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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 14.10.2002
Aktenzeichen: VIII R 55/01
Rechtsgebiete: FGO, EStG


Vorschriften:

FGO § 118 Abs. 2
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 63 Abs. 1 Satz 2
EStG § 70 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter des im Juli 1976 geborenen D. D ist aufgrund eines 1984 erlittenen Verkehrsunfalls schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 v.H.; der Schwerbehindertenausweis weist die Merkzeichen B, G und H aus.

In der Zeit vom 7. August 1996 bis Ende Februar 1997 war D nichtselbständig bei der Firma E beschäftigt; ab 1. März 1997 war er arbeitslos gemeldet. In der Zeit von April 1997 bis April 1998 nahm D an einem Förderungslehrgang der Arbeitsverwaltung teil und erhielt für die Zeit vom 28. April 1997 bis zum 28. Juli 1997 eine Ausbildungsbeihilfe in Höhe von 257 DM monatlich, für die Folgezeit bis zum 31. Juli 1997 eine Zahlung von 597 DM und für die Zeit vom 1. August 1997 bis 27. April 1998 monatliche Zahlungen von 439 DM. Ab August 1998 absolvierte D bei der Firma F in G eine Ausbildung zum Fachwerker im Gartenbau und erhielt für diese Tätigkeit 1998 monatlich 660 DM Ausbildungsvergütung und 280,80 DM Weihnachtsgeld.

Im Rahmen der Überprüfung der Kindergeldberechtigung für D ermittelte der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) auch Kapitaleinkünfte für D. Diese beruhten auf Erträgen aus Investmentfonds, festverzinslichen Wertpapieren und Aktien. Der Wert der Investmentfonds betrug zum 31. Dezember 1998 ca. 51 000 DM, das Wertpapierdepot belief sich zum 31. Dezember 1997 auf ca. 153 000 DM.

Der Beklagte gelangte daher zum Ergebnis, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge des D für den Zeitraum März bis Dezember 1997 den anteiligen Jahresgrenzbetrag 1997 von 10 000 DM überschreiten und auch die Einkünfte und Bezüge 1998 oberhalb des Jahresgrenzbetrages von 12 360 DM für 1998 liegen. Mit Bescheid vom Dezember 1998 hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für D für die Zeit von März 1997 bis April 1998 daher auf, forderte den gezahlten Betrag in Höhe von insgesamt 3 080 DM zurück und lehnte die weitere Zahlung von Kindergeld für die Zeit ab Mai 1998 ab.

Den Einspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 7. Juli 1999 als unbegründet zurück.

Der dagegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 982 veröffentlichten Urteil statt. Das FG begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, im Streitjahr 1997 sei bereits der Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) von 10 000 DM nicht erreicht und im Jahr 1998 sei Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu bewilligen. Das Vermögen des Kindes sei im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht zu berücksichtigen.

Mit der Revision rügt der Beklagte eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

Er beantragt,

die Vorentscheidung des FG Münster vom 6. Februar 2001 6 K 4490/99 Kg aufzuheben, soweit der Beklagte verpflichtet werde, der Klägerin Kindergeld für D für das Jahr 1998 zu gewähren, und die Klage insoweit abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 18. Dezember 1998 rechtswidrig war. Zu Unrecht hat der Beklagte das Vermögen des behinderten Sohnes der Klägerin bei der Kindergeldfestsetzung berücksichtigt.

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1997 (i.d.F. der Bekanntmachung vom 16. April 1997, BGBl I 1997, 821, BStBl I 1997, 415) besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt seit der Systemumstellung zum 1. Januar 1996 auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. BSG-Urteil vom 3. Dezember 1996 10 RKg 12/95, Sozialrecht 3. Folge --SozR 3-- 5870 § 11a BKGG Nr. 10), kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem 1. Januar 1996 --ebenso wie der Kinderfreibetrag-- in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.

b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (BFH-Urteile vom 12. November 1996 III R 53/95, BFH/NV 1997, 343, und vom 10. Juni 1996 III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist folglich das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Denn nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).

c) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist daher anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen (BFH-Urteile vom 15. Oktober 1999 in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000 75; VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79). Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern oder anderen gegenüber dem behinderten Kind Unterhaltsverpflichteten kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.

Wie der BFH in den Grundsatzurteilen vom 15. Oktober 1999 in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 dargelegt hat, setzt sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das Streitjahr 1998 ist der Grundbedarf mit 12 360 DM zu bemessen (vgl. BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. BVerfG-Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.).

Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/ Glanegger, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., 2002, § 33b Rz. 5). Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.

2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall bestehen keine Zweifel, dass D nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existenziellen Lebensbedarf zu decken. Bei einem Grundbedarf von 12 360 DM und dem zusätzlich erforderlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf, den das FG gemäß der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72) zutreffend mit dem Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 6 i.V.m. Abs. 2 und 3 Satz 3 EStG in Höhe von 7 200 DM bemessen hat, da D zu 100 v.H. behindert ist und der Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "H" trägt, ist erkennbar, dass die D zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel bei weitem nicht ausreichen, den Gesamtbedarf von insgesamt 19 560 DM zu decken. Denn die Einkünfte und Bezüge betragen nach den Feststellungen des FG, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, unstreitig nur 15 857 DM (nach Abzug des Sparerfreibetrages gemäß § 20 Abs. 4 EStG von 6 000 DM p.a., vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. September 2000 VI R 85/99, BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684).

Dabei kann der Senat offen lassen, ob er der vom VI. Senat des BFH in seinen Urteilen in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 angewandten Berechnungsmethode in allen Einzelheiten folgen könnte.

Denn das gleiche Ergebnis ergibt sich, wenn man --wie die Verwaltung-- in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darauf abstellt, ob das behinderte Kind über eigene Einkünfte oder zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmte oder geeignete Bezüge von mehr als 12 360 DM verfügt (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes --DA-FamEStG-- 63.3.6.3 Abs. 2, BStBl I 1998, 389, 420, bzw. die überarbeitete Fassung der DA-FamEStG 63.3.6.3.2, BStBl I 2000, 639, 669).

D war daher auch nach Auffassung der Verwaltung außerstande, sich selbst zu unterhalten.

3. Die Behinderung des D war auch ursächlich für seine Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Diese Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist im Streitfall erfüllt, da D aufgrund des im Jahre 1984 erlittenen Verkehrsunfalls zu 100 v.H. behindert ist. Ferner sind im Schwerbehindertenausweis des D die Merkmale "H" (hilflos) und "G" (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) eingetragen. Damit liegt eine i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigende, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene Behinderung vor (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832; Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486). Darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann bei der Frage, ob D außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht auf dessen vorhandenes Vermögen abgestellt werden. Nach den Grundsatzentscheidungen des Senats vom 19. August 2002 VIII R 51/01 und VIII R 17/02 kann das Vermögen volljähriger behinderter Kinder bei der Beurteilung der Frage, ob das behinderte Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht herangezogen werden. Auf die Begründung dieser Entscheidungen nimmt der Senat insoweit in vollem Umfang Bezug.

Ende der Entscheidung

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