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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 23.07.2002
Aktenzeichen: X B 209/01
Rechtsgebiete: ZPO, FGO, AO 1977


Vorschriften:

ZPO § 575
ZPO § 572 Abs. 3
FGO § 132
FGO § 155
FGO § 69 Abs. 6 Satz 1
FGO § 69 Abs. 3 Satz 1
AO 1977 § 131 Abs. 2 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) sind Eheleute, die für die Streitjahre 1990 bis 1994 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Mit Bescheid vom 26. April 2000 setzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) gegen die Antragsteller Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1990 bis 1994 in Höhe von insgesamt 430 DM fest. Diesen Bescheid haben die Antragsteller mit dem Einspruch angefochten, über den das FA noch nicht entschieden hat.

Nachdem das FA die von den Antragstellern begehrte Aussetzung der Vollziehung des genannten Zinsbescheids zunächst abgelehnt hatte, verfolgten sie ihr Aussetzungsbegehren beim Finanzgericht (FG) weiter. Während des FG-Verfahrens hat das FA mit Bescheid vom 27. Juni 2001 die Vollziehung des in Rede stehenden Zinsbescheids "unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs" ausgesetzt und die Hauptsache für erledigt erklärt. Die Antragsteller haben dieser Erledigungserklärung mit dem Hinweis widersprochen, dass das FA ihrem Aussetzungsbegehren wegen des der Aussetzungsverfügung des FA beigefügten Widerrufsvorbehalts nicht in vollem Umfang entsprochen habe.

Sie haben vor dem FG beantragt, die Vollziehung des Zinsbescheids vom 26. April 2000 wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit ohne Widerrufsvorbehalt auszusetzen.

Das FG hat den Antrag als unzulässig abgelehnt. Es hat die Auffassung vertreten, dass für die Aufrechterhaltung des bei Gericht gestellten Aussetzungsantrags kein Rechtsschutzbedürfnis mehr bestehe, nachdem das FA die Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids in Höhe des streitigen Betrages von 430 DM ausgesetzt habe. Daran ändere der Umstand nichts, dass das FA die Vollziehung formularmäßig unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs ausgesetzt habe; denn solange das FA von diesem Widerrufsvorbehalt keinen Gebrauch mache, könnten die Antragsteller durch eine zusätzlich vom Gericht verfügte Aussetzung der Vollziehung keine für sie günstigere Rechtsposition erlangen.

Weder dem Vortrag der Antragsteller noch dem Vorbringen des FA sei zu entnehmen, dass derzeit ernsthaft mit einem Widerruf der Aussetzung der Vollziehung durch das FA zu rechnen sei. Allein die theoretische Möglichkeit, dass das FA die Aussetzung der Vollziehung widerrufen könnte, rechtfertige die Inanspruchnahme des Gerichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Erst dann, wenn das FA von dem Widerrufsvorbehalt nach § 131 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) Gebrauch gemacht habe, bestehe wieder ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei Gericht (vgl. FG Düsseldorf, Beschlüsse vom 5. Januar 1979 VIII 385/78 A, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1979, 144; vom 22. März 1978 XIII 468/77 A, EFG 1978, 451; Hessisches FG, Beschluss vom 14. März 1977 B VII 3/77, EFG 1977, 445).

Die vom Bundesfinanzhof (BFH) vertretene Gegenauffassung (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 10. März 1970 II S 39/68, BFHE 98, 330, BStBl II 1970, 385, und vom 12. Juni 1986 IX B 64/83, BFH/NV 1986, 682) überzeuge nicht. Sie verkenne, dass ein Widerruf der Aussetzung der Vollziehung auch bei Vorhandensein eines Widerrufsvorbehalts nicht im freien Ermessen der Verwaltung stehe, sondern nur dann zulässig sei, wenn sich die Sach- und Rechtslage geändert habe. Solchenfalls könne aber auch eine vom FG ausgesprochene Aussetzung der Vollziehung auf Antrag des FA widerrufen werden.

