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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 14.02.2005
Aktenzeichen: 3 StR 230/04
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 2
StPO § 349 Abs. 4
StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3
StGB § 176 Abs. 1
StGB § 240 Abs. 1
StGB § 177 Abs. 1 Nr. 1
StGB § 177 Abs. 1 Nr. 2
StGB § 240 Abs. 4 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

3 StR 230/04

vom 14. Februar 2005

in der Strafsache

gegen

wegen Vergewaltigung u. a.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 14. Februar 2005 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 1. März 2004 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte in den Fällen II. 5., 6. und 10. der Urteilsgründe verurteilt worden ist sowie

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Kindern, wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern, exhibitionistischer Handlungen in drei Fällen, davon einmal in Tateinheit mit Beleidigung und einmal mit Nötigung sowie wegen Beleidigung und Körperverletzung zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.

Mit seiner Revision rügt der Angeklagte allgemein die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel erweist sich hinsichtlich der Verurteilung in den Fällen II. 1. bis 4. und 7. bis 9. der Urteilsgründe als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Hinsichtlich der Fälle II. 5., 6. und 10. der Urteilsgründe führt es zur Aufhebung und Zurückverweisung.

1. In den Fällen II. 5. und 6. der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten jeweils wegen sexueller Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB - im Fall 5. tateinheitlich mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB - verurteilt. Nach den Feststellungen nahm der als Fernfahrer beschäftigte Angeklagte im Fall 5. seine neunjährige Stieftochter und im Fall 6. seine vierzehnjährige Stieftochter auf eine Fahrt in seinem LKW mit. Jeweils während eines nächtlichen Halts auf einem Rastplatz kam es auf Veranlassung des Angeklagten zu sexuellen Handlungen beider Mädchen an ihm, im Fall 6. auch zu sexuellen Handlungen des Angeklagten an seiner älteren Stieftochter. Auf der Grundlage dieser Feststellungen kann die Verurteilung wegen sexueller Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in beiden Fällen keinen Bestand haben.

a) Es bestehen bereits Bedenken, ob sich die beiden Mädchen - wie von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorausgesetzt - objektiv in einer Lage befanden, in der sie der Einwirkung des Angeklagten schutzlos ausgeliefert waren. Eine schutzlose Lage ist gegeben, wenn die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers in einem solchen Maße verringert sind, daß es dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben ist (vgl. BGH NStZ 1999, 30; NStZ-RR 2003, 42, 44). Dies versteht sich für den Aufenthalt in einem Lastkraftwagen bei einem Halt auf einem Rastplatz zur Nachtzeit - auch unter Berücksichtigung des Alters der Kinder - nicht von selbst. Genauere Feststellungen zur Tatsituation, etwa zur Frequentierung des Rastplatzes und zur Anwesenheit Dritter in Rufweite des Fahrzeugs, sind vom Landgericht nicht getroffen worden.

b) Davon abgesehen belegen die Feststellungen auch nicht, daß der Angeklagte die Tatopfer unter Ausnutzung der schutzlosen Lage - deren Vorliegen unterstellt - zur Duldung oder Vornahme sexueller Handlungen genötigt hat.

Die Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals einer Nötigung durch Ausnutzung der schutzlosen Lage ist in Rechtsprechung und Schrifttum noch nicht abschließend geklärt. Es besteht zwar - weitgehend - Einigkeit, daß § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB kein zweiaktiges Delikt ist und keine den Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 StGB genügende Nötigungshandlung voraussetzt (vgl. BGHSt 45, 253, 257 ff.; BGH NStZ-RR 2003, 42, 44; aA. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 177 Rdn. 46), wohl aber - ebenso wie die beiden anderen Tatbestandsvarianten in § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB - ein Handeln gegen den Willen des Tatopfers.

Umstritten ist aber, ob dem Merkmal eine darüber hinausgehende Bedeutung zukommt. Insofern ist nach Auffassung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs eine weite Auslegung geboten: Wenn die sexuelle Handlung in einer schutzlosen Lage vorgenommen wird, soll die mit ihr verbundene Willensbeugung ausreichen; die Kenntnis des Opfers von seiner Schutzlosigkeit und etwa seine Furcht vor Zwangshandlungen oder der Zufügung sonstiger Übel müssen nicht hinzukommen (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 1 Schutzlose Lage 6). Ausgehend davon hätte hier, wenn bei dem Geschehen auf dem Rastplatz eine schutzlose Lage der beiden Mädchen gegeben war, nach den Gesamtumständen die Annahme eines objektiv tatbestandsmäßigen Verhaltens des Angeklagten jedenfalls nicht fern gelegen.

Der Senat hätte indes Bedenken, dieser weiten Auslegung, die allerdings nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt (BVerfG NJW 2004, 3768), zu folgen. Sie liegt schon nach dem Wortlaut des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, auch wenn er sie nicht ausschließt, nicht nahe. Die Vorschrift läßt es nicht genügen, daß der Täter sexuelle Handlungen an einem Opfer vornimmt, das sich in einer schutzlosen Lage befindet, oder ein solches Opfer zur Vornahme sexueller Handlungen veranlaßt. Das "Nötigen unter Ausnutzung" der schutzlosen Lage setzt schon nach allgemeinem Sprachgebrauch eine engere Beziehung zwischen schutzloser Lage und sexueller Handlung voraus. Erforderlich ist, daß die auf die sexuelle Handlung bezogene Beugung des Opferwillens gerade durch die schutzlose Lage gefördert wird. Das Tatopfer muß also - wie der Senat bereits für Konstellationen entschieden hat, in denen die schutzlose Lage nicht in äußeren Umständen, sondern in Besonderheiten der Opferpersönlichkeit angelegt ist (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 1 Schutzlose Lage 5) - dem Täter gegenüber von Widerstand absehen, weil es diesen aufgrund des Ausgeliefertseins für sinnlos erachtet. Hieraus ergibt sich zugleich, daß auf Seiten des Opfers die Kenntnis der schutzlosen Lage notwendige Voraussetzung eines objektiv tatbestandsmäßigen Verhaltens ist.

Für diese Auslegung sprechen - auch mit Blick auf Fallgestaltungen, in denen sich die schutzlose Lage aus den äußeren Tatumständen, insbesondere den Eigenarten des Tatorts ergibt (aA BGHR StGB § 177 Abs. 1 Schutzlose Lage 6) - neben dem Wortlaut des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch die Motive für die Einführung der Vorschrift durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz. Mit ihr sollten Strafbarkeitslücken geschlossen werden, die nach Auffassung des Gesetzgebers in Fallkonstellationen entstehen können, in denen zwar die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB nicht erfüllt sind, das Opfer aber in Erkenntnis seiner schutzlosen Lage auf Verteidigung verzichtet, weil es diese für sinnlos hält (BTDrucks. 13/7324 S. 6). Die Notwendigkeit einer in dem beschriebenen Sinne einschränkenden Auslegung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB ergibt sich ferner aus einem Vergleich des Strafrahmens der Vorschrift mit den Strafdrohungen verwandter Straftatbestände vergleichbarer Schutzrichtung. Aus den gleiche Strafrahmen eröffnenden Tatvarianten des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB ist zu schließen, daß der im Fall des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB auf das Opfer einwirkende Motivationsdruck demjenigen vergleichbar sein muß, der durch den Einsatz qualifizierter Nötigungsmittel entsteht. Dagegen führt der Einsatz nur "einfacher" Nötigungsmittel im Falle einer sexuellen Handlung lediglich zu der deutlich geringeren Strafdrohung der Nötigung gemäß § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB. Hieraus folgt, daß die bloße Ausführung der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers ohne die hinzutretende, durch die Erkenntnis des Ausgeliefertseins beim Opfer entstehende Zwangslage die Verbrechensqualität des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht zu begründen vermag. Schließlich stünden einer weiten Auslegung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB auch mit Blick auf § 179 Abs. 1 und 2 StGB systematische Erwägungen entgegen. Nur wenn für § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt wird, daß das Tatopfer seine schutzlose Lage erkennt und angesichts dessen von sinnlosem Widerstand absieht, bleibt der für den Tatbestand des sexuellen Mißbrauchs widerstandsunfähiger Personen (mit ihrer geringeren Strafandrohung) ein eigener Anwendungsbereich.

c) Die Frage, welche Anforderungen bei zutreffender Auslegung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB an die Art und Weise der Beugung des Opferwillens zu stellen sind, insbesondere, ob das Opfer die schutzlose Lage erkannt haben muß, bedarf hier indessen keiner abschließenden Entscheidung. Denn jedenfalls sind die Voraussetzungen des subjektiven Tatbestands vom Landgericht nicht festgestellt. Es fehlen die erforderlichen ausdrücklichen Feststellungen dazu, daß sich der Angeklagte bei Tatbegehung bewußt war, unter Ausnutzung der schutzlosen Lage der Mädchen vorzugehen. Ein derart verstandenes Ausnutzungsbewußtsein, das als Voraussetzung des subjektiven Tatbestands auch vom 2. Strafsenat für erforderlich erachtet wird - was im übrigen dafür spricht, daß die Nötigung durch Ausnutzen der schutzlosen Lage auch ein den objektiven Tatbestand beschränkendes Merkmal ist -, ergibt sich hier auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe. Diese legen vielmehr nahe, daß für den Angeklagten bei der Vornahme sexueller Handlungen eine schutzlose Lage seiner Opfer gerade nicht von Bedeutung war. Insbesondere im Fall II. 5. konnte das Opfer die verlangte sexuelle Handlung nach kurzer Zeit von sich aus abbrechen, ohne daß der Angeklagte unter Ausnutzung der äußeren Gegebenheiten auf ihre Fortsetzung gedrungen hätte. Auch nahm der Angeklagte in anderen abgeurteilten Fällen, in denen nach den Feststellungen eine schutzlose Lage seiner Stieftöchter nicht gegeben war, sexuelle Handlungen an und vor diesen vor.

d) Die rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 StGB) im Fall II. 5. kann wegen der gegebenen Tateinheit ebenfalls nicht bestehen bleiben (vgl. BGHR StPO § 353 Aufhebung 1).

2. Die Verurteilung im Fall II. 10. der Urteilsgründe wegen sexueller Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Die bisherigen Feststellungen belegen nicht hinreichend die Nötigung des Opfers durch Gewalt.

Das Landgericht hat folgendes festgestellt: Nachdem die Nebenklägerin der Aufforderung des Angeklagten, selbst ihre Hose auszuziehen, nicht nachgekommen war, zog er deren Hose und Unterhose herunter und setze das Mädchen auf seinen unbekleideten Schoß, wobei er sie am Bauch anfaßte und festhielt. Nachdem es zur Berührung der beiden nackten Intimbereiche gekommen war, gelang es dem Mädchen aufzustehen.

Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt regelmäßig voraus, daß eine gegen den Körper des Opfers gerichtete Kraftentfaltung erfolgt, die von diesem als körperlicher Zwang empfunden wird und diese Gewalt Mittel zur Überwindung geleisteten oder erwarteten Widerstands des Opfers ist. Die Feststellungen der Strafkammer lassen insoweit nicht erkennen, daß das Mädchen sich dagegen wehrte, als der Angeklagte es auszog und auf seinen unbekleideten Schoß setzte oder daß es von einem beabsichtigten Widerstand absah, weil es diesen wegen der vom Angeklagten eingesetzten Kraft für zwecklos hielt. Gegen die gewaltsame Überwindung von geleistetem oder erwartetem Widerstand des Opfers spricht auch, daß das Mädchen sofort - und ohne daß der Angeklagte es daran hinderte oder zu hindern versuchte - wieder aufstehen konnte.

Auch hier kann die von dem Rechtsfehler nicht betroffene tateinheitliche Verurteilung wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB keinen Bestand haben.

3. Soweit der Angeklagte im Fall II. 7. infolge der nicht nachvollziehbar begründeten Verneinung der von § 177 Abs. 2 StGB ausgehenden Regelwirkung aus dem Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB lediglich mit der Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe und damit unvertretbar milde bestraft wurde, ist er nicht beschwert.



Ende der Entscheidung

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