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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 17.11.1998
Aktenzeichen: VI ZR 32/97
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 852
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 32/97

Verkündet am: 17. November

Holmes Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

BGB § 852

Zur Frage, in welchem Zeitpunkt Kenntnis des Geschädigten vom Ersatzpflichtigen vorliegt, wenn der deliktische Schadensersatzanspruch gemäß § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB gegen den Arbeitgeber des Schädigers gerichtet werden soll.

BGH, Urteil vom 17. November 1998 - VI ZR 32/97 - Kammergericht LG Berlin


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 1998 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Kammergerichts vom 29. November 1996 aufgehoben, soweit zum Nachteil der Klägerin erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die Klägerin verlangt Schadensersatz wegen Verletzungen, die sie in einem Gebäude der Beklagten erlitten hat. In dem inzwischen abgebrochenen Gebäude hatte das Land B. mehrere Etagen für den Betrieb eines Landesinstituts angemietet, bei dem die Klägerin beschäftigt ist. Zwei Geschosse waren an das Arbeitsamt vermietet, die übrigen Etagen nutzte die Beklagte selbst.

Am 29. Juni 1990 blieb der von der Klägerin benutzte Fahrstuhl zwischen dem ersten Obergeschoß und dem Erdgeschoß stehen. Die Klägerin alarmierte über die Notrufanlage Frau H. in der Rezeption der Beklagten. Hierauf öffnete deren Mitarbeiter E. mit einem Schlüssel für die Notentriegelung die Fahrstuhltür im Erdgeschoß und nahm der Klägerin ihr Gepäck ab. Beim Verlassen des Fahrkorbs stürzte die Klägerin in den durch die Fahrkorbschürze nicht abgedeckten Schacht etwa sieben Meter tief ab.

Sie nimmt die Beklagte mit der Behauptung, infolge der erlittenen Verletzungen erwerbsunfähig zu sein, auf Ersatz ihrer unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch und verlangt Zahlung von 630.000 DM, hilfsweise eine monatliche Rente, sowie Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige Schäden vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger. Die Klägerin behauptet, E. habe sie mit dem Hinweis, daß er nichts anderes machen könne, aufgefordert, sich bäuchlings auf den Boden des Fahrkorbs zu legen und diesen mit den Füßen voran durch die etwa 0,5 m hohe Öffnung zwischen Fahrkorb und Schacht zu verlassen. Dies sei fehlerhaft gewesen, weil die Anweisung über den Betrieb von Aufzugsanlagen vorschreibe, bei Ausfall des Antriebs den Fahrkorb von Hand zur nächsten Haltestelle zu bewegen; sei dies nicht möglich, müsse der Ausstieg grundsätzlich nach oben und dürfe wegen des erhöhten Absturzrisikos nur ausnahmsweise und unter besonderen Sicherungsvorkehrungen nach unten erfolgen. Obwohl sie E. darauf hingewiesen habe, daß sie den Fahrkorb ohne seine Hilfe nicht verlassen könne, habe er ihr überdies bei dem von ihm sachwidrig verlangten rückwärtigen Verlassen des Fahrkorbs nicht geholfen, so daß sie in den Schacht gestürzt sei.

Sie hat mit dem Vorbringen, E. sei Bediensteter des Landes B. gewesen, mit am 13. Juli 1993 zugestelltem Schriftsatz zunächst Klage gegen dieses Land erhoben und auf dessen Hinweis in der Klageerwiderung vom 26. Oktober 1993, E. sei stets Bediensteter der Beklagten gewesen, mit am 22. März 1994 zugestelltem Schriftsatz die Klage gegen die Beklagte gerichtet. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels den Anspruch auf Ersatz des materiellen Schadens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und insoweit auch dem Feststellungsantrag stattgegeben. Von den beiderseits gegen dieses Urteil eingelegten Revisionen ist nur die Revision der Klägerin angenommen worden, mit der sie Ersatz auch ihres immateriellen Schadens erstrebt.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht bejaht einen vertraglichen Anspruch der Klägerin, weil die Beklagte für das Fehlverhalten ihrer Mitarbeiterin H. gemäß § 278 BGB einzustehen habe, hält jedoch deliktische Ansprüche für verjährt. Dem liege die Überzeugung zugrunde, daß der seit 1982 in dem betreffenden Landesinstitut beschäftigten Klägerin, jedenfalls aber ihrem Prozeßbevollmächtigten die Eigentumsverhältnisse an dem in B. allgemein als "LVA-Gebäude" bekannten Grundstück schon im Unfallzeitpunkt bekannt gewesen seien und daß die Klägerin als Angehörige einer Dienststelle mit einem überschaubaren kleinen Mitarbeiterkreis gewußt habe, daß E. nicht Mitarbeiter ihres eigenen Arbeitgebers B. gewesen sei. Folglich habe sie schon damals Kenntnis von der Person des Ersatzpflichtigen gehabt, so daß deliktische Ansprüche im Zeitpunkt der Klageerweiterung auf die Beklagte bereits verjährt gewesen seien. Deshalb komme es nicht darauf an, ob ihr Prozeßbevollmächtigter den am 25. Juli 1990 übersandten polizeilichen Tätigkeitsbericht, aus dem sich die Zugehörigkeit von E. zur LVA ergeben solle, erhalten habe und daß ihr Vorbringen, sie habe erst durch die Klageerwiderung des Landes B. von den Eigentumsverhältnissen an dem Grundstück erfahren, durch die Seiten 3 und 9 ihrer Klageschrift widerlegt werde.

II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Mit Erfolg bekämpft die Revision die Auffassung des Berufungsgerichts, deliktische Ansprüche der Klägerin seien verjährt.

a) Nach dem Wortlaut des § 852 Abs. 1 BGB setzt der Beginn der Verjährungsfrist die positive Kenntnis des Geschädigten von dem Schaden einschließlich des Schadenshergangs und des Schädigers voraus (Senatsurteil BGHZ 133, 192, 198). Das Berufungsgericht verkennt dies im Grundsatz auch nicht, sondern nimmt unter Hinweis auf seine gemäß § 286 Abs. 1 ZPO gewonnene tatrichterliche Überzeugung an, daß die erforderliche Kenntnis der Klägerin bzw. ihres Prozeßbevollmächtigten schon im Unfallzeitpunkt vorgelegen habe. Das hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Zwar ist der Tatrichter im Rahmen der genannten Vorschrift grundsätzlich in seiner Überzeugungsbildung frei. Revisionsrechtlich ist seine Würdigung jedoch darauf zu überprüfen, ob er alle Umstände vollständig berücksichtigt und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat. Um dem Revisionsgericht diese Überprüfung zu ermöglichen, muß der Tatrichter die für seine Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO wesentlichen Gesichtspunkte nachvollziehbar darlegen (Senatsurteil vom 22. Januar 1991 - VI ZR 97/90 - NJW 1991, 1894, 1895). Diesen Anforderungen entspricht das Berufungsurteil nicht, wie die Revision mit Recht geltend macht.

aa) Da die Klägerin ihre Ersatzansprüche wegen des von ihr behaupteten Fehlverhaltens des E. ersichtlich gegen dessen Arbeitgeber richten wollte, kommt es darauf an, wann sie Kenntnis davon erlangt hat, wer als Arbeitgeber des E. ersatzpflichtig ist (§§ 831 Abs. 1 Satz 1, 852 Abs. 1 BGB). Hiervon geht auch das Berufungsgericht aus. Soweit es jedoch seine Überzeugung, die erforderliche Kenntnis der Klägerin habe schon im Unfallzeitpunkt vorgelegen, darauf stützen will, das Gebäude sei in B. allgemein als LVA-Gebäude bekannt gewesen, trägt dieser Umstand nicht die Folgerung, daß der Klägerin oder ihrem Prozeßbevollmächtigten auch die Eigentumsverhältnisse an diesem Gebäude bekannt gewesen seien, zumal die Bezeichnung "LVA-Gebäude" schon im Hinblick auf die Nutzung des Gebäudes durch verschiedene Behörden bzw. Institute keinen zwingenden Rückschluß darauf ermöglicht, wem die Wartung der Aufzüge oblag und wer Arbeitgeber des E. war.

Der erkennende Senat vermag auch nicht die Auffassung des Berufungsgerichts zu teilen, das Vorbringen der Klägerin, sie habe erst durch die Klageerwiderung von den Eigentumsverhältnissen an dem Grundstück und davon erfahren, daß B. die vom Landesinstitut genutzten Räume lediglich gemietet hatte, werde durch die Seiten 3 und 9 ihrer Klageschrift widerlegt. Insoweit ist auf Seite 3 der Klageschrift lediglich vom "Gebäude der LVA" die Rede, was jedoch - wie bereits dargelegt - jedenfalls keinen zwingenden Schluß auf die Eigentumsverhältnisse zuläßt. Noch weniger legt der Vortrag Seite 9 der Klageschrift, die Fahrstuhlanlage stehe allen Besuchern der dort untergebrachten LVA sowie der anderen Mieter des Hauses zur Verfügung, die Annahme nahe, die Klägerin habe gewußt, daß das Gebäude im Eigentum der LVA stehe. Vielmehr wird die Beklagte durch diese Formulierung in den Kreis der Mieter einbezogen. Dies entspricht auch der von der Revision hervorgehobenen Darstellung der Klägerin in den Vorinstanzen, sie habe geglaubt, daß die LVA das Gebäude vom Land B. gemietet habe. Im übrigen ergeben sich aus den Eigentumsverhältnissen keine zwingenden Schlüsse auf die Verkehrssicherungspflicht.

bb) Soweit das Berufungsgericht eine Kenntnis der Klägerin vom Ersatzpflichtigen schon für den Unfallzeitpunkt daraus herleiten will, sie habe gewußt, daß E. nicht Mitarbeiter ihres Arbeitgebers B. gewesen sei, hält dies ebenfalls revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Selbst wenn die Klägerin wußte, daß E. nicht Mitarbeiter des Landesinstituts war, bei dem sie selbst beschäftigt war, folgt hieraus noch nicht die vom Berufungsgericht angenommene positive Kenntnis, daß die Beklagte Arbeitgeber des E. war, zumal das Gebäude auch von einer weiteren Behörde, nämlich dem Arbeitsamt, genutzt wurde. Die Revision weist insoweit auch darauf hin, daß der Klägerin die rechtlichen Unterschiede zwischen einer landeseigenen Behörde und der LVA als Anstalt des öffentlichen Rechts unbekannt gewesen seien und daß E. auch dann, wenn er nicht zum gleichen Landesinstitut wie sie selbst gehörte, ohne weiteres auch bei einer anderen, im gleichen Gebäude untergebrachten landeseigenen Behörde hätte beschäftigt sein können. Bei dieser Sachlage ist nicht nachvollziehbar, worauf die Überzeugung des Berufungsgerichts von einer positiven Kenntnis der Klägerin betreffend den Arbeitgeber des E. beruht.

b) Die Ausführungen des Berufungsgerichts zu der Frage, ob dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin der polizeiliche Tätigkeitsbericht zugegangen sei, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Selbst wenn der Zugang des polizeilichen Tätigkeitsnachweises vom 29. Juni 1990, den das Berufungsgericht als naheliegend ansieht, unterstellt wird, könnte hieraus keine positive Kenntnis der Klägerin bzw. ihres Prozeßbevollmächtigten hinsichtlich der Person des Ersatzpflichtigen hergeleitet werden. Auch wenn es in diesem Bericht heißt, daß es sich um ein Gebäude der LVA gehandelt habe, und neben anderen Personen auch E. (in falscher Schreibweise) mit dem Zusatz "alle LVA" erwähnt wird, stand hiernach der Ersatzpflichtige im Sinn des § 852 Abs. 1 BGB nicht mit einer zur Klageerhebung ausreichenden Sicherheit fest. Insoweit kann auch der von der Revision hervorgehobene Umstand nicht außer Betracht bleiben, daß das Land B. es vorprozessual nicht nur an der Klarstellung hat fehlen lassen, daß E. nicht bei ihm, sondern bei der Beklagten angestellt war, sondern noch mit Schreiben vom 7. September 1992 die Klägerin zur Einreichung ihrer bezifferten Schadensersatzforderung aufgefordert hat.

c) Bei dieser Sachlage fehlt es auch an den Voraussetzungen, unter denen nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats ausnahmsweise das Nichtwissen der positiven Kenntnis gleichgestellt werden kann. Eine solche Gleichstellung kommt, wie der erkennende Senat zuletzt in der in BGHZ 133, 192, 198 ff. abgedruckten Entscheidung dargelegt hat, in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 162 BGB nur dann in Betracht, wenn der Geschädigte die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt, also nur in Fällen, in denen der Geschädigte bzw. dessen gesetzlicher Vertreter es versäumt, eine gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen, und letztlich die Berufung auf die Unkenntnis als Förmelei erscheint, weil jeder andere in der Lage des Geschädigten unter denselben konkreten Umständen die Kenntnis gehabt hätte (vgl. auch Senatsurteil vom 20. September 1994 - VI ZR 336/93 - NJW 1994, 3092, 3093 m.w.N.). So liegt der Fall jedoch nicht. Angesichts des oben dargelegten vorprozessualen Verhaltens des Landes B. konnte nämlich auch der polizeiliche Tätigkeitsbericht nicht mehr als Zweifel daran ergeben, ob E. tatsächlich im Dienst dieses Landes stand. Selbst wenn auf Klägerseite in diesem Tätigkeitsbericht der Zusatz "alle LVA" übersehen worden oder nicht auf E. bezogen worden sein sollte, könnte dies allenfalls den Vorwurf einer fahrlässigen Unkenntnis begründen, die unter den Umständen des Streitfalls nicht der grundsätzlich vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gleichgestellt werden kann (vgl. Senatsurteil BGHZ 133, 192, 198).

Mithin kann die Abweisung der deliktischen Ansprüche wegen Verjährung keinen Bestand haben.

2. Die angefochtene Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 563 ZPO).

Dies wäre nur dann der Fall, wenn erkennbar die tatsächlichen Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten nach § 831 BGB nicht vorlägen. Indessen kommt eine solche Haftung der Beklagten für ein Fehlverhalten des E. nach dem Vortrag der Klägerin in Betracht und kann auch nach den bisher vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen zur Haftung der Beklagten für das Verhalten von Frau H. nicht ausgeschlossen werden.

III.

Da das Berufungsgericht - von seinem den Eintritt der Verjährung bejahenden Standpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft hat, ob E. bei dem schadensursächlichen Vorfall in Ausführung einer ihm von der Beklagten zugewiesenen Verrichtung tätig geworden ist (§ 831 Abs. 1 Satz 1 BGB), war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit die für eine Prüfung der deliktischen Haftung der Beklagten noch erforderlichen Feststellungen getroffen werden. Dabei wird das Berufungsgericht gegebenenfalls auch zu prüfen haben, ob eine deliktische Haftung der Beklagten auch für Frau H. in Betracht kommt.



Ende der Entscheidung

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