Mit der Beschwerde begehren die Antragsteller, den Beschluss des FG aufzuheben und die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids ohne Widerrufsvorbehalt zu gewähren.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Beschwerde der Antragsteller ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen FG-Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Zu Unrecht hat das FG die Ansicht vertreten, dass der bei ihm gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wegen Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden sei, nachdem das FA während des FG-Verfahrens die Vollziehung des in Rede stehenden Zinsbescheides unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs ausgesetzt habe.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH erledigt sich die Hauptsache (hier: das vor dem FG anhängige Aussetzungsverfahren) nicht dadurch, dass das FA --wie auch im vorliegenden Streitfall-- die Aussetzung der Vollziehung unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs bewilligt und daraufhin die Erledigung der Hauptsache anzeigt, der Antragsteller sich dieser Erledigungserklärung aber nicht anschließt (grundlegend: BFH-Beschluss in BFHE 98, 330, BStBl II 1970, 385; vgl. ferner z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1986, 682; vom 7. Oktober 1991 XI B 37, 40-43/91, BFH/NV 1992, 192; vom 13. Dezember 1990 VIII B 89/89, BFH/NV 1992, 314; vom 12. Mai 2000 VI B 266/98, BFHE 192, 1, BStBl II 2000, 536, unter II. 11. der Gründe; FG Bremen, Beschluss vom 21. Oktober 1997 297018V 2, EFG 1998, 127; Hessisches FG, Beschluss vom 25. Juni 2001 6 V 1764/01, EFG 2001, 1308; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 69 FGO Tz. 63; a.A. Hessisches FG in EFG 1977, 445; FG Düsseldorf in EFG 1978, 451, und in EFG 1979, 144; so --ohne nähere Begründung-- auch Gosch in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 69 FGO Rz. 270).

Dem pflichtet der beschließende Senat bei. Die dagegen erhobenen Einwände (vgl. neben der Vorinstanz z.B. Beschlüsse des Hessischen FG in EFG 1977, 455, und des FG Düsseldorf in EFG 1978, 451, und in EFG 1979, 144) überzeugen nicht. Ergeht eine gerichtliche Anordnung, durch welche die Vollziehung des angefochtenen Bescheids ausgesetzt wird, so bindet diese Anordnung die betroffene Finanzbehörde. Nur das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 69 Abs. 6 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die von ihm nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO getroffene Aussetzungsanordnung ändern oder aufheben. Ohne Zustimmung des Antragstellers kann sich ein beim Gericht gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in der Hauptsache nur dann erledigen, wenn die Finanzbehörde die Vollziehung vorbehaltlos aussetzt. Eine von der Finanzbehörde --während des gerichtlichen Aussetzungsverfahrens-- unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs gewährte Aussetzung der Vollziehung erledigt deshalb nicht das --an das FG herangetragene-- Anliegen des Steuerpflichtigen, vor einer Vollziehung unabhängig von dem Standpunkt der Finanzbehörde geschützt zu sein (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1986, 682, 683, rechte Spalte, und in BFHE 192, 1, BStBl II 2000, 536, unter II. 11.).

Zu Unrecht beruft sich die Vorinstanz zur Stützung ihrer von der ständigen Rechtsprechung des BFH abweichenden Ansicht auf den BFH-Beschluss in BFHE 192, 1, BStBl II 2000, 536. Der dort beurteilte Sachverhalt unterscheidet sich --worauf der BFH in diesem Beschluss (unter II. 11. der Gründe) ausdrücklich hingewiesen hat-- von dem Streitfall in dem entscheidenden Punkt, dass die Finanzbehörde die Aussetzung der Vollziehung unter dem Vorbehalt des Widerrufs gewährt hatte, bevor die dortige Antragstellerin das Gericht um vorbehaltlose Gewährung der Aussetzung der Vollziehung ersucht hatte.

2. Der auf einer anderen Rechtsauffassung beruhende Beschluss des FG wird aufgehoben. Der Senat entscheidet nicht selbst über den Aussetzungsantrag, sondern verweist die Sache an das FG zurück. Eine Zurückverweisung ist auch im Beschwerdeverfahren betreffend die Aussetzung der Vollziehung zulässig (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 8. Juli 1980 VII B 18/80, BFHE 131, 12, BStBl II 1980, 657; in BFH/NV 1986, 682, 683; vom 26. März 1991 VIII B 83/90, BFHE 163, 510, BStBl II 1991, 463, unter 3. der Gründe). Die Befugnis zur Zurückverweisung der Sache ergibt sich aus den §§ 132, 155 FGO i.V.m. § 572 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) in der ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung --früher: § 575 ZPO-- (vgl. z.B. BFH-Beschluss in BFHE 131, 12, BStBl II 1980, 657). Die Zurückverweisung erscheint im Streitfall schon deshalb zweckmäßig, weil das FG den Aussetzungsantrag lediglich aus formellen Gründen abgelehnt hat (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 132 Rz. 10, m.w.N.).

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