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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 21.04.2008
Aktenzeichen: II ZB 6/07
Rechtsgebiete: KapMuG


Vorschriften:

KapMuG § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
KapMuG § 2 Abs. 1
KapMuG § 4 Abs. 1
a) Ein Musterverfahren ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG einzuleiten, wenn bis zum Ablauf der dort genannten Frist zehn gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt worden sind. Diese Anträge müssen nicht in zehn getrennten Prozessen gestellt worden sein. Es reicht vielmehr aus, wenn zehn einfache Streitgenossen jeweils einen auf die Durchführung des Musterverfahrens gerichteten Antrag gestellt haben. Die Möglichkeit einer Zurückweisung dieser Anträge wegen Prozessverschleppung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KapMuG bleibt unberührt.

b) In das Klageregister ist gemäß § 2 Abs. 1 KapMuG jeder einzelne Musterfeststellungsantrag einzutragen, auch wenn mehrere Streitgenossen jeweils gleichlautende Anträge gestellt haben.


BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

II ZB 6/07

vom 21. April 2008

in dem Rechtsstreit

Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 21. April 2008 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Goette und die Richter Dr. Kurzwelly, Dr. Strohn, Dr. Reichart und Dr. Drescher

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger zu 3, 9, 12 und 13 wird der Beschluss des Senats für Kapitalanleger-Musterverfahren des Oberlandesgerichts München vom 9. Februar 2007 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zu Ungunsten der Rechtsbeschwerdeführer entschieden worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

I. Die vierzehn Kläger des bei dem Landgericht Augsburg anhängigen Ausgangsverfahrens (1 O 4341/04) verlangen von den Beklagten Schadensersatz wegen fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen. Neun Kläger haben dazu jeweils einen Musterfeststellungsantrag gestellt. Im Klageregister ist daraufhin "ein" Antrag bekannt gemacht worden. Innerhalb von vier Monaten nach der Bekanntmachung sind gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge in vier weiteren Verfahren von insgesamt 60 Klägern gestellt worden.

Das Landgericht hat "den" Musterfeststellungsantrag zurückgewiesen. Die dagegen von den Klägern zu 3, 9, 12 und 13 eingelegte sofortige Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben (OLG München, ZIP 2007, 649). Dagegen richtet sich die von dem Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Kläger zu 3, 9, 12 und 13.

II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

1. Das Beschwerdegericht hat allerdings zutreffend angenommen, dass gegen die Zurückweisung eines Musterfeststellungsantrags nach § 4 Abs. 4 KapMuG die sofortige Beschwerde gemäß § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft ist (ebenso Möllers/Weichert, NJW 2005, 2737, 2739; a.A. Fullenkamp in Vorwerk/ Wolf, KapMuG § 4 Rdn. 36). Danach findet die sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen statt, die eine mündliche Verhandlung nicht erfordern und durch die ein das Verfahren betreffendes Gesuch zurückgewiesen worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, § 128 Abs. 4 ZPO.

2. Dem Beschwerdegericht ist aber nicht zu folgen in der Annahme, "der" Musterfeststellungsantrag - richtig: die Musterfeststellungsanträge - sei(en) vom Landgericht zu Recht nach § 4 Abs. 4 KapMuG zurückgewiesen worden.

Zur Begründung hat das Beschwerdegericht ausgeführt: Innerhalb von vier Monaten nach der Bekanntmachung des Antrags seien nicht in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge gestellt worden, wie es § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG für den Erlass eines Vorlagebeschlusses voraussetze. Dass in vier Verfahren von insgesamt 60 Klägern derartige Anträge gestellt worden seien, reiche nicht aus. Es komme nicht auf die Zahl der Antragsteller an, sondern auf die Zahl der Verfahren, in denen Anträge gestellt worden seien.

Das beruht auf einer einseitig formale Gesichtspunkte in den Vordergrund stellenden fehlerhaften Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG.

Nach § 4 Abs. 1 KapMuG führt das Prozessgericht durch Beschluss einen Musterentscheid herbei, wenn in dem bei ihm anhängigen Verfahren der zeitlich erste Musterfeststellungsantrag gestellt worden ist und innerhalb von vier Monaten nach seiner Bekanntmachung in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungen beantragt worden sind. Der Wortlaut dieser Norm ist - entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts - nicht eindeutig. Erheben mehrere Personen gemeinsam eine Klage, ohne dass - wie auch hier nicht - die Voraussetzungen der notwendigen Streitgenossenschaft nach § 62 ZPO vorliegen, so kommt für jeden Kläger gemäß § 61 ZPO ein selbständiges Prozessrechtsverhältnis zustande. Die mehreren Prozessrechtsverhältnisse sind durch die - einfache - Streitgenossenschaft lediglich zu einem äußerlich einheitlichen Verfahren miteinander verbunden. Der Sache nach handelt es sich aber um selbständige Verfahren (BGHZ 8, 72, 78; BGH, Urt. v. 17. März 1989 - V ZR 233/87, WM 1989, 997, 998; v. 26. Mai 1994 - IX ZR 39/93, ZIP 1994, 1121, 1122, insoweit in BGHZ 126, 138 nicht abgedruckt; MünchKommZPO/Schilken, 3. Aufl. § 59 Rdn. 22; Zöller/Vollkommer, ZPO 26. Aufl. § 61 Rdn. 8).

Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG spricht für eine Berücksichtigung jedes einzelnen von mehreren einfachen Streitgenossen gestellten Musterfeststellungsantrags. Danach wird durch den Musterfeststellungsantrag das Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in Gang gesetzt, das bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen zu dem Vorlagebeschluss nach § 4 KapMuG führt. Die Textteile "in einem ... Verfahren" umschreiben lediglich einen Teil der materiellen Voraussetzungen der Klageverfahren, in denen überhaupt nach dem Gesetz ein Musterbescheid in Betracht kommt, enthalten aber keine Aussage über die Zahl der notwendigen Prozesse, wie das Beschwerdegericht meint. Stellen demnach zwei oder mehr Streitgenossen jeweils einen solchen Antrag, handelt es sich um eigenständige Anträge, über die auch jeweils gesondert entschieden werden muss.

Auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes ist § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KapMuG so auszulegen, dass bei einer Streitgenossenschaft unter "Verfahren" das jeweilige einzelne Prozessrechtsverhältnis zu verstehen ist, die Voraussetzungen für einen Vorlagebeschluss also schon dann erfüllt sind, wenn insgesamt mindestens zehn Kläger jeweils einen zulässigen Musterfeststellungsantrag gestellt haben (ebenso LG Stuttgart, ZIP 2006, 1731, 1732 siehe dazu Sen.Beschl. v. 25. Februar 2008 - II ZB 9/07 z.V.b.; LG Berlin, Beschl. v. 28. November 2006 - 10a O 119/05, veröffentlicht im Klageregister; LG Frankfurt am Main, Verfügung v. 13. Februar 2007, unveröffentlicht; Reuschle, Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz 2005, S. 33; Schneider, BB 2005, 2249, 2252; D. Assmann in Festschrift Vollkommer, 2006, S. 119, 130; Gundermann/ Härle, VuR 2006, 457, 458; Gängel/Gansel in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht 2. Aufl. § 4 KapMuG Rdn. 2; a.A. KG, Hinweisbeschl. v. 18. September 2007 - 4 SCH 2/06 KapMuG, veröffentlicht im Klageregister; Fullenkamp aaO § 4 Rdn. 11).

Mit der Einführung des Musterverfahrens hat der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen wollen, in Verfahren, die Kapitalmarktinformationen oder Angebote nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz zum Gegenstand haben und damit i.d.R. eine Vielzahl von Personen betreffen, verallgemeinerungsfähige Tatsachen- und Rechtsfragen in einem möglichst frühen Stadium mit Bindungswirkung für alle Verfahren zu klären und dadurch den Schutz der Kapitalanleger zu verbessern (Begr. zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. 15/5091, S. 35 ff.; Sen.Beschl. v. 3. Dezember 2007 - II ZB 15/07, ZIP 2008, 137). Ein Bedürfnis für eine derartige Klärung besteht unabhängig davon, ob die Anleger jeweils gesondert Klage erhoben haben oder in einfacher Streitgenossenschaft klagen. Die Entscheidung für den einen oder anderen Weg hängt häufig von Zufälligkeiten ab. Eine subjektive Klagenhäufung in Anlegerschutzsachen ist - trotz der jeweils auf den Einzelfall abzustellenden Prüfung der Ursächlichkeit etwaiger fehlerhafter Kapitalmarktinformationen (vgl. Sen.Urt. v. 9. Mai 2005 - II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270, 1274 - EM.TV) - zwar häufig, aber nicht stets unzweckmäßig. Letztlich nimmt dies auch das Beschwerdegericht an, indem es darauf hinweist, es stehe den Klägern frei, nach Zurückweisung ihres Musterfeststellungsantrags eine Prozesstrennung nach § 145 ZPO zu beantragen und dann, wenn die Prozesse getrennt sind, neue Musterfeststellungsanträge zu stellen. Damit fordert es unzutreffend die Einhaltung bestimmter Formalien, missachtet jedoch das berechtigte Interesse der Kläger, in Streitgenossenschaft zu klagen und sich damit Kostenvorteile zunutze zu machen.

Die Systematik des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes steht diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Allerdings werden nach § 2 Abs. 1 KapMuG die Musterfeststellungsanträge im Klageregister öffentlich bekannt gemacht, ohne dass dabei Angaben zu der Person des jeweiligen Antragstellers zu machen sind. Das ist indessen nicht erforderlich, weil nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 KapMuG und den allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts jeder zulässige Musterfeststellungsantrag gesondert einzutragen ist. Deshalb kann - anders als das Beschwerdegericht meint - nicht die Gefahr entstehen, dass unklar bliebe, wie viele Personen derartige Anträge gestellt haben.

Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts muss bei dieser Auslegung ein Musterverfahren nicht notwendigerweise schon dann durchgeführt werden, wenn in einem einzigen (Gesamt-)Verfahren zehn Streitgenossen - im Übrigen zulässige - Musterfeststellungsanträge stellen. In einem solchen Fall können die Musterfeststellungsanträge vielmehr wegen Prozessverschleppung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KapMuG zurückgewiesen werden, wenn die Durchführung eines Musterverfahrens zu einer unnötigen Verfahrensausweitung statt einer Verfahrensvereinfachung führen würde. Der Sinn des Musterverfahrens liegt nämlich darin, Massenverfahren zu vereinfachen, nicht dagegen Einzelverfahren unnötig zu verzögern.

Ende der Entscheidung

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