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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 01.12.2000
Aktenzeichen: 2 StR 337/00
Rechtsgebiete: StGB, WStG, StGB-DDR


Vorschriften:

StGB § 213
WStG § 5 Abs. 1
WStG § 5
StGB-DDR § 258 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

2 StR 337/00

vom

1. Dezember 2000

in der Strafsache

gegen

wegen Totschlags

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom 29. November 2000 in der Sitzung vom 1. Dezember 2000, an denen teilgenommen haben:

Vizepräsident des Bundesgerichtshofes Dr. Jähnke als Vorsitzender,

die Richter am Bundesgerichtshof Detter, Dr. Bode, Rothfuß, Prof. Dr. Fischer als beisitzende Richter,

Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Justizhauptsekretärin in der Verhandlung,

Justizangestellte bei der Verkündung als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 11. April 2000 wird verworfen.

Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Von Rechts wegen

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Seine hiergegen eingelegte Revision erstrebt mit der Sachrüge die Freisprechung. Das Rechtsmittel ist unbegründet.

1. Der zur Tatzeit 21 Jahre alte Angeklagte war im August 1962 als Postenführer im Rang eines Gefreiten der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee im Bereich der Ortschaft Göringen bei Eisenach an der Grenze zur Bundesrepublik eingesetzt. Der später getötete, 20 Jahre alte J. sowie sein 17-jähriger Begleiter R. hatten sich am 11. August 1962 entschlossen, in die Bundesrepublik zu fliehen. Sie begaben sich zu Fuß in die 5 km-Sperrzone und näherten sich dort im Wald und bei Nacht der Grenze. Am Morgen des 13. August 1962 erreichten sie gegen 8.00 Uhr die Ortschaft Göringen, nur wenige hundert Meter von der Staatsgrenze der ehemaligen DDR entfernt. Sie wurden von einer älteren Bäuerin bemerkt, die, da die Männer unordentlich und verschmutzt aussahen, erschrak und mehrere Männer sowie den Ortspolizisten zu Hilfe rief. J. und R. flüchteten in den Wald in Richtung Grenze; währenddessen wurden die Grenztruppen informiert und Grenzalarm ausgelöst. Mehrere Postenpaare, unter ihnen der Angeklagte und der ihm zugeordnete Posten F., durchsuchten den Grenzstreifen nach den Flüchtigen; diese beobachteten das Geschehen von einer Schützenmulde unmittelbar vor dem Grenzstreifen aus, in welcher sie sich verborgen hatten. Die Posten waren durch ihren Vorgesetzten angewiesen worden, das Gebiet abzusuchen und die Gesuchten festzunehmen. Ihnen war mitgeteilt worden, bei den Flüchtigen handele es sich um Straftäter, die eine Frau mit einem Messer bedroht hätten und beabsichtigten, die Grenze zur Bundesrepublik zu überschreiten; ihre Flucht müsse verhindert werden. Gegen 11.00 Uhr lief der Geschädigte J. über ein Feld auf die Grenze zu, die durch zwei dicht hintereinander stehende, jeweils zwei Meter hohe Stacheldrahtzäune gesichert war; parallel davor verlief eine Straße. Der Angeklagte und der Posten F., die zu diesem Zeitpunkt etwa 100 m seitlich rechts entfernt standen, riefen den Geschädigten an und gaben Warnschüsse ab; daraufhin lief J. in den Wald zurück. Sein Begleiter R. erhob sich nun aus der Mulde und stellte sich. Während der Angeklagte und F. ihn festnahmen und durchsuchten, lief der Geschädigte J. erneut vom Waldrand auf den Grenzzaun zu. Der Angeklagte und F. gaben erneut Warnschüsse ab, die J. nicht beachtete. Der Angeklagte lief deshalb schräg über das Feld auf den fliehenden J. zu; als er etwa 75 m weit gelaufen war, hatte J. den Zaun erreicht, das erste Hindernis überwunden und war im Begriff, den zweiten Zaun zu überklettern. Der Angeklagte blieb daher stehen, zielte mit seiner Maschinenpistole "Kalaschnikow", die auf Dauerfeuer gestellt war, von schräg rechts hinten auf die Beine des J. und gab aus einer Entfernung von etwa 25 m mit Dauerfeuer eine Salve von mindestens vier Schüssen auf J. ab. Dabei wollte er diesen durch Treffer in die Beine fluchtunfähig machen; er nahm aber billigend in Kauf, ihn tödlich zu treffen, da er eine Flucht unbedingt verhindern und den Befehl, eine "Grenzverletzung" sowie die Vereitelung einer eventuellen Strafverfolgung zu verhindern, unbedingt erfüllen wollte. J. wurde von einer Kugel im Rücken neben der Wirbelsäule oberhalb der Hüftlinie getroffen, die Kugel trat vorn oberhalb des Bauchnabels wieder aus. Die weiteren Schüsse gingen fehl. J. verstarb am Tatort binnen 15 Minuten an inneren Blutungen. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wurde nicht geführt; er erhielt am folgenden Tag eine Prämie von 30,-- Mark. Das Landgericht ist mangels abweichender Anhaltspunkte davon ausgegangen, daß dem Angeklagten der Inhalt der zur Tatzeit für den Einsatz unmittelbaren Zwangs an der Staatsgrenze der DDR geltenden Dienstvorschrift DV-10/4 und der Erweiterung durch den Befehl Nr. 76/61 des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 6. Oktober 1961 über den Gebrauch der Schußwaffe durch Angehörige der Grenztruppen während seines achtwöchigen Grundwehrdienstes in der üblichen Weise vermittelt wurde, daß ihm darüber hinaus suggeriert wurde, diese Bestimmungen ständen in Übereinstimmung mit den Regeln des Völkerrechts und sämtliche schriftlichen oder mündlichen Befehle seien durch Gesetze abgedeckt, und daß er in der gerichtsbekannten Weise politisch indoktriniert wurde.

