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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 12.10.1999
Aktenzeichen: VII R 98/98
Rechtsgebiete: AO 1977, UStG


Vorschriften:

AO 1977 § 34
AO 1977 § 69
AO 1977 § 191 Abs. 1
UStG § 18
BUNDESFINANZHOF

Der Haftungsschuldner kann auch nach Ergehen des Umsatzsteuer-Jahresbescheids gegenüber dem Steuerschuldner noch durch Haftungsbescheid für rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen in Anspruch genommen werden, wenn die Haftungsvoraussetzungen (nur) bezüglich der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen vorlagen.

AO 1977 §§ 34, 69, 191 Abs. 1 UStG § 18

Urteil vom 12. Oktober 1999 - VII R 98/98 -

Vorinstanz: FG des Landes Sachsen-Anhalt (EFG 1999, 101)


Gründe

I.

Streitig ist die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners für rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen nach Ergehen des Umsatzsteuer-Jahresbescheids.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) hat die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) als alleinige Geschäftsführerin einer GmbH mit Haftungsbescheid für Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche für die Monate Juli bis Oktober 1993 in Höhe von zuletzt 22 836,46 DM in Anspruch genommen, nachdem die Umsatzsteuer-Jahresschuld für 1993 --bestandskräftig-- in Höhe von 36 523 DM (davon getilgt 5 315,28 DM) festgesetzt worden war.

Die Inanspruchnahme stützte das FA darauf, daß die Klägerin in grob fahrlässiger Weise die ihr als gesetzlicher Vertreterin der Steuerschuldnerin nach § 69, 34 der Abgabenordnung (AO 1977) obliegenden Pflichten zur Abgabe monatlicher Umsatzsteuer-Voranmeldungen nicht bzw. verspätet erfüllt und die aufgrund der verspäteten Voranmeldungen bzw. der auf Schätzungen beruhenden Festsetzungen fällig gewordenen Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche nicht beglichen habe.

Die von der Klägerin erhobene Klage führte zur Aufhebung des Haftungsbescheids und der Einspruchsentscheidung. Das Finanzgericht (FG) urteilte in dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 101 veröffentlichten Urteil, eine Haftungsinanspruchnahme der Klägerin komme hinsichtlich der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen nicht in Betracht, weil die Vorauszahlungsschulden zum Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme der Klägerin wegen des zwischenzeitlich ergangenen Umsatzsteuer-Jahresbescheids nicht mehr bestanden hätten.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des FA. Es trägt vor, aufgrund der Akzessorietät der Haftung setze die Haftungsschuld das Bestehen der Steuerschuld voraus, nicht aber deren Festsetzung gegenüber dem Steuerschuldner. Durch den Erlaß des Umsatzsteuer-Jahresbescheids entfielen die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche nicht ersatzlos, sondern sie würden nur in anderer Form geltend gemacht. Die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschulden setzten sich in der Umsatzsteuer-Jahresschuld fort, weshalb die Haftung auf die Höhe der Jahressteuerschuld begrenzt sei. Dieser Umstand schließe es jedoch nicht aus, hinsichtlich der übrigen Haftungsvoraussetzungen an die Vorauszahlungsschuld anzuknüpfen.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Voraussetzung für die Haftungsinanspruchnahme sei, daß der Primäranspruch bei Erlaß des Haftungsbescheids noch bestehe. Dieser --nämlich die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld-- für Juli bis Oktober 1993 bestünde aber, nachdem das FA den Jahressteuerbescheid erlassen habe, nicht mehr. Mit dem Jahressteuerbescheid verlören die Vorauszahlungsbescheide ihre Wirksamkeit; das materielle Ergebnis der in dem Kalenderjahr entstandenen Umsatzsteuer werde für die Zukunft allein in dem Jahressteuerbescheid und der darauf vorzunehmenden Steuerabrechnung festgestellt. Dementsprechend gehe der Haftungsanspruch gegen die Klägerin ins Leere, denn für die Umsatzsteuer-Jahresschuld könne die Klägerin nicht in Anspruch genommen werden, weil sie ihre Geschäftsführertätigkeit bereits im November 1993 --mithin vor Entstehen der Jahressteuerschuld-- beendet habe.

II.

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FA hat die Klägerin zu Recht als Haftungsschuldnerin für die rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld der GmbH für die Monate Juli bis Oktober 1993 in Anspruch genommen. Der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids steht nicht entgegen, daß im Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme die Jahressteuerschuld bereits durch Jahressteuerbescheid festgesetzt worden war.

1. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet.

a) Haften i.S. des § 191 AO 1977 bedeutet Einstehenmüssen für eine fremde Steuerschuld (vgl. Boeker in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 191 AO 1977 Rz. 4, m.w.N.). Tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Haftungsinanspruchnahme ist daher neben dem Bestehen einer öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Haftungsnorm, daß eine Steuerschuld oder der Anspruch auf eine steuerliche Nebenforderung entstanden ist und im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides noch besteht (Grundsatz der Akzessorietät, vgl. Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 6. Aufl., § 191 Anm. 2, und Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. November 1995 VII R 26/95, BFH/NV 1996, 379, 382, m.w.N.). Der Haftungsanspruch entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den die Haftungsnorm die Haftungsfolge knüpft (§ 38 AO 1977), jedoch nicht vor Entstehen der Steuerschuld (vgl. Ehlers in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 191 AO 1977 Rz. 3; Boeker, a.a.O., § 191 AO 1977 Rz. 19; Halaczinsky in Koch/ Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 191 Rz. 10; BFH-Urteil vom 6. Oktober 1977 V R 50/74, BFHE 124, 90, BStBl II 1978, 241, 243).

b) Der Anspruch auf Umsatzsteuer-Vorauszahlungen entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums.

Gemäß § 38 AO 1977 entsteht der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Nach der Regelung in § 13 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs. 2 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) entsteht der Anspruch auf Umsatzsteuer-Vorauszahlung für alle in einem Voranmeldungszeitraum (§ 18 UStG) ausgeführten Umsätze jeweils mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums. Hat der Steuerpflichtige monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldungen abzugeben, so entsteht der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsanspruch mit Ablauf des letzten Tages des jeweiligen Kalendermonats (Wagner in Sölch/Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, § 13 Rz. 11; s. auch BFH-Urteil vom 9. Mai 1996 V R 62/94, BFHE 181, 188, BStBl II 1996, 662, und in BFHE 124, 90, BStBl II 1978, 241, 243). Die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung oder die Festsetzung der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld durch das FA ist weder Voraussetzung für das Entstehen der Umsatzsteuer, noch hat sie darauf eine Auswirkung (vgl. Senatsurteil vom 30. März 1993 VII R 108/92, BFH/NV 1993, 583).

Die GmbH war --unbestritten-- verpflichtet, monatlich Voranmeldungen abzugeben, so daß die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche des FA jeweils mit Ablauf des Kalendermonats (Juli bis Oktober 1993) entstanden waren. Zu diesem Zeitpunkt ist bei Vorliegen der übrigen Haftungsvoraussetzungen auch der Haftungstatbestand entstanden, ohne daß es hierzu des Erlasses eines Haftungsbescheids bedurft hätte (vgl. Senatsurteil vom 15. Oktober 1996 VII R 46/96, BFHE 181, 392, BStBl II 1997, 171).

2. Da der Haftungsschuldner für fremde Schuld einzustehen hat, setzt seine Inanspruchnahme voraus, daß der Steueranspruch (Primäranspruch) bei Erlaß des Haftungsbescheids materiell-rechtlich noch besteht (vgl. BFH-Urteil vom 17. Oktober 1980 VI R 136/77, BFHE 131, 449, BStBl II 1981, 138, und Senatsurteil in BFH/NV 1996, 379, 382, m.w.N.).

Entscheidend ist die materiell-rechtliche Existenz des Steueranspruchs, nicht seine formale Festsetzung. Die Festsetzung des Steueranspruchs gegenüber dem Steuerschuldner ist für die Inanspruchnahme des Haftenden ohne Bedeutung. Denn die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners setzt nicht voraus, daß die Steuerschuld gegen den Erstschuldner festgesetzt worden ist (BFH in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteil vom 2. Februar 1994 II R 7/91, BFHE 173, 306, BStBl II 1995, 300, 302). Ausreichend ist, daß der Primäranspruch gegen die GmbH bei Erlaß des Haftungsbescheids bzw. im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über diesen noch besteht (vgl. BFH-Urteil vom 5. November 1992 I R 41/92, BFHE 170, 204, BStBl II 1993, 407, m.w.N.).

Dies ist im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids der Fall gewesen. Insbesondere ist der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsanspruch weder durch einen Erlöschensgrund nach § 47 AO 1977 noch durch die formelle Festsetzung der Jahressteuerschuld im Umsatzsteuer-Jahresbescheid erloschen.

a) Der Haftungsanspruch gegenüber der Klägerin ist nicht durch Erlöschen des ihm zugrundeliegenden Steueranspruchs gegen die GmbH aufgrund eines Erlöschenstatbestandes nach § 47 AO 1977 gegenstandslos geworden.

Nach § 47 AO 1977 erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis insbesondere durch Zahlung (§§ 224, 224a, 225 AO 1977), wenn gegen die Steuerschuld mit einer Gegenforderung aufgerechnet wird oder der Steuergläubiger im Vollstreckungsverfahren gegen den Steuerschuldner Befriedigung gefunden hat. Gleiches gilt bei Eintritt der Zahlungsverjährung oder Erlaß der Steuerschuld (§ 191 Abs. 5 Satz 1 AO 1977 i.V.m. §§ 228 bis 232, 163, 227 AO 1977). Ebenso darf nach § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 --sofern nicht der Ausnahmetatbestand des Abs. 5 Satz 2 AO 1977 vorliegt-- der Haftungsanspruch nicht mehr geltend gemacht werden, wenn die Steuerschuld gegen den Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist und wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden könnte (§§ 169 bis 171 AO 1977). Auch könnte ein unter einer auflösenden Bedingung entstandener Steueranspruch wegen Eintritts derselben erloschen sein (§ 47 AO 1977; zu den Erlöschensgründen allgemein vgl. Senatsurteile vom 26. Juli 1988 VII R 83/87, BFHE 153, 512, BStBl II 1988, 859, und vom 14. März 1989 VII R 152/85, BFHE 156, 73, BStBl II 1990, 363, 366).

Keiner dieser Erlöschensgründe ist im vorliegenden Fall für die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche gegen die GmbH vom Juli bis Oktober 1993 eingetreten.

b) Die formelle Festsetzung des Umsatzsteuer-Jahresanspruchs durch Umsatzsteuer-Jahresbescheid führt --entgegen der Auffassung der Vorinstanz und der Klägerin-- nicht zum Erlöschen der materiell-rechtlichen Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld.

aa) § 38 AO 1977 i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Nr. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG gehen für die Entstehung der Umsatzsteueransprüche von einem materiell-rechtlichen, d.h. an der Tatbestandsverwirklichung des materiellen Steuergesetzes orientierten Entstehungstatbestand aus. Die Festsetzung der Umsatzsteuer ist nicht materiell-rechtlicher Rechtsgrund für die Entstehung des Anspruchs sondern, --sofern die Umsatzsteuer in der zutreffenden Höhe festgesetzt ist-- lediglich deklaratorische Bestätigung des kraft Gesetzes entstandenen Steueranspruchs. Nach dem für die Umsatzsteuer geltenden Grundsatz der Abschnittsbesteuerung ist der Besteuerungszeitraum (gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG grundsätzlich das Kalenderjahr) in zwölf bzw. vier Voranmeldungszeiträume unterteilt. Wenn auch Besteuerungszeitraum das Kalenderjahr ist (§ 16 Abs. 1 Satz 2 UStG), so entstehen doch nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung für alle in einem Voranmeldungszeitraum ausgeführten Umsätze kraft Gesetzes eigenständige Umsatzsteueransprüche mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, die von den in dem Voranmeldungszeitraum ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen und von den in diesem Zeitraum anfallenden Vorsteuerbeträgen abhängen, ohne daß es einer Festsetzung durch das FA und damit eines Steuerbescheids i.S. des § 218 Abs. 1 AO 1977 bedürfte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile vom 6. Februar 1990 VII R 86/88, BFHE 160, 108, BStBl II 1990, 523; vom 24. Juli 1990 VII R 62/89, BFHE 161, 412, 414, BStBl II 1990, 946, und in BFH/NV 1993, 583, 584).

Diese an die Tatbestandsverwirklichung im Besteuerungszeitraum anknüpfenden Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche des Voranmeldungszeitraums sind selbständig realisierbar; d.h. sie können z.B. im Falle des Vorsteuer-Überschusses ausgezahlt oder abgetreten (vgl. BFH-Urteil vom 24. Januar 1995 VII R 144/92, BFHE 177, 8, BStBl II 1995, 862, 866) oder einer Aufrechnung zugrunde gelegt werden (Senatsbeschluß vom 22. August 1995 VII B 107/95, BFHE 178, 532, BStBl II 1995, 916). Sie bleiben als eigenständige Vorauszahlungsansprüche auch dann bestehen, wenn die Jahressteuerschuld entstanden ist. Letztere entsteht für das Kalenderjahr erst in dem Zeitpunkt, in dem sie nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 UStG berechenbar ist. Das ist das Ende des Besteuerungszeitraums, mithin das Ende des Kalenderjahres (BFH-Urteil in BFHE 181, 188, BStBl II 1996, 662). Sind die Vorauszahlungsansprüche festgesetzt worden, so hat deren Festsetzung nach den Urteilen des BFH auch dann Bestand, wenn ihnen die in § 18 Abs. 3 und 4 UStG vorgesehene Jahressteuerfestsetzung bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist nicht nachfolgt (vgl. BFH-Entscheidungen vom 29. November 1984 V R 146/83, BFHE 143, 101, BStBl II 1985, 370; vom 17. September 1992 V R 17/86, BFH/NV 1993, 279, und vom 15. Juni 1999 VII R 3/97, zur Veröffentlichung bestimmt).

Die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche bleiben als selbständige Ansprüche auch dann bestehen, wenn der Jahressteuerbescheid ergeht. Denn die Abgabe von Steuererklärungen für den Besteuerungszeitraum (= das Kalenderjahr) berührt die bereits abgegebenen Voranmeldungen bzw. die Festsetzungen von Umsatzsteuer-Vorauszahlungen nicht. Diese werden weder geändert, noch ergänzt oder aufgehoben (Mößlang in Sölch/Ringleb/List, a.a.O., § 18 Rz. 65). So hat auch der erkennende Senat insbesondere in dem Urteil in BFHE 177, 8, BStBl II 1995, 862 die Eigenständigkeit der Umsatzsteuer-Vorauszahlungen gegenüber der Festsetzung der Jahresumsatzsteuer betont. Der Regelungsgehalt der Vorauszahlungsbescheide bleibe von dem späteren Erlaß des Jahressteuerbescheids "unberührt", wenn der Umsatzsteuer-Jahresbescheid keine Feststellungen darüber enthalte, daß die Voranmeldungen bzw. Festsetzungen der Umsatzsteuer für bestimmte Monate materiell fehlerhaft waren. Von der Eigenständigkeit der entstandenen und festgesetzten Vorauszahlungsansprüche gegenüber der ebenfalls festgesetzten Jahressteuerschuld geht auch das Gesetz aus. Denn kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in § 18 Abs. 4 Satz 3 UStG bleibt die Fälligkeit rückständiger Vorauszahlungen auch nach der Festsetzung der Jahressteuerschuld bestehen (vgl. Mößlang, a.a.O., § 18 Rz. 31). Die durch die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen, bzw. der Festsetzung von Umsatzsteuer-Vorauszahlungen bewirkte Fälligkeit der Vorauszahlungsansprüche wird durch die Abgabe der Jahressteuererklärung bzw. die Festsetzung der Jahressteuer nicht aufgehoben. Die sich aus § 18 Abs. 4 Satz 1 und 2 UStG ergebende Fälligkeit der Jahressteuer von einem Monat nach Abgabe der Steueranmeldung oder nach abweichender Festsetzung betrifft nur den von der Summe der vorangemeldeten Steuer abweichenden Unterschiedsbetrag (vgl. § 18 Abs. 4 Satz 3 UStG; BFH-Beschluß vom 20. August 1992 V R 98/90, BFH/NV 1993, 208).

bb) Aus all dem folgt, daß die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche --auch wegen der Besonderheiten der im Umsatzsteuerrecht geltenden Abschnittsbesteuerung-- mit der Festsetzung der Jahressteuer nicht erlöschen. Vielmehr gehen die Ansprüche auf Vorauszahlung von Umsatzsteuer für die Voranmeldungszeiträume des Kalenderjahres materiell-rechtlich in die für das Kalenderjahr zu entrichtende Steuer oder in den Überschuß ein (§ 18 Abs. 3 Satz 1 UStG; vgl. Senatsentscheidung in BFHE 178, 532, 535, BStBl II 1995, 916, und BFH-Beschluß vom 31. Januar 1991 V B 135/90, BFH/NV 1991, 563, m.w.N.). Sie sind mithin durch die Festsetzung der Jahressteuer nicht erloschen oder durch einen neuen Anspruch abgelöst, sondern Teil der für das Kalenderjahr entstandenen Umsatzsteuer. Soweit die Vorauszahlungsschuld selbst durch Tilgung erloschen ist, wird dies in dem Abrechnungsteil des Umsatzsteuer-Jahresbescheids berücksichtigt, so daß nurmehr der positive oder negative Saldo zwischen der Jahressteuerschuld und den Vorauszahlungsschulden in Erscheinung tritt. In diesem Saldo sind die rückständigen Vorauszahlungsansprüche des FA verkörpert.

c) Setzt sich somit die Jahresumsatzsteuer aus der Summe oder dem Saldo zwischen den monatlichen Voranmeldungen (Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüchen oder Erstattungsansprüchen) zusammen, so bewirkt die Nichterfüllung von Vorauszahlungsansprüchen in gleicher Höhe die Nichterfüllung der Jahressteuerschuld. Das bedeutet, daß sich die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche in dem Anspruch des FA auf Entrichtung der Umsatzsteuer-Jahresschuld fortsetzen. Für die Inanspruchnahme eines für rückständige Vorauszahlungen Haftenden bedeutet dies, daß der Primäranspruch des FA auf die Entrichtung der rückständigen Vorauszahlungsschulden auch nach Festsetzung der Jahressteuerschuld weiterhin besteht und daß der Haftende bei Vorliegen der übrigen Haftungsvoraussetzungen durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden kann.

3. Dem steht nicht entgegen, daß nach der Rechtsprechung des BFH in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Steuerfestsetzung aufgrund einer Umsatzsteuer-Voranmeldung bzw. eines Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheids mit der wirksamen Bekanntgabe des Umsatzsteuer-Jahresbescheids gemäß § 124 Abs. 2 AO 1977 auf andere Weise erledigt, d.h. abgelöst ist (vgl. BFH-Urteile vom 17. März 1994 V R 39/92, BFHE 174, 268, BStBl II 1994, 538, und in BFHE 143, 101, BStBl II 1985, 370).

a) Danach verliert der Vorauszahlungsbescheid, soweit er noch nicht vollzogen ist, durch den Erlaß des Jahressteuerbescheids seine Wirksamkeit, so daß das materielle Ergebnis der in dem Kalenderjahr positiv oder negativ entstandenen Umsatzsteuer für die Zukunft ausschließlich aus dem Jahressteuerbescheid zu entnehmen ist (BFH-Urteil vom 21. Februar 1991 V R 130/86, BFHE 163, 408, BStBl II 1991, 465) und dieser vom Zeitpunkt seines Ergehens an die alleinige Grundlage für die Verwirklichung des Anspruchs auf die mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums entstandene Steuer sowie für die Einbehaltung der als Vorauszahlungen für den Veranlagungszeitraum entrichteten Beträge wird (BFH-Urteil in BFHE 143, 101, BStBl II 1985, 370; BFH-Beschluß vom 3. Juli 1995 GrS 3/93, BFHE 178, 11, BStBl II 1995, 730, 732). Durch diese formelle Bescheidlage, die die Geltendmachung des Steueranspruchs in verfahrensrechtlicher Hinsicht regelt, wird die materiell-rechtliche Existenz der als Haftungsgrundlage in Betracht kommenden Vorauszahlungsschuld als Teil der Jahressteuer nicht berührt (a.A. Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, Köln 1999, Rz. 465).

b) Die den Steueranspruch (= Primäranspruch) betreffende Erledigung der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide durch den Erlaß des Jahressteuerbescheids berührt den Haftungsanspruch und dessen Geltendmachung durch Haftungsbescheid nicht.

Die sich aus der Rechtsnatur der Haftung ergebende Abhängigkeit der Haftungsschuld zum Entstehen und Bestehen der Steuerschuld führt nicht zu einer inhaltlichen Identität ihres verfahrensrechtlichen Schicksals. Vielmehr ist die Haftung trotz der dargestellten Akzessorietät gegenüber der Steuerschuld weitgehend verselbständigt, so daß die Betriebssteuerschuld des Steuerschuldners unterschieden werden muß von der eigenständigen Haftungsschuld des Haftenden. Auf den Haftenden geht nicht die Steuerschuld über, sondern der Anspruch des FA auf Haftung für eine bestimmte Steuerschuld tritt neben dessen Steuerforderung. Es besteht weder nach steuerrechtlichen noch nach zivilrechtlichen Vorschriften eine Akzessorietät dahingehend, daß es für das Entstehen, den Fortbestand und die Geltendmachung einer Haftungsschuld auf die Festsetzung der zugrundeliegenden Steuerschuld ankommt. Der Haftungsanspruch des FA kann vielmehr unmittelbar nach seiner Entstehung (§ 37 Abs. 1, § 38 AO 1977) gegenüber dem Haftenden eigenständig durch Haftungsbescheid geltend gemacht werden, ohne daß ein Steuerbescheid hätte erlassen oder gar bestandskräftig werden müssen (BFH in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteile in BFHE 173, 306, BStBl II 1995, 300, 302, und in BFH/NV 1996, 379, 382).

Ohne Bedeutung für die Haftungsinanspruchnahme ist danach, daß die Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Vorauszahlungsfestsetzungen gegenüber dem Steuerschuldner --wie im Streitfall-- durch den Erlaß des Jahressteuerbescheids ihre Wirksamkeit verloren haben und nurmehr die sich aus Letzterem ergebende --mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entstandene-- Jahressteuer verwirklicht werden kann. Denn das Recht zur Haftungsinanspruchnahme folgt aus der Tatbestandsverwirklichung als haftungsauslösendes Element und nicht aus der Festsetzung der Steuerschuld. Entscheidend ist daher, daß der entstandene Primäranspruch --hier die materiell-rechtliche Vorauszahlungsschuld gegen die GmbH-- durch die Festsetzung der Jahressteuerschuld nicht erloschen oder sonst untergegangen ist (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 170, 204, BStBl II 1993, 407, m.w.N.).

c) Da die Haftung an die Verwirklichung des haftungsauslösenden Tatbestands, hier an die mit Ablauf des jeweiligen Vorauszahlungszeitraums kraft Gesetzes entstandenen Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche anknüpft, müssen auch die übrigen Haftungsvoraussetzungen i.S. des § 191 Abs. 1 AO 1977 --im Streitfall §§ 34, 69 AO 1977 im Zeitpunkt der Entstehung der Vorauszahlungsansprüche und nicht, wie die Vorinstanz und die Klägerin meinen, im Zeitpunkt der Entstehung der Umsatzsteuer-Jahresschuld-- vorgelegen haben.

4. Allerdings hängt das endgültige Schicksal der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschuld als Haftungsgrundlage ungeachtet ihrer wirksamen Festsetzung und Eigenständigkeit von der Höhe der Steuerschuld nach dem Jahressteuerbescheid ab. Denn die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsansprüche stehen kraft Gesetzes unter der auflösenden Bedingung, daß die Umsatzsteuer-Vorauszahlungen aus den Umsatzsteuer-Voranmeldungen oder Vorauszahlungsfestsetzungen durch die Festsetzung der Jahressteuerschuld bestätigt werden (vgl. Senatsurteil vom 5. August 1986 VII R 167/82, BFHE 147, 398, BStBl II 1987, 8, 9, m.w.N., und vom 15. Juni 1999 VII R 3/97, zur Veröffentlichung bestimmt).

Der erkennende Senat hat daher für die Aufrechnung des FA mit Ansprüchen aus Vorauszahlungsbescheiden nach Erlaß des Jahressteuerbescheids entschieden, daß die Aufrechnung der Höhe nach nur nach Maßgabe des im Jahressteuerbescheid noch festgestellten Rückstands wirksam ist (vgl. BFH in BFHE 178, 532, BStBl II 1995, 916); ebenso wie im umgekehrten Fall der Aufrechnung mit negativem Steueranspruch auf eine Umsatzsteuer-Voranmeldung bei einer Jahressteuerfestsetzung auf null DM die Aufrechnung wirkungslos sei (vgl. BFH-Beschluß vom 5. Oktober 1990 V B 137/89, BFH/NV 1991, 633).

Gleiches gilt für die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners für rückständige Umsatzsteuer-Vorauszahlungen durch Haftungsbescheid. Durch die Abhängigkeit der Haftungsschuld von der der Haftung zugrundeliegenden Steuerschuld wird die den Umsatzsteuer-Vorauszahlungen kraft Gesetzes zugeordnete Bedingung auch zum Bestandteil der Haftungsschuld. Die Abhängigkeit der Haftung von der materiell-rechtlichen Existenz der Steuerschuld im Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme bewirkt, daß die Haftung nicht weitergehen kann, als der die Haftung auslösende Anspruch (noch) besteht. Ist die die Haftung begründende Steuerschuld im Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme ganz oder teilweise weggefallen, so erlischt im Umfang des Wegfalls der Steuerschuld auch die Haftungsschuld (vgl. Senatsentscheidung in BFH/NV 1996, 379, 382, m.w.N.). Übersteigt bzw. bestätigt die Umsatzsteuer-Jahresveranlagung die Ergebnisse der haftungsauslösenden Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Umsatzsteuer-Vorauszahlungsfestsetzungen, so tritt die auflösende Bedingung, die zum Erlöschen der Vorauszahlungsschuld hätte führen können (§ 47 AO 1977), nicht ein. In diesem Fall besteht der Haftungsanspruch unvermindert in Höhe der rückständigen Vorauszahlungsschulden fort.

5. Die auf einer anderen Rechtsauffassung beruhende Vorentscheidung war somit aufzuheben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif, weil die Vorinstanz wegen der Aufhebung des Haftungsbescheids aus anderen Gründen nicht geprüft hat, ob die übrigen Haftungsvoraussetzungen vorgelegen haben; d.h. ob die Klägerin für die rückständigen Umsatzsteuer-Vorauszahlungsschulden gemäß §§ 34, 69 und 191 AO 1977 in Anspruch genommen werden kann, ob die Finanzbehörde ihr Entschließungsermessen --und sofern neben der Klägerin noch ein anderer Haftungsschuldner in Betracht käme-- das Auswahlermessen sachgerecht ausgeübt hat, ob die Grundsätze einer anteiligen Haftung zur Anwendung kommen können (vgl. dazu Senatsentscheidung vom 25. April 1995 VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97) und ob, bzw. inwieweit, eine mögliche Pflichtverletzung der Klägerin kausal für die Nichterfüllung der Vorauszahlungsschulden und damit für die Nichterfüllung der Jahressteuerschuld gewesen ist. Es werden weitergehende Feststellungen dazu notwendig sein, welche Vorauszahlungsschulden bestanden haben, in welchem Umfang diese nicht erfüllt worden sind, damit Eingang in die noch offene Jahressteuerschuld gefunden und nicht im Wege der Anrechnung zu einem (teilweisen) Erlöschen der Jahresschuld geführt haben.

Ende der Entscheidung

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