 VII R 7/99, BFHE 193, 515, BStBl II 2001, 158).

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die o.g. Entscheidung in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde aufgehoben und entschieden, dass die angegriffene Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verletzt (BVerfG-Beschluss vom 2.9.2002 1 BvR 476/01). Die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gebiete eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (BVerfG-Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 1 BvR 830/00, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2000, 1163). Deshalb dürften die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden. Zwar begründe die fehlerhafte Angabe der Behörde, bei der der Rechtsbehelf anzubringen ist, nach der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichte regelmäßig die Annahme subjektiv vorwerfbarer Außerachtlassung der zumutbaren Sorgfalt. Andererseits bestehe für die Behörden grundsätzlich die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Einspruchsschreiben erkennbare Schriftstücke im Zuge des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an die zuständige Behörde weiterzuleiten. Habe die unzuständige Behörde die Übermittlung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlassen, komme im Falle willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens der Behörde auch nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht (Hinweis auf den Beschluss des BFH vom 6. Mai 1998 IV B 108/97, BFH/NV 1999, 146).

Das BVerfG sah in der Ablage des Einspruchsschreibens durch die Sachbearbeiterin in den Akten des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung ein solches offenkundig nachlässiges Fehlverhalten eines Behördenmitarbeiters, weil das FA X, an welches das Einspruchsschreiben adressiert gewesen sei, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt der richtige Adressat des Einspruchs hätte sein können. In dem Schreiben selbst waren sowohl der angefochtene Haftungsbescheid als auch die erlassende Behörde bezeichnet, so dass das Schreiben leicht als Irrläufer habe erkannt und ohne weitere Nachforschungen an das zuständige FA hätte weitergeleitet werden können. Dass es sich nicht lediglich um die Information über einen bei einem anderen FA erhobenen Einspruch handeln konnte, hätte sich aufgrund der Tatsache, dass es sich nicht um eine Fotokopie einer Einspruchsschrift, sondern das mit einer Originalvollmacht versehene Originalschriftstück gehandelt hat, aufdrängen müssen.

Nach diesen Grundsätzen war dem Kläger, nachdem das FG sinngemäß den Wegfall des Hindernisses am 14. Juli 1995, an dem Tag der Erkenntnis der falschen Adressierung durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers, als zutreffend angesehen hat (§ 110 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung --AO 1977--), woran der Senat gebunden ist (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), für die versäumte Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Revision des FA war danach als unbegründet zurückzuweisen.



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