2. Das Urteil weist keinen sachlich-rechtlichen Mangel auf.

a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Dies gilt namentlich auch für die Annahme, der Angeklagte habe mit bedingtem Tötungsvorsatz auf J. geschossen. Das Landgericht hat dies daraus geschlossen, daß der Angeklagte, dem die Zielungenauigkeit der von ihm verwendeten Maschinenpistole "Kalaschnikow" bei Einstellung auf Dauerfeuer bekannt war, unmittelbar nach einem anstrengenden Lauf von 75 m aus einer Entfernung von 25 m von hinten mit Dauerfeuer auf den Fliehenden schoß, weil er dessen Flucht unbedingt verhindern wollte und weil er nach eigenem Bekunden erkannt hatte, daß eine Festnahme wenige Sekunden später nicht mehr möglich sein werde, da J. bereits das letzte Hindernis erreicht hatte. Der hieraus vom Tatrichter gezogene Schluß auf einen bedingten Tötungsvorsatz ist rechtsfehlerfrei und wird auch von der Revision nicht angegriffen.

b) Zutreffend hat das Landgericht auf die Tat § 212, § 213 StGB in der Fassung vor dem 1. April 1998 als mildestes Recht angewendet und angenommen, daß die Tat wegen Ruhens der Verfolgungsverjährung auf Grund eines quasi gesetzlichen Verfolgungshindernisses nicht verjährt ist (vgl. BGHSt 40, 48; 113; BGH NJW 1994, 2240).

c) Der Angeklagte handelte auch rechtswidrig.

Der Bundesgerichtshof hat mehrfach entschieden, daß die Tötung unbewaffneter Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze auch vor Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR vom 25. März 1982 (BGBl. I S.197) jedenfalls dann rechtswidrig und durch Befehle und Dienstvorschriften nicht gerechtfertigt war, wenn sie mit mindestens bedingtem Tötungsvorsatz erfolgte und allein dem Ziel diente, die Überschreitung der Grenze zur Bundesrepublik zu verhindern (BGHSt 41, 101; 42, 356, 362; 44, 204, 209; BGH NStZ-RR 1996, 323; jeweils m.w.N.). Hieran hält der Senat fest.

Vorliegend ergibt sich eine abweichende Beurteilung entgegen der Ansicht der Revision auch nicht aus dem Umstand, daß dem Angeklagten mitgeteilt worden war, bei den Flüchtlingen handele es sich um Straftäter, die eine Frau mit einem Messer bedroht hätten, und daß der Angeklagte daher auch mit dem Motiv handelte, eine Strafverfolgung des J. über diejenige wegen versuchter "Grenzverletzung" hinaus zu sichern. Nach der Vorstellung des Angeklagten, wie sie das Landgericht auf Grund seiner Einlassung festgestellt hat, blieb für die Grenzposten schon die Art der angeblichen Straftat der Flüchtlinge unklar; die Mitteilung, diese hätten "eine Frau mit einem Messer bedroht", konnte auf eine Vielzahl möglicher Straftatbestände hindeuten, welche nach dem zur Tatzeit in der DDR geltenden RStGB als Vergehen eingestuft und mit geringer Strafe bedroht waren. Dem Angeklagten war daher jedenfalls klar, daß den Flüchtlingen weder eine gravierende Straftat vorgeworfen wurde noch daß von ihnen eine erhebliche weitere Gefahr ausging. Auf der Grundlage dieses Vorstellungsbildes war die Annahme fernliegend, Angehörige der Grenztruppen seien berechtigt, die Flucht der - vermeintlichen - Straftäter durch deren vorsätzliche Tötung zu verhindern.

d) Schließlich handelte der Angeklagte auch schuldhaft; ein unvermeidbarer Verbotsirrtum lag nicht vor.

Der Angeklagte war nicht deswegen entschuldigt, weil er dem Befehl seines Vorgesetzten folgen wollte und über die Rechtswidrigkeit dieses Befehls irrte. Das Landgericht hat zutreffend angenommen, daß die Rechtswidrigkeit der befohlenen Tat aus Sicht des Angeklagten im Sinne von § 5 Abs. 1 WStG offensichtlich gewesen ist (UA S. 24). Obgleich § 5 WStG für Soldaten der DDR nicht gegolten hat und § 258 Abs. 1 StGB-DDR zur Tatzeit noch nicht erlassen war, ist der Maßstab des § 5 Abs. 1 WStG nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Beurteilung der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit anzuwenden, da das zur Tatzeit in der DDR geltende Recht Befehlen nicht in weiterem Umfang entschuldigende Wirkung beigemessen hat, als dies in § 5 Abs. 1 WStG vorgesehen ist (BGH NStZ-RR 1996, 323; vgl. auch BGHSt 39, 1, 32 ff.; 39, 168, 185, 190; BGH NStZ 1995, 286; jeweils m.w.N.). Die vorsätzliche Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer aus einer Maschinenpistole in seinen Rücken ist, wie der Bundesgerichtshof in der Entscheidung BGHSt 39, 1, 34 ausgeführt hat, ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, mithin offensichtlich war (vgl. auch BGHSt 40, 241, 250 ff.; BVerfGE 95, 96, 141 ff.).

Etwas anderes ergibt sich hier, entgegen der Auffassung der Revision, auch nicht aus der zusätzlich auf Sicherung der Strafverfolgung wegen einer angeblichen Bedrohung durch den Geschädigten gerichteten Motivation des Angeklagten. Soweit die Revision einwendet, die hier vorliegenden Umstände seien denjenigen, welche der Entscheidung BGHSt 39, 1 zugrundelagen, von vornherein deshalb nicht gleichzusetzen, weil der Angeklagte in dem Glauben handelte, einen bewaffneten Kriminellen durch Schüsse in die Beine an der Flucht zu hindern, trifft sie eine Wertung, die von den Urteilsfeststellungen nicht getragen wird. Daraus, daß dem Angeklagten mitgeteilt worden war, der Geschädigte habe "mit einem Messer" eine Frau bedroht, ergab sich für ihn keine Sachlage, wie sie den Fällen des Schußwaffeneinsatzes gegen bewaffnet fliehende Deserteure zugrundelag (vgl. dazu BGHSt 42, 356, 361 ff.). Für die Frage der offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Tat i.S.v. § 5 Abs. 1 WStG war es im Ergebnis auch ohne Belang, ob der Angeklagte annahm, die ihm mitgeteilte Tat liege bereits länger zurück und die beabsichtigte Flucht diene auch dem Zweck, sich der Strafverfolgung hierfür zu entziehen, oder ob er - was nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe naheliegt - über den Zeitpunkt der angeblichen Tat informiert war und sie als Teil der Umsetzung des Fluchtunternehmens ansah. In beiden Fällen war es offensichtlich, daß die Gefahr, der Täter einer Bedrohung (oder einer versuchten Nötigung) könne sich der Strafverfolgung entziehen, nicht seine bedingt vorsätzliche Tötung rechtfertigte. Die Einlassung des Angeklagten, er habe nicht länger warten können, denn der fliehende J. sei schon an der letzten Sperre gewesen, macht, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, deutlich, daß es dem Angeklagten entscheidend darum ging, entsprechend dem ihm erteilten Befehl das Gelingen der Flucht mit allen Mitteln unbedingt zu verhindern. Ob der Geschädigte, der zum Zeitpunkt der Schußabgabe 25 m vom Angeklagten entfernt war, ihm den Rücken zukehrte und den Grenzzaun zu übersteigen versuchte, ein Messer bei sich führte, spielte für die Entscheidung des Angeklagten, unter Inkaufnahme eines tödlichen Treffers auf den Fliehenden zu schießen, ersichtlich ebensowenig eine Rolle wie die Frage der Verhältnismäßigkeit des eingesetzten Mittels zur Sicherung eines möglichen Strafanspruchs wegen der vage beschriebenen angeblichen Straftat.

Mit dem vom Senat im Urteil vom 15. Februar 1995 (NStZ 1995, 286) entschiedenen Fall, auf den der Generalbundesanwalt in seiner schriftlichen Stellungnahme hingewiesen hat, ist dieser Sachverhalt nicht vergleichbar. Dort ging es um einen mit Körperverletzungs-Vorsatz vorgenommenen Schußwaffeneinsatz gegen eine Person, die aus Sicht des damaligen Täters unerlaubt die Grenze von der Bundesrepublik zur DDR überschritten hatte und sich der Festnahme zu entziehen versuchte. Hierzu hat der Senat ausgeführt, in einem solchen Fall sei der Einsatz der Schußwaffe nicht offensichtlich rechtswidrig im Sinne von § 5 Abs. 1 WStG; dem stehe nicht entgegen, daß diese Regelung grundsätzlich nicht anwendbar sei, wenn mit Tötungsvorsatz auf einen Flüchtenden geschossen wird. Auch die Entscheidung BGHSt 42, 356 ist mit dem vorliegenden Fall insoweit nicht vergleichbar; dort ging es um mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebene Schüsse auf einen mit einer Schußwaffe bewaffneten Deserteur.

Die Würdigung des Landgerichts, für den Angeklagten sei die Rechtswidrigkeit der ihm befohlenen Tat offensichtlich und ein Irrtum über ihre Rechtfertigung jedenfalls vermeidbar gewesen, ist daher von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

e) Die Anwendung des § 213 StGB i.d.F. vor dem 1. April 1998 und die Zumessung der Strafe von einem Jahr und drei Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung weist keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf.



Ende der Entscheidung

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