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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 03.11.1998
Aktenzeichen: VI ZR 253/97
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823 Aa, C, I
ZPO § 282 (Beweislast)
BGB § 823 Aa, C, I; ZPO § 282 (Beweislast)

Zur Beweiserleichterung bei unterlassener Befunderhebung (hier: unterlassene computertomographische Untersuchung bei Subarachnoidalblutung).

BGH, Urteil vom 3. November 1998 - VI ZR 253/97 - OLG Hamm LG Dortmund


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 253/97

Verkündet am: 3. November 1998

Holmes Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 3. November 1998 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Bischoff, Dr. von Gerlach und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 9. Juni 1997 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger wurde, als er nach einem Sturz auf das Gesäß unter starken Kopfschmerzen litt und teilweise blutuntermischt erbrochen hatte, am 3. März 1992 von seinem Hausarzt in das Krankenhaus der Erstbeklagten eingewiesen. In dem Aufnahmebefund findet sich u.a. die Notiz "HWS-Distorsion, Verdacht auf Mallory-Weiss-Syndrom, Ulcus duodeni". Dem Kläger wurde Bettruhe verordnet; zur Ruhigstellung der Halswirbelsäule erhielt er eine Schanz'sche Krawatte. Eine am 4. März 1992 durchgeführte Magenspiegelung ergab den Nachweis von Geschwüren im Bereich der Speiseröhre und des Zwölffingerdarms. Wegen anhaltender, vom Nacken in den Kopf ausstrahlender Schmerzen wurde am 7. März 1992 eine neurologische Konsiliaruntersuchung erbeten, die die Zweitbeklagte, die seit 14 Monaten als Fachärztin der Neurologie und Psychiatrie bei der Erstbeklagten beschäftigt war, am 9. März 1992 vornahm. Die Zweitbeklagte gelangte zu dem Ergebnis, daß als Ursache der Schmerzen des Klägers am ehesten ein Stauchungstrauma der Wirbelsäule ohne neurologische Ausfälle in Betracht komme. Nachdem eine röntgenologische Untersuchung keinen Hinweis auf knöcherne Verletzungen des Schädels ergeben hatte, erfolgte durch die Zweitbeklagte am 12. März 1992 eine EEG-Untersuchung; eine computertomographische Untersuchung veranlaßte die Zweitbeklagte nicht. Eine gleichfalls am 12. März 1992 durchgeführte konsiliarische HNO-Untersuchung ergab eine akute otitis media links, die medikamentös behandelt wurde. Am 17. März 1992 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen.

Am 21. März 1992 wurde der Kläger nach einem generalisierten Krampfanfall bewußtlos in die Neurologische Klinik der Stadt D. eingeliefert. Dort wurde eine Subarachnoidalblutung (SAB) festgestellt. Nach Verlegung des Klägers in die Neurochirurgische Klinik der Stadt D. wurde noch am 21. März 1992 eine Ventrikeldrainage gelegt und am 3. April 1992 ein 28 mm messendes Aneurysma operativ beseitigt. Es entwickelte sich ein Hydrocephalus malresorptivus, der am 4. Mai 1992 operativ versorgt wurde.

Der Kläger leidet an einem hirnorganischen Psychosyndrom mit schwergradiger Orientierungsstörung; bis Mitte 1992 war er teilweise gelähmt und gehbehindert. Er behauptet, bereits am 2. März 1992 eine SAB erlitten zu haben und wirft der Zweitbeklagten vor, gebotene Befunderhebungen - insbesondere eine Computertomographie - versäumt zu haben; bei einer frühzeitigeren Operation wären seine jetzigen Schäden mit hoher Wahrscheinlichkeit weitgehend vermieden worden und er wäre bereits am 1. September 1992 wieder arbeitsfähig gewesen. Er begehrt mit der vorliegenden Klage die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und zum Ersatz seines Verdienstausfalls für die Zeit vom 1. September 1992 bis 30. April 1994 in Höhe von 44.226,80 DM; ferner begehrt er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der weiteren materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden.

Das Landgericht hat den Schmerzensgeldantrag dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und der Klage im übrigen stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat nach einer ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme die Klage auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein bisheriges Prozeßbegehren weiter.

Entscheidungsgründe

I.

Nach Auffassung des - sachverständig beratenen - Berufungsgerichts sind die Klageansprüche nicht begründet. Zwar sei der Zweitbeklagten ein Behandlungsfehler anzulasten, weil sie es versäumt habe, eine computertomographische Untersuchung zu veranlassen. Die akut aufgetretenen, starken und lang anhaltenden Kopfschmerzen des Klägers hätten als Verdachtsmoment für eine SAB zwingend eine differentialdiagnostische Abklärung durch eine computertomographische Untersuchung geboten. Der Kläger habe jedoch nicht bewiesen, daß sich das Unterlassen dieser Untersuchung für ihn gesundheitsschädigend ausgewirkt habe. Zwar sei in den Fällen schuldhaft unterbliebener Befunderhebung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Patient so zu stellen, wie er stünde, wenn der Befund erhoben worden wäre. Es sei auch sicher, daß das Aneurysma bei einer computertomographischen Untersuchung entdeckt worden wäre. Da ferner zu unterstellen sei, daß sich der Kläger zu einer vor dem 20. März 1992 durchzuführenden Operation entschlossen hätte, sei zwar davon auszugehen, daß eine computertomographische Untersuchung die Blutungen am 20./21. März 1992 verhindert hätte. Es lasse sich jedoch nicht feststellen, daß bei einer früheren Operation und damit ohne die am 20./21. März 1992 aufgetretenen Blutungen die Gesundheitsschäden, auf die der Kläger seine Schadensersatzansprüche stützt, sicher vermieden worden wären. Wegen des schon vorhandenen Aneurysmas und der operationsbedingt erforderlichen vorübergehenden Abklemmung der linken arteria cerebri anterior habe die Gefahr bestanden, daß die Gesundheitsschäden, unter denen der Kläger leide, auch bei einer frühzeitigeren Operation aufgetreten wären. Die verbleibenden Unsicherheiten gingen zu Lasten des Klägers, der für die Ursächlichkeit der Versäumnisse der Zweitbeklagten für seine gesundheitlichen Schäden beweisbelastet sei. Eine Beweiserleichterung könne der Kläger insoweit nicht in Anspruch nehmen. Zwar komme dem Patienten für den Beweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Versagen des Arztes und seinem Gesundheitsschaden eine Beweiserleichterung zu Hilfe, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen sei. Das der Zweitbeklagten anzulastende Versäumnis könne jedoch nicht als grob bewertet werden; ihr Verhalten erscheine nicht völlig unverständlich, da nicht alle typischen Leitsymptome einer SAB vorgelegen hätten und wegen des Sturzes des Klägers und der festgestellten Krankheitsbilder auch andere Ursachen in Betracht gekommen seien.

II.

Diese Erwägungen des Berufungsgerichts vermögen die Klageabweisung nicht zu tragen.

1. Allerdings wendet sich die Revision ohne Erfolg dagegen, daß das Berufungsgericht auf dem Boden des festgestellten Behandlungsgeschehens einen zur Umkehrung der Beweislast in der Kausalitätsfrage führenden groben Behandlungsfehler verneint hat.

a) Das Berufungsgericht hat seine Erwägungen auf die Frage beschränkt, ob in dem von der Zweitbeklagten zu verantwortenden Versäumnis einer computertomographischen Untersuchung ein grober Behandlungsfehler zu erblicken ist. Demgegenüber macht die Revision geltend, aus dem Privatgutachten von Prof. S. und dem für das Gericht erstatteten Gutachten von Prof. M. folge, daß den Ärzten der Erstbeklagten schon bei der Aufnahme des Klägers und kurz danach grobe Fehler unterlaufen seien.

Diese Rüge bleibt ohne Erfolg.

Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers setzt die Feststellung voraus, daß der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 1998 - VI ZR 242/96 - BGHZ 138, 1 = VersR 1998, 457, 458 m.w.N.).

Weder dem Vorbringen in der Revisionsbegründung noch den dort in Bezug genommenen Stellungnahmen der medizinischen Sachverständigen läßt sich entnehmen, daß den Ärzten der Erstbeklagten bei der Aufnahme des Klägers oder danach ein solcher Fehler unterlaufen ist. Ihnen wird ohne Wertungen, die eine Einstufung des Verschuldensgrades zulassen, lediglich vorgeworfen, die Erforschung weiterer Ursachen versäumt zu haben.

b) Auch soweit die Revision geltend macht, dem Berufungsgericht sei bei der Beurteilung des Versäumnisses der Zweitbeklagten ein Wertungsfehler unterlaufen, bleibt sie ohne Erfolg.

Das Berufungsgericht hat sich bei der Einstufung des Versäumnisses der Zweitbeklagten an den Stellungnahmen des gerichtlichen Sachverständigen orientiert. Dagegen ist nichts einzuwenden. Zwar geht es bei der Frage, ob das Versäumnis einer computertomographischen Untersuchung als grober Behandlungsfehler einzustufen ist, um eine juristische Wertung. Der Senat hat indes stets darauf hingewiesen, daß sich der Tatrichter hierbei auf tatsächliche Anhaltspunkte stützen können muß, die sich in der Regel aus der medizinischen Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen ergeben (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 1998 - aaO m.w.N.). Das Berufungsgericht hat der Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen und dem Krankheitsbild, das die Zweitbeklagte vorgefunden hat, rechtsfehlerfrei entnommen, daß das Verhalten der Zweitbeklagten aus objektiver Sicht nicht völlig unverständlich ist. Der Sachverständige hatte in seiner mündlichen Anhörung (u.a.) ausgeführt, daß die CT-Untersuchung zwingend geboten, das Unterlassen einer solchen Untersuchung aber weder unverzeihlich noch schlechterdings nicht nachvollziehbar, sondern knapp unter dieser Schwelle einzuordnen sei. Diese fachliche Stellungnahme stand der Bewertung des Versäumnisses der Zweitbeklagten als grob entgegen.

Daran ändert auch nichts, daß der Sachverständige - worauf die Revision mit Nachdruck hinweist - gleichzeitig ausgeführt hat, daß das Übersehen einer SAB zu den "Kardinalfehlern" gehöre. Mit dieser Äußerung wollte der Sachverständige - wie er in einem späteren Zusammenhang verdeutlicht hat - ausdrücken, daß das Augenmerk auch auf kleine Symptome zu richten und ihnen nachzugehen ist. Wenn der Sachverständige dann weiter ausführt, es sei durchaus nachvollziehbar, daß hier kein CT gemacht worden sei, so bedeutet dies, daß für die Einstufung des Versäumnisses der Zweitbeklagten als grob das fachliche Fundament gefehlt hat.

2. Das Berufungsurteil ist aber deshalb aufzuheben, weil die bisherigen Feststellungen eine abschließende Beurteilung der Beweislastverteilung in der Kausalitätsfrage nicht zulassen.

Nach der neueren Rechtsprechung des Senats ist diese Frage entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht schon dann stets negativ zu beantworten, wenn das Versäumnis einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung nicht als grober, sondern nur als einfacher ärztlicher Fehler zu qualifizieren ist. Zwar gilt der Grundsatz, daß ein Verstoß gegen die Pflicht zur Erhebung und Sicherung medizinischer Befunde und zur ordnungsgemäßen Aufbewahrung der Befundträger im Wege der Beweiserleichterung für den Patienten einen Schluß auf ein reaktionspflichtiges positives Befundergebnis erlaubt, wenn ein solches Ergebnis hinreichend wahrscheinlich ist, regelmäßig jedoch nicht auch auf eine Ursächlichkeit der unterlassenen Befundauswertung für einen vom Patienten erlittenen Gesundheitsschaden. Der Patient soll durch diese Beweiserleichterung nämlich nur so gestellt werden, wie er stünde, wenn der Befund - wie geboten - erhoben bzw. ordnungsgemäß gesichert worden wäre; auf den Nachweis, wie auf den Befund reagiert worden wäre, erstreckt sich die Beweiserleichterung grundsätzlich nicht. Das ist aber dann anders, wenn eine Fehlreaktion des Arztes auf den Befund als grober Behandlungsfehler einzustufen wäre. Hier gilt der weitere Grundsatz, daß auch in der Kausalitätsfrage eine Beweiserleichterung einsetzt, wenn sich - ggf. unter Würdigung zusätzlicher medizinischer Anhaltspunkte - bei Durchführung der versäumten Untersuchung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, daß sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen müßte (vgl. BGHZ 132, 47, 52; Senatsurteile vom 13. Januar 1998 aaO.; vom 27. Januar 1998 - VI ZR 339/96 - VersR 1998, 585, 586 und vom 6. Oktober 1998 - VI ZR 239/97 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Danach kann dem Kläger durchaus auch für die Kausalitätsfrage eine Beweiserleichterung zugute kommen. Das Berufungsgericht hat unterstellt, daß durch eine computertomographische Untersuchung - wäre sie durchgeführt worden - das Aneurysma entdeckt worden wäre. Davon ist zugunsten des Klägers auch in der Revisionsinstanz auszugehen. Wäre dieser Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit so deutlich und gravierend gewesen, daß es sich als grob fehlerhaft darstellen müßte, nicht darauf zu reagieren, dann wäre es Sache der Beklagten, die fehlende Ursächlichkeit der unterlassenen Befunderhebung für den eingetretenen Schaden zu beweisen. Hierzu bedarf es weiterer Feststellungen, die das Berufungsgericht auf der Grundlage einer sachverständigen Beratung zu treffen hat.

Ende der Entscheidung

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