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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 25.02.2009
Aktenzeichen: IV ZR 27/08
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 412
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat

durch

den Vorsitzenden Richter Terno,

den Richter Dr. Schlichting,

die Richterin Dr. Kessal-Wulf,

die Richter Felsch und Dr. Franke

auf die mündliche Verhandlung vom 25. Februar 2009

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 17. Januar 2008 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger, von Beruf Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und bis zur Kündigung seines Anstellungsverhältnisses Ende 1996 als Oberarzt in einer psychosomatischen Klinik tätig, fordert Leistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Bestandteil des Versicherungsvertrags ist u. a. eine von den Parteien getroffene und von der Beklagten in den Versicherungsschein aufgenommene besondere Vereinbarung; danach liegt vollständige Berufsunfähigkeit vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich dauernd außerstande ist, eine Tätigkeit als Arzt auszuüben. Der Anspruch auf Versicherungsleistungen setzt voraus, dass der Versicherte während der Dauer der Zusatzversicherung zu mindestens 50% berufsunfähig wird.

Der Kläger behauptet, seinen Beruf seit Mitte 1996 aus Gesundheitsgründen nicht mehr ausüben zu können. Er leide an ausgeprägten Erschöpfungszuständen, Schlafstörungen, ständiger Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Tinnitus und Atembeschwerden als Folgen einer chronisch inhalativen Intoxikation, vor allem mit den Chemikalien Formaldehyd und Pentachlorphenol.

Die Vorinstanzen haben die Klage im Wesentlichen abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Berufungsgericht hat sich auf der Grundlage der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht davon überzeugen können, dass beim Kläger eine bedingungsgemäße, also zumindest 50%-ige Berufsunfähigkeit vorliegt. Das Landgericht hatte ein psychiatrisches (Gutachten Dr. W. vom 30. Oktober 2003) und ein neurologisches (Gutachten Prof. Dr. We. vom 23. Oktober 2006) Sachverständigengutachten eingeholt und sich das psychiatrische Gutachten von dem Sachverständigen mündlich erläutern lassen.

1.

Die psychische Symptomatik des Klägers, so das Berufungsgericht, schränke seine Berufsfähigkeit zu allenfalls 30% ein. Dies ergebe sich aus den überzeugenden Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, wonach beim Kläger einerseits eine leicht bis mittelgradig ausgeprägte Neurasthenie bzw. undifferenzierte somatoforme Störung, andererseits eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren sei. Dieser Befund führe neuropsychologisch zu einer leichten bis mäßigen Verlangsamung in den Bereichen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und Aufmerksamkeitsteilung. Dadurch sei das Leistungsniveau des Klägers zwar spürbar gemindert, für die Ausübung des Arztberufes aber immer noch als weitaus hinreichend anzusehen. Das neurologische Sachverständigengutachten erbringe ebenfalls keinen Beweis für eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit. Der Sachverständige habe keine entscheidenden Auffälligkeiten feststellen können. Die vom Kläger geschilderten Beschwerden seien zwar glaubhaft, würden aber keine Erklärung für eine weitergehende Berufsunfähigkeit bieten.

2.

Für eine erneute psychiatrische Begutachtung, wie sie der Kläger beantragt und auch der neurologische Sachverständige empfohlen habe, fehle es, so das Berufungsgericht weiter, an den Voraussetzungen des § 412 ZPO. Insbesondere gebe es keinen Anlass für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen Dr. W. , der seiner Begutachtung alle vom Kläger geschilderten Symptome und Störungen zugrunde gelegt habe. Aufgabe des Sachverständigen sei es gewesen, die an ihn gestellte Beweisfrage nach einer möglichen Berufsunfähigkeit beim Kläger zu beantworten, nicht aber Therapiemöglichkeiten aufzuzeigen oder sich zum voraussichtlichen Krankheitsverlauf zu äußern. Deshalb könne auch dahinstehen, wie das Krankheitsbild des Klägers medizinisch am zutreffendsten zu bezeichnen sei und ob für die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen eine Intoxikation mit Umweltgiften ursächlich gewesen sei. Dass das vom Gericht eingeholte psychiatrische Gutachten im Widerspruch zu dem vom Kläger vorgelegten neurologischpsychiatrischen Fachgutachten des Prof. Dr. H. vom 10. Dezember 2001 stehe, liege in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem beide Parteien zuvor sich widersprechende Privatgutachten vorgelegt hätten, in der Natur der Sache. Dies begründe jedoch keinen Mangel des Gutachtens des Psychiaters Dr. W. . Entscheidend sei vielmehr, dass dessen Gutachten in sich widerspruchsfrei sei. Hinzu komme, dass der neurologische Sachverständige seine Anregung auf Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens durch ein Universitätsklinikum nicht begründet habe. Weder der neurologische Sachverständige noch der Kläger hätten konkrete Fehler des psychiatrischen Gutachtens aufgezeigt, die sich auf das Gutachtenergebnis, also die Feststellung einer maximal 30%-igen Berufsunfähigkeit, ausgewirkt hätten. Die Sachkunde des psychiatrischen Sachverständigen habe der Kläger selbst nicht in Zweifel gezogen.

II.

Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Tatrichter Äußerungen medizinischer Sachverständiger kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit prüfen und insbesondere auf die Aufklärung von Widersprüchen hinwirken, die sich innerhalb der Begutachtung eines Sachverständigen wie auch zwischen den Äußerungen mehrerer Sachverständiger ergeben (BGH, Urteil vom 4. März 1997 - VI ZR 354/95 - NJW 1997, 1638 unter II 1 b). Dies gilt insbesondere bei der Beurteilung besonders schwieriger wissenschaftlicher Fragen (vgl. dazu schon BGH, Urteil vom 12. Januar 1962 - V ZR 179/60 -NJW 1962, 676 unter 1). Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter zudem besondere Sorgfalt gefordert. Er darf in diesem Fall - wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger - den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt (Senatsurteile vom 24. September 2008 - IV ZR 250/06 - veröff. bei [...] Tz. 11 und vom 22. September 2004 - IV ZR 200/03 - VersR 2005, 676 unter II 2 b, jeweils m.w.N.).

2.

Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.

a)

Der Neurologe und Psychiater Prof. Dr. H. , dessen Gutachten vom 10. Dezember 2001 der Kläger vorgelegt hat, war von der Baden-Württembergischen Versorgungsanstalt für Ärzte im Rahmen der Prüfung der dortigen Rentenansprüche des Klägers beauftragt worden. Er hatte den Diplom-Psychologen Z. für ein neuropsychologisches Zusatzgutachten hinzugezogen. Unter Berücksichtigung dieses Zusatzgutachtens, das auch auf den Resultaten diverser Leistungstests beruht, denen der Kläger unterzogen worden war, kommt der Gutachter Prof. Dr. H. zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers seit mehreren Jahren wegen rezidivierender Infektionen, chronischer Halsschmerzen, Gelenkschmerzen sowie rascher körperlicher und geistiger Ermüdbarkeit erheblich reduziert sei. Dies gelte insbesondere, so der Diplom-Psychologe Z. in seinem Zusatzgutachten, für die Fähigkeit des Klägers, komplexe intellektuelle Aufgaben zu bewältigen. Zusammenfassend kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers bestehe seit 1996 und werde auch in Zukunft andauern; ein Ende dieses Zustandes sei derzeit nicht absehbar. Tätigkeiten von wirtschaftlichem Wert, mit denen er seine Existenz sichern könnte, seien dem Kläger aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr möglich. Auch die Ausübung anderer, nicht auf ärztlichem Gebiet liegender Tätigkeiten komme nicht in Betracht.

b)

Der vom Landgericht beauftragte neurologische Sachverständige Prof. Dr. We. ist demgegenüber zwar zu der Ansicht gelangt, der Kläger sei aus neurologischer und arbeitsmedizinischer Sicht in der Lage, eine Tätigkeit als Arzt auszuüben. Jedoch habe der Kläger, so der Sachverständige, glaubhaft geschildert, aufgrund eines komplexeren Beschwerdebildes zu einer solchen beruflichen Tätigkeit nicht in der Lage zu sein. Die von ihm geschilderte Symptomatik lasse sich am ehesten mit dem Krankheitsbild einer Depression vereinbaren. Deshalb werde zur abschließenden Beurteilung des Falles die Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens empfohlen.

3.

Vor diesem Hintergrund begegnet die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts in zweifacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a)

Es fehlt eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem vom Kläger vorgelegten neurologischpsychiatrischen Gutachten von Prof. Dr. H. , das dieser für die Baden-Württembergische Versorgungsanstalt für Ärzte erstattet hat. Dieses widerspricht dem Ergebnis des Gutachtens des gerichtlich bestellten psychiatrischen Sachverständigen Dr. W. in wesentlichen Punkten, insbesondere in der Einschätzung der Auswirkungen der Erkrankung auf die Fähigkeit, den Beruf des Arztes auszuüben. Damit hat das Berufungsgericht das ihm eingeräumte Ermessen bei Erhebung des Sachverständigenbeweises fehlerhaft ausgeübt und den Grundsatz freier tatrichterlicher Beweiswürdigung (§§ 412, 286 ZPO) verletzt. Der bloße Hinweis darauf, bei Vorlage von Privatgutachten mit entgegen gesetzten Ergebnissen lägen Widersprüche auch zu einem gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachten in der Natur der Sache, vermag die hier gebotene einleuchtende und logisch nachvollziehbare inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H. ebenso wenig zu ersetzen wie die Erwägung, entscheidend komme es darauf an, dass das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen in sich widerspruchsfrei sei. Von diesem Ansatzpunkt aus hat sich das Berufungsgericht den Blick dafür verstellt, dass die abweichende Beurteilung der Berufsfähigkeit des Klägers in dem von diesem vorgelegten Gutachten Anlass hätte sein müssen, sich mit den widersprüchlichen Bewertungen in dem Privatgutachten einerseits und in dem gerichtlich eingeholten Gutachten andererseits auseinanderzusetzen. Dazu bestand, wie die Revision mit Recht anmerkt, umso mehr Anlass, als die von dem Gutachter Prof. Dr. H. gezogenen Schlussfolgerungen aus einer dreitägigen stationären Beobachtung des Klägers erwachsen waren.

b)

Auch die Ansicht des Berufungsgerichts, es bestehe kein Anlass zu der auch von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. We. angeregten erneuten psychiatrischen Begutachtung des Klägers, weil diese Anregung nicht begründet worden sei und im Übrigen ein Widerspruch zu dem Gutachten des Dr. W. nicht festgestellt werden könne, erweist sich im Gesamtzusammenhang der Ausführungen von Prof. Dr. We. als kaum nachvollziehbar. Damit wird insbesondere die abschließende Bewertung, zu der dieser Sachverständige in seinem Gutachten kommt, unzulässig verkürzt. Prof. Dr. We. hat den Kläger zwar aus neurologischer und arbeitsmedizinischer Sicht dazu in der Lage gesehen, den Beruf des Arztes weiter auszuüben. Er ist jedoch auch davon ausgegangen, dass die vom Kläger geschilderten erheblichen Beschwerden glaubhaft seien und auf eine psychiatrische, also erkennbar nicht in sein Fachgebiet fallende depressive Erkrankung hindeuteten. Die Notwendigkeit der erneuten Begutachtung durch einen Mediziner der entsprechenden Fachrichtung lag aus Sicht des Sachverständigen, der zu den Auswirkungen einer solchen psychischen Erkrankung auf die Berufsfähigkeit des Klägers als Neurologe nicht Stellung nehmen wollte und konnte, auf der Hand. Die vor diesem Hintergrund abgegebene Empfehlung zur Durchführung einer psychiatrischen Neubegutachtung ist daher entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts gerade nicht unverständlich, sondern erhält durch die Tatsache, dass dem Sachverständigen Prof. Dr. We. das psychiatrische Gutachten des am selben Klinikum tätigen Gutachters Dr. W. bekannt war, besonderes Gewicht. Es kommt hinzu, dass die Annahme einer reaktiven Depression im Unterschied zu der von dem Gutachter Dr. W. angenommenen Persönlichkeitsstörung auch in weiteren, in diesem Rechtsstreit vorgelegten Gutachten, etwa denen der Psychologen S. und K. , zu finden ist. Auch zu diesem Umstand verhält sich das Berufungsurteil nicht.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung, gegebenenfalls unter weiterer sachverständiger Beratung. Wegen des für die Beurteilung von Berufsunfähigkeit maßgebenden Zeitpunktes verweist der Senat auf sein Urteil vom 7. Februar 2007 - IV ZR 232/03 -VersR 2007, 631 unter Tz. 11.

Ende der Entscheidung